Gazelle

Liebe Schwägerin!

Bei Midlife-Crisis helfen kostspielige Reisen in den Mittleren Orient oder den Fernen Osten. Manchmal reicht auch schon eine kleine Golf-Eskapade nach Afrika. Alternativ, für die Zeit zwischen den kostspieligen Reisen und 18-Loch-Ausflügen auf intensiv bewässertem Grün vielleicht ein teures Auto. Was Tiefergelegtes mit Heckspoiler und Breitreifen. Kann man zwischen zwei, drei Ausfahrten hochbeschleunigen einschließlich Reifengeräusch und Auspuffgrollen bis zum Abregeln und so Dominanz trotz grauer Strähnen demonstrieren. Sogar gegenüber diesen protzigen X5-Proleten. Die schaffen sicher auch 250. Müssen auch wegen überbordender Kraft abgeregelt werden. Kommen aber nicht so schnell auf 250. Zu Dir würde vermutlich eher was dezentes Britisches aus dieser PS-Klasse passen.

Wenn das alles – Fernreisen, Golf, PS – nicht weiter bringt, hilft vielleicht ein Töpferkurs oder sonstwas Neues, Fachfremdes. Töpfern ist manuell, physisch, sinnlich geradezu. Meditativ. Wurschteln im Dreck bis zu den Ellenbogen. Und wenn man nicht aufpasst, fliegt einem die Vase in Brocken um die Ohren. Hat man die Dynamik der Fliehkraft aber erst einmal unter Kontrolle, beschert das signifikante Erfolgserlebnisse. Das ist es ja, was einem so fehlt in der Midlife-Crisis, neuartige Erfolgserlebnisse. Dazu, als Nebeneffekt, über Jahre kein Kopfzerbrechen mehr, was Geburtstage und Weihnachten betrifft. Und später vielleicht mal ein Stand auf dem Weihnachtsmarkt.

Als Ergänzung was Sportliches. Laufen über mittlere und große Distanzen zum Beispiel. Wie wäre es mit einem Halbmarathon? Oder gleich dem Berlin-Marathon im September? New York im November? Eine echte Herausforderung, ein richtiges Ziel! Die Wochen davor ausgetüfteltes Laufprogramm, Tage davor nur noch Nudeln wegen der Ballaststoffarmut im Verdauungssystem und zum Auffüllen der Glykogenspeicher. Außerdem keinen Tropfen Alkohol. Man kann sich abendfüllend Videos zur entsprechenden Strecke bei Youtube ansehen und sich Landmarks einprägen. Damit ist man schon Monate vor dem Lauf so ausgefüllt, daß man seine Midlife-Crisis völlig aus den Augen verliert. Stattdessen ein echtes Ziel: Das leuchtfarbene Done-it-T-Shirt der Finisher. Dazu dann ein kaltes Bier.

Ich kenne mich aus. Meine Frau war kürzlich in Paris dafür. Zauberhaft sei der Marathon von Paris, sagt sie, magique. Ja, ehrlich, sie sagt magique. Sie meint vielleicht das Sightseeing mit sportlicher Grenzerfahrung. In Paris! Paris, wie man Paris noch nicht erlebt hat! Man läuft an allem vorbei, was wichtig ist in Paris. Es geht los auf den Champs-Élysées, am Louvre vorbei, Hôtel de Ville, Place de la Bastille. Ein bißchen langweilig vielleicht bis zum Château des Vincennes. Noch nie gesehen zuvor, liegt eben schon etwas außerhalb. Beeindruckende Anlage aber. Der Park zum Château ist auch nicht wirklich spannend. Park eben. Immer wieder Musikgruppen. Das Publikum – Allez-allez-allez! – etwas spärlicher. Hundehalter, eher zufällig dabei. Zurück wieder über die Place de la Bastille, zur Linken wenig später Notre-Dame. Dann das Seine-Ufer. In den Tunneln Disko-Atmosphäre. Möglicherweise ist das magique, irgendwie. Wenige Kilometer vor dem Bois de Boulogne ein kurzer Blick auf den Eiffelturm. Auch links. Bois de Boulogne seinerseits wieder eher langweilig, wieder nur grün, Live-Musik, zufällige Hundehalter, etwas mehr absichtliches Publikum – Allez-allez-allez! Die Zielgerade in Sichtweite des Arc de Triomphe.

Ich war der Sherpa, zuständig für die individuelle Betreuung. Ich hatte einen zwanzig-Kilogramm-Rucksack dabei, war gerüstet für alle Eventualitäten. Regenschutz, Bademantel, Wechselwäsche, Winterjacke. Zwei Paar Straßenschuhe für den Weg zum Bahnhof. Je nach Endzustand der Füße. Alle Eventualitäten. Schmerzmittel, Energiekonzentrate. Wasser mit und ohne grünem Energie-Zusatz in einer Menge, die auch für vier Läufer gereicht hätte. Sherpa eben. Wir hatten anhand des Streckenverlaufs, 2014-Youtube-Videos und Streetview zwei Treffpunkte vereinbart. Kilometer 19 und 31.

Kilometer 19 war mit der Metro leicht zu erreichen. Einmal umsteigen nur. Ich wartete direkt an der 12-Meilen-Marke gegenüber eines Judoclubs. Rechts in Laufrichtung. Alles war genauso wie bei Youtube und Streetview. Viel mehr Publikum allerdings. Das hatten die anderen Fans auch herausgefunden: einmal umsteigen nur. Allez-allez-allez! Die Läufer sind mit ihren Vornamen beschriftet. Man kann sie direkt ansprechen. Allez, Jean-Claude, allez, Giselle! Hat motivierende Wirkung, sagt meine Frau, mit dem Vornamen angesprochen zu werden. Manche Läufer lassen sich die ausgestreckten Hände abklatschen. Habe ich auch ein paar Mal gemacht. Ist aber ziemlich naß. Und klebrig. Schweiß mit Energieriegelresten. Bestenfalls. Eher eklig.

Kilometer 31 war schwieriger zu erreichen. Die Direkt-Tram ab Kilometer 19 außer Dienst wegen des Marathons. Damit hätte ich rechnen können. Stattdessen drei Mal umsteigen mit der Metro. Die Metro natürlich berstend voll. Und dann noch über den Fluß laufen mit dem schwerem Rucksack. Punktgenau am Treffpunkt vor dem großen Baum links Ecke rue Mirabeau und rue Wilhem. Kaum Publikum.

Ab Kilometer 30 hatten wir Angst vor der “mur“, der Mauer. Auch der “Mann mit dem Hammer” genannt oder das “Tal der Qualen”. Das ist dann, wenn die Glykogenspeicher alle aufgebraucht sind und die Fettspeicher auch nicht schnell genug Energie bereitzustellen in der Lage sind. Dann geht gar nichts mehr. Das muß so sein wie Tank leer. Und Schmerzen dazu. Wegen der ganzen Milchsäure in den Muskeln. Oder der Krämpfe. Nichts geht mehr. Nur Stehenbleiben, Abwarten. Was trinken, Energieriegel. Zuspruch vom Publikum. Allez-allez-allez! Dazu vielleicht ganz langsam gehen. Kann man sich aber eigentlich nicht erlauben, ganz langsam, weil man ja noch gut zehn Kilometer vor sich hat. Physischer und psychologischer Nulldurchgang. Blieb bei meiner Frau aus. Da ist sie wohl deutlich unter ihren Möglichkeiten geblieben. Kam immerhin aufrecht durchs Ziel. Unter fünf Stunden. Vier Stunden 54 Minuten. 04:54:13.

Nicht zu vergleichen gegen die zwei Stunden, fünf Minuten des Siegers. 2:05:48. Mark Korir. Über seine 42,195 Kilometer läuft der so schnell wie ich mit dem Fahrrad gefahren wäre. Fast so schnell. Macht das eben mal mit seinen prallen Glykogenspeichern. Vielleicht noch ein paar Pappbecher Wasser unterwegs. Aber wohl auch nur, weil sein Coach ihm das immer wieder sagt. Bevor der eine Ahnung von Durstgefühl entwickelt, steht der schon wieder unter der Dusche. Mark stammt aus Kenia. Schwarzafrika macht die ersten zehn Plätze vorwiegend unter sich aus. Liegt vermutlich an den Genen. Ein paar Zentimeter Genmaterial von der Gazelle oder dem Geparden im DNA-Strang vielleicht.

Das Bier am Ende hätten wir uns zwar verdient, die Läuferin und ihr Sherpa, gab es aber nicht. Zu sportlich das Umfeld vor dem Arc de Triomphe. Kein Alkohol. Und dann mußten wir uns beeilen, den TGV nach Hause zu kriegen. Zuviel Schlange vor dem Dosenbier-Verkauf im Bahnhof.

Nächstes Jahr laufen wir wieder. 3. April 2016. Ich würde Dir, liebe Schwägerin, eine Halb-Liter-Flasche abgeben können von meinem grünen Zaubertrank an Meile 12 und Kilometer 31.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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