Ausländer

8. Juli 2015 Von Alleinerzieher

Mein Sohn, elf Jahre, hatte auf dem Weg zum Schwimm­trai­ning im Bad am Hafen behaup­tet, die Charles-de-Gaulle sei in Tou­lon. Würde er gerne mal in echt und aus der Nähe sehen. Die Charles-de-Gaulle ist der fran­zö­si­sche Flug­zeug­trä­ger. Die Rolex der fran­zö­si­schen Streit­kräfte, viel­leicht der Stolz der Grande Nation über­haupt. Daß sie gerade ange­kom­men wäre, hätte ihm eine Schwimm­ka­me­ra­din erzählt. Weil man sie, die Charles-de-Gaulle, von da, wo wir gerade waren, direkt am Was­ser, nicht weit vom Fähr­ha­fen, nicht sehen konnte, war ich mir sicher, seine Schwimm­ka­me­ra­din würde sich irren. Das wäre ein so rie­si­ges Schiff, sagte ich, das müßte man von hier aus sehen. Man konnte andere rie­sige graue Schiffe sehen, die Siroco zum Bei­spiel, ein Lan­dungs­schiff, nicht aber die Charles-de-Gaulle. Wenn man sie nicht sähe, behaup­tete ich, wäre sie wohl nicht da. Ande­rer­seits ist sie oft in Tou­lon. Immer wie­der muß die­ses Schiff über viele Monate gewar­tet wer­den, immer wie­der ist irgend­was kaputt. Auf ihrer Jung­fern­fahrt schon ver­lor sie einen ihrer Pro­pel­ler im Atlan­tik. Wie pein­lich. Wie eine Rolex mit abge­fal­le­nem Minu­ten­zei­ger.

Ein paar Tage spä­ter war ich mor­gens mit dem Fahr­rad am Faron. Ein­mal rüber über den Berg. Macht kei­nen Spaß. Sport­li­che Akti­vi­tät eben. Der Anstieg son­nen­ex­po­niert, die Abfahrt zwar im Schat­ten unter Pinien, aber mit sehr vie­len Kur­ven. Und vie­len klei­nen Stein­chen auf der Straße. Das beste am Faron ist neben der Aus­sicht die Dusche danach. Auf hal­ber Höhe, auf einer die­ser lan­gen Stei­gungs­stre­cken vor der nächs­ten Haar­na­del­kurve, eine Drei­er­gruppe auf Moun­tain­bikes. Ich holte lang­sam auf. Pas­siert mir nicht oft, daß ich andere Rad­fah­rer über­hole. Zwei Män­ner, leicht über­ge­wich­tig, eine Frau. Auch leicht über­ge­wich­tig. Die Frau vor­wie­gend in Signal-Orange. Die Her­ren in einer Kom­bi­na­tion aus Grau­tö­nen mit Schwarz. Aus­län­di­sche Tou­ris­ten. Fran­zo­sen kön­nen nur in grell­bun­ter Alberto-Con­ta­dor-Ver­klei­dung rad­fah­ren. Außer­dem San­da­len­trä­ger. Rad­fah­rer in San­da­len! Kein Wun­der, daß ich auf­holte. Kann man in San­da­len woan­ders als an Nord- oder Ost­see rad­fah­ren? San­da­len mit Socken zudem! Hol­län­der? Deut­sche? Und dann kann ich sie hören. Ja, Deut­sche. Vom Dia­lekt her Schwa­ben. Schwa­ben in Bir­ken­stocks und Socken. Deut­sche der Vor­zeige-Kate­go­rie. Die Dame muß ein Foto machen von der schöns­ten Rade Euro­pas. Natür­lich.

Guck' amol, d'Scharldegoll isch au do.

Mein Sohn hatte doch recht! Die Charles-de-Gaulle war in Tou­lon. Viel klei­ner als ich dachte. Und das nicht nur wegen der Per­spek­tive von hier oben. Macht sich auch gegen­über den Käh­nen von Cor­sica Fer­ries nicht wirk­lich rie­sig aus. Ein biß­chen grö­ßer, aber nicht beein­dru­ckend groß. Kein Wun­der, daß man sie nicht sehen kann vom Fähr­ha­fen aus.

Zwei Kur­ven spä­ter die Berg­sta­tion der Seil­bahn. Tou­lon gönnt sich den Luxus einer Seil­bahn! Von einem Pri­vat­mann in den 50er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts gebaut (Ein­wei­hung 1959), schafft diese Seil­bahn mit zwei Kabi­nen im Pen­del­ver­kehr maxi­mal 150 Per­so­nen pro Stunde. Von unge­fähr März bis unge­fähr Mitte Novem­ber zwi­schen 10 und 19 Uhr. Abge­se­hen von meh­re­ren tech­ni­schen Revi­sio­nen im Juni, Juli und Sep­tem­ber über jeweils zwei oder mehr Tage. Abge­se­hen auch von den Tagen mit Mis­tral. Zuviel Wind hält der Télé­phé­ri­que auch nicht aus. Die Tal­sta­tion liegt im Nor­den der Stadt, deut­lich außer­halb des Zen­trums, mit einem win­zi­gen Park­platz. Dem nicht-auto­mo­bi­len Tou­ris­ten bleibt der Bus. Linie 40. Net­tes Extra, diese Seil­bahn, aber viel­leicht nicht zeit­ge­mäß. So wie der Flug­zeug­trä­ger.

An der Berg­sta­tion, unweit des Welt­kriegs-Memo­ri­als, war­tet eine Frau. Eher schlank, in vor­wie­gend Signal-Orange. Das glei­che Kos­tüm wie die Dame mit Foto­ap­pa­rat vor­hin. Aber mit Renn­rad und Sport­schu­hen. Und ohne Socken. Hat ganz offen­sicht­lich ihre Rei­se­gruppe ver­lo­ren. Sie sieht so aus, als wollte sie mich anquat­schen. Passt mir nicht so. Mein Com­pu­ter zeigt eine Puls­fre­quenz von 154 an. Ab 140 rede ich nicht mehr so gerne.

Hello, excuse me, please!

Muß ich jetzt anhal­ten zum Plau­dern? Als Fran­zose dürfte ich ein­fach wei­ter­fah­ren. Als Fran­zose kann man aus Prin­zip – wenn über­haupt – nur miß­mu­tig auf aus­län­di­sche Pho­ne­tik reagie­ren. Ich kann einen Satz sagen:

Bon­jour! Vos amis né vont pas tar­der. Ils étai­ent en train de prendre quel­ques pho­tos.

Oh! Merci beau­coup! Bonne con­ti­nua­tion, bonne jour­née!

Und das akzent­frei. Warum nur, fragte ich mich, spricht sie mich nicht gleich auf Fran­zö­sisch an? Ein Kilo­me­ter wei­ter, auf Höhe des Zoos, die Erkennt­nis: es muß der Helm sein. In mei­nem Fall der feh­lende Helm. Zu glaub­haf­ter Tour-de-France-Ver­klei­dung gehört der Helm. Ohne Helm ist ein bei­nahe so zuver­läs­si­ges Aus­län­der-Merk­mal wie Bir­ken­stocks in der Öffent­lich­keit.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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