Harissa

3:06 Uhr die sage-femme. Petite primi demandeuse d’une péridurale. Bis dahin Vollmondnacht. Erst zu lange im Internet. ZEIT vorwiegend und SPIEGEL. Ich lese sogar Beiträge wie “Frauen sind auch nur Männer”. 57 Prozent der Männer gehen fremd. Zum Fremdgehen gehören meist auch Frauen. Logisch eigentlich. Nur 47 Prozent geben es aber zu. Viel mehr aber würden mit dem Gedanken an einen Seitensprung spielen. Fast alle eigentlich. So wie Männer eben. Erziehung und soziale Konventionen würden sie eher abhalten. Die Frauen eher abhalten als die Männer. Schreibt der SPIEGEL. Am Ende finde ich mich bei den Autonachrichten bei Spiegel. Häßlicher Protz-BMW mit fast sechshundert PS. Wenn ich bei den Autonachrichten von SPIEGEL ONLINE angekommen bin, weiß ich, daß ich reif bin fürs Bett. Auch wenn es erst neun Uhr abends ist.

Kurz noch über Maternité. Meine Péridurale von kurz vor sieben Uhr abends bei acht Zentimetern. Drei weibliche Hebammen, Céline, Cécile und noch eine, deren Name mir nicht einfällt. Irgendwas wie Harissa. Ist aber nicht Harissa. Die Frau hat ohnehin überhaupt nicht nichts Scharfes. Aber ich komme nicht auf den Namen. Bleibe an Harissa hängen. Maghrebinischer Hintergrund jedenfalls. Cécile hat ihre Lippen knallrot gefärbt. Ist das gerade modern? Und sagt, sie müßte immer rülpsen. Und zwar auf Berührung am rechten Handgelenk. Aha. Streicht sich über das rechte Handgelenk und rülpst ein Rülpserchen. Sehr interessant. Und gleich noch eins. Ist die Frau eines Gynäkologen, der bis vor einem Jahr bei uns war. Sie hat lange nicht gearbeitet wegen Fibromyalgie. Sagte der Gatte damals. Bestätigt meine Vorurteile gegen Leute mit Fibromyalgie. Das ist eine Notdiagnose für Leute mit Knall. Drei Frauen also, es könnte schlimmer gekommen sein. Kein Philippe, kein Jérôme. Auch nicht Marie oder Séverine.

Ab ins Bett. Noch was lesen. Ich habe “Kapuzinergruft” von Joseph Roth angefangen. Gibt es für null Euro auf den kindle. Die Fortsetzung zu “Radetzkymarsch”. Schöne Sprache, Anfang letztes Jahrhundert. Österreich unter Franz Josef. Der Großvater rettet dem Kaiser das Leben, wird dafür geadelt. Der Vater angesehener Bezirkshauptmeister, der Sohn versagt beim Militär, obwohl der Großvater dem Kaiser das Leben gerettet hat, fällt in den frühen Tagen des ersten Weltkriegs. Frauen spielen nur gelegentlich eine Rolle. Schwache Gesundheit, sterben früh.

Glas Rotwein, Licht aus um halb elf. Das Glas Rotwein soll gegen den Vollmond im Kopf helfen. Vollmond war vorgestern. Manchmal fühlen sich Nächte wie Vollmondnächte an. Im Dienst sowieso. Auch ohne wirklichen Vollmond.

Halb eins Vollmond. Wach irgendwie, aber vermutlich sogar für ein Sudoku zu blöde im Kopf. Geschweige denn Joseph Roth. Wie Harissa wirklich heißt, fällt mir immer noch nicht ein. Wach irgendwie, keines wirklichen Gedankens fähig. Somnolenz im Dunkeln. Mein Zweitgeborener hatte gestern seinen neunzehnten Geburtstag. Hatte keine Wünsche. Außer vielleicht ein paar Hosen. Für seine Mutter ist ein Geburtstag ohne Geschenke kein richtiger Geburtstag. Ein paar Hosen also. Ein schöner Kugelschreiber. Und ein Wecker. Super-Sonic oder so. Weil er noch immer nicht alleine aus dem Bett kommt. Na ja, einmal von zwanzig vielleicht. Jetzt hat er eine Maschine, mit der er das ganze Haus wach kriegt. Und die Nachbarschaft dazu vermutlich. Er hat sich selbst einen Stapel Mathebücher von Amazon geschenkt. Übungen. Weil er so schlecht ist in Mathe. 6,7 im ersten Semester. Und sich nicht helfen lassen will. Zu stolz, zu cool. Ich kann ihm nicht helfen. Mathe war ich noch nie gut. Schon gar nicht auf diesem Niveau. Und er will meine Ratschläge zu punktgenauer Nachhilfe nicht. Logisch. Hätte ich Ratschläge von meinem Vater gewollt? Ich hätte meinem Vater nicht einmal zugehört. Vermutlich hört mir mein Sohn auch nicht zu. Ich sehe ihn untergehen in seiner Prépa und kann ihm nicht helfen. Vollmond.

Bis 3:06 Uhr. Nacima! Harissa ist Nacima. Petite primi demandeuse d’une péridurale. Die petite primi ist taub. Der Mann dazu auch. Deswegen hat Nacima die CTG-Maschine ganz laut gestellt. Die Primi und ihr Mann hören aber trotzdem nichts. Können von den Lippen lesen. Weiß ich. Ich habe die ganze Familie in den Consultations gesehen. Mutter, Tochter, Schwiegersohn. Alle taub. Dafür hat Nacima kein EKG angeschlossen und keinen Blutdruck. Fällt mir aber auch erst nach der Testdosis auf. Vollmond im Kopf.

Danach will Cécile eine petite péridurale für ihre Primi in Salle une. Die Lippen sind inzwischen nicht mehr so rot. Ich bin versucht, sie zu provozieren wegen ihrer blöden Bäuerchen vorhin. Welche Art viszeraler Reflexe denn taktile Reize ihres linken Handgelenks auslösen würden, zum Beispiel. Aber Cécile interessiert mich dann doch viel zu wenig. Petite péri und zurück ins Bett.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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