Gazelle

26. April 2015 Von Alleinerzieher

Liebe Schwä­ge­rin!

Bei Mid­life-Cri­sis hel­fen kost­spie­lige Rei­sen in den Mitt­le­ren Ori­ent oder den Fer­nen Osten. Manch­mal reicht auch schon eine kleine Golf-Eska­pade nach Afrika. Alter­na­tiv, für die Zeit zwi­schen den kost­spie­li­gen Rei­sen und 18-Loch-Aus­flü­gen auf inten­siv bewäs­ser­tem Grün viel­leicht ein teu­res Auto. Was Tie­fer­ge­leg­tes mit Heck­spoi­ler und Breit­rei­fen. Kann man zwi­schen zwei, drei Aus­fahr­ten hoch­be­schleu­ni­gen ein­schließ­lich Rei­fen­ge­räusch und Aus­puff­g­rol­len bis zum Abre­geln und so Domi­nanz trotz grauer Sträh­nen demons­trie­ren. Sogar gegen­über die­sen prot­zi­gen X5-Pro­le­ten. Die schaf­fen sicher auch 250. Müs­sen auch wegen über­bor­den­der Kraft abge­re­gelt wer­den. Kom­men aber nicht so schnell auf 250. Zu Dir würde ver­mut­lich eher was dezen­tes Bri­ti­sches aus die­ser PS-Klasse pas­sen.

Wenn das alles – Fern­rei­sen, Golf, PS – nicht wei­ter bringt, hilft viel­leicht ein Töp­fer­kurs oder sonst­was Neues, Fach­frem­des. Töp­fern ist manu­ell, phy­sisch, sinn­lich gera­dezu. Medi­ta­tiv. Wursch­teln im Dreck bis zu den Ellen­bo­gen. Und wenn man nicht auf­passt, fliegt einem die Vase in Bro­cken um die Ohren. Hat man die Dyna­mik der Flieh­kraft aber erst ein­mal unter Kon­trolle, beschert das signi­fi­kante Erfolgs­er­leb­nisse. Das ist es ja, was einem so fehlt in der Mid­life-Cri­sis, neu­ar­tige Erfolgs­er­leb­nisse. Dazu, als Neben­ef­fekt, über Jahre kein Kopf­zer­bre­chen mehr, was Geburts­tage und Weih­nach­ten betrifft. Und spä­ter viel­leicht mal ein Stand auf dem Weih­nachts­markt.

Als Ergän­zung was Sport­li­ches. Lau­fen über mitt­lere und große Distan­zen zum Bei­spiel. Wie wäre es mit einem Halb­ma­ra­thon? Oder gleich dem Ber­lin-Mara­thon im Sep­tem­ber? New York im Novem­ber? Eine echte Her­aus­for­de­rung, ein rich­ti­ges Ziel! Die Wochen davor aus­ge­tüf­tel­tes Lauf­pro­gramm, Tage davor nur noch Nudeln wegen der Bal­last­stoff­ar­mut im Ver­dau­ungs­sys­tem und zum Auf­fül­len der Gly­ko­gen­spei­cher. Außer­dem kei­nen Trop­fen Alko­hol. Man kann sich abend­fül­lend Videos zur ent­spre­chen­den Stre­cke bei You­tube anse­hen und sich Land­marks ein­prä­gen. Damit ist man schon Monate vor dem Lauf so aus­ge­füllt, daß man seine Mid­life-Cri­sis völ­lig aus den Augen ver­liert. Statt­des­sen ein ech­tes Ziel: Das leucht­far­bene Done-it-T-Shirt der Finis­her. Dazu dann ein kal­tes Bier.

Ich kenne mich aus. Meine Frau war kürzlich in Paris dafür. Zau­ber­haft sei der Mara­thon von Paris, sagt sie, magi­que. Ja, ehr­lich, sie sagt magi­que. Sie meint viel­leicht das Sight­see­ing mit sport­li­cher Grenz­erfah­rung. In Paris! Paris, wie man Paris noch nicht erlebt hat! Man läuft an allem vor­bei, was wich­tig ist in Paris. Es geht los auf den Champs-Ély­sées, am Lou­vre vor­bei, Hôtel de Ville, Place de la Bas­tille. Ein biß­chen lang­wei­lig viel­leicht bis zum Châ­teau des Vin­cen­nes. Noch nie gese­hen zuvor, liegt eben schon etwas außer­halb. Beein­dru­ckende Anlage aber. Der Park zum Châ­teau ist auch nicht wirk­lich span­nend. Park eben. Immer wie­der Musik­grup­pen. Das Publi­kum – Allez-allez-allez! – etwas spär­li­cher. Hun­de­hal­ter, eher zufäl­lig dabei. Zurück wie­der über die Place de la Bas­tille, zur Lin­ken wenig spä­ter Notre-Dame. Dann das Seine-Ufer. In den Tun­neln Disko-Atmo­sphäre. Mög­li­cher­weise ist das magi­que, irgend­wie. Wenige Kilo­me­ter vor dem Bois de Bou­lo­gne ein kur­zer Blick auf den Eif­fel­turm. Auch links. Bois de Bou­lo­gne sei­ner­seits wie­der eher lang­wei­lig, wie­der nur grün, Live-Musik, zufäl­lige Hun­de­hal­ter, etwas mehr absicht­li­ches Publi­kum – Allez-allez-allez! Die Ziel­ge­rade in Sicht­weite des Arc de Triom­phe.

Ich war der Sherpa, zustän­dig für die indi­vi­du­elle Betreu­ung. Ich hatte einen zwan­zig-Kilo­gramm-Ruck­sack dabei, war gerüs­tet für alle Even­tua­li­tä­ten. Regen­schutz, Bade­man­tel, Wech­sel­wä­sche, Win­ter­ja­cke. Zwei Paar Stra­ßen­schuhe für den Weg zum Bahn­hof. Je nach End­zu­stand der Füße. Alle Even­tua­li­tä­ten. Schmerz­mit­tel, Ener­gie­kon­zen­trate. Was­ser mit und ohne grü­nem Ener­gie-Zusatz in einer Menge, die auch für vier Läu­fer gereicht hätte. Sherpa eben. Wir hat­ten anhand des Stre­cken­ver­laufs, 2014-You­tube-Videos und Street­view zwei Treff­punkte ver­ein­bart. Kilo­me­ter 19 und 31.

Kilo­me­ter 19 war mit der Metro leicht zu errei­chen. Ein­mal umstei­gen nur. Ich war­tete direkt an der 12-Mei­len-Marke gegen­über eines Judo­clubs. Rechts in Lauf­rich­tung. Alles war genauso wie bei You­tube und Street­view. Viel mehr Publi­kum aller­dings. Das hat­ten die ande­ren Fans auch her­aus­ge­fun­den: ein­mal umstei­gen nur. Allez-allez-allez! Die Läu­fer sind mit ihren Vor­na­men beschrif­tet. Man kann sie direkt anspre­chen. Allez, Jean-Claude, allez, Giselle! Hat moti­vie­rende Wir­kung, sagt meine Frau, mit dem Vor­na­men ange­spro­chen zu wer­den. Man­che Läu­fer las­sen sich die aus­ge­streck­ten Hände abklat­schen. Habe ich auch ein paar Mal gemacht. Ist aber ziem­lich naß. Und kleb­rig. Schweiß mit Ener­gie­rie­gel­res­ten. Besten­falls. Eher eklig.

Kilo­me­ter 31 war schwie­ri­ger zu errei­chen. Die Direkt-Tram ab Kilo­me­ter 19 außer Dienst wegen des Mara­thons. Damit hätte ich rech­nen kön­nen. Statt­des­sen drei Mal umstei­gen mit der Metro. Die Metro natür­lich bers­tend voll. Und dann noch über den Fluß lau­fen mit dem schwe­rem Ruck­sack. Punkt­ge­nau am Treff­punkt vor dem gro­ßen Baum links Ecke rue Mira­beau und rue Wil­hem. Kaum Publi­kum.

Ab Kilo­me­ter 30 hat­ten wir Angst vor der "mur", der "Mauer". Auch der "Mann mit dem Ham­mer" genannt oder das "Tal der Qua­len". Das ist dann, wenn die Gly­ko­gen­spei­cher alle auf­ge­braucht sind und die Fett­spei­cher auch nicht schnell genug Ener­gie bereit­zu­stel­len in der Lage sind. Dann geht gar nichts mehr. Das muß so sein wie Tank leer. Und Schmer­zen dazu. Wegen der gan­zen Milch­säure in den Mus­keln. Oder der Krämpfe. Nichts geht mehr. Nur Ste­hen­blei­ben, Abwar­ten. Was trin­ken, Ener­gie­rie­gel. Zuspruch vom Publi­kum. Allez-allez-allez! Dazu viel­leicht ganz lang­sam gehen. Kann man sich aber eigent­lich nicht erlau­ben, ganz lang­sam, weil man ja noch gut zehn Kilo­me­ter vor sich hat. Phy­si­scher und psy­cho­lo­gi­scher Null­durch­gang. Blieb bei mei­ner Frau aus. Da ist sie wohl deut­lich unter ihren Mög­lich­kei­ten geblie­ben. Kam immer­hin auf­recht durchs Ziel. Unter fünf Stun­den. Vier Stun­den 54 Minu­ten. 04:54:13.

Nicht zu ver­glei­chen gegen die zwei Stun­den, fünf Minu­ten des Sie­gers. 2:05:48. Mark Korir. Über seine 42,195 Kilo­me­ter läuft der so schnell wie ich mit dem Fahr­rad gefah­ren wäre. Fast so schnell. Macht das eben mal mit sei­nen pral­len Gly­ko­gen­spei­chern. Viel­leicht noch ein paar Papp­be­cher Was­ser unter­wegs. Aber wohl auch nur, weil sein Coach ihm das immer wie­der sagt. Bevor der eine Ahnung von Durst­ge­fühl ent­wi­ckelt, steht der schon wie­der unter der Dusche. Mark stammt aus Kenia. Schwarz­afrika macht die ers­ten zehn Plätze vor­wie­gend unter sich aus. Liegt ver­mut­lich an den Genen. Ein paar Zen­ti­me­ter Gen­ma­te­rial von der Gazelle oder dem Geparden im DNA-Strang viel­leicht.

Das Bier am Ende hät­ten wir uns zwar ver­dient, die Läu­fe­rin und ihr Sherpa, gab es aber nicht. Zu sport­lich das Umfeld vor dem Arc de Triom­phe. Kein Alko­hol. Und dann muß­ten wir uns beei­len, den TGV nach Hause zu krie­gen. Zuviel Schlange vor dem Dosen­bier-Ver­kauf im Bahn­hof.

Nächs­tes Jahr lau­fen wir wie­der. 3. April 2016. Ich würde Dir, liebe Schwä­ge­rin, eine Halb-Liter-Fla­sche abge­ben kön­nen von mei­nem grü­nen Zau­ber­trank an Meile 12 und Kilo­me­ter 31.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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