Funkloch

Ich komme aus dem Dienst und fühle mich etwas angegriffen. Und das, obwohl mich keiner gestört hat. Weder Chirurgen noch Hebammen, weder Notaufnahme noch Intensivstation oder wer da sonst einen Grund finden könnte, mich um 01:54 Uhr oder 03:37 Uhr anzurufen. Nein, ich fühle mich angegriffen, weil mein Bett unter mir zusammengebrochen ist! Zweimal. Gefühlt Hebammen- oder Chirurgenzeit. 01:54 Uhr oder 03:37 Uhr. Nein, so fett bin ich nicht! Ikea aus den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Oder, schlimmer noch, das französische Äquivalent zu Ikea aus den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Da darf so ein Lattenrost – Latte für Latte – schon mal nachgeben. Warum aber gerade heute Nacht? Schlecht geschlafen also. Die Kaffeemaschine im OP wird gerade entkalkt. Wie kann man auf die Idee kommen, eine Kaffeemaschine zur Frühstückszeit zum Entkalken außer Betrieb zu nehmen? Meine Ablösung auf der Intensivstation kommt eine gute Viertelstunde verspätet. Tut ihr immerhin leid, der Ablösung. Nach der Übergabe riecht es im OP nach Kaffee. Zu spät. Ich muß weg. Ich habe mir ein straffes Programm gemacht für heute.

Zuhause Chaos. Offenbar eiliger Aufbruch der Mitbewohner. Festbeleuchtung im ganzen Haus, ein Berg Schmutzwäsche vor der Waschmaschine. Frühstücksruinen auf dem Küchentisch, die Spülmaschine nicht ausgeräumt. Für den Renault aus unserem Fuhrpark – der mit inzwischen repariertem Turbo –  habe ich ein Date zur révision. Der Schlüssel ist weg. Unauffindbar. Das fehlte mir noch! Meine Familie nicht ansprechbar. Meine Frau geht gerne ohne Telefon in den OP. Die Handys meiner Söhne sind einfach aus. Wahrscheinlich sind die Batterien am Ende. Die Handys meiner Söhne müssen oft ohne Batterieladung auskommen. Oder ohne Funknetz. Ich finde den Schlüssel schließlich in der Schmutzwäsche. In einer Hosentasche. Nach über zwanzig Jahren Kinderaufzucht bin ich ein geübter Sucher! Manchmal finde ich auch was.

Der Chef bei Renault nimmt mein désolé mit einem Nicken zur Kenntis und kommentiert nur trocken c’est pas trop tôt. Genauere Erläuterungen zum Schlüssel in der Schmutzwäsche interessieren ihn vermutlich genauso wenig wie der berstende Lattenrost im Krankenhaus. Er wäre nicht sicher, ob der Wagen heute noch fertig würde. Egal.

Kurz nach zehn fällt mir auf, daß die Putzfee ja noch gar nicht im Haus ist. Die Putzfee kommt immer dienstags. Seit drei Wochen heißt sie Élodie. Piercing in der Unterlippe rechts. Letzte Woche hatte sie einen Arzttermin vor ihrem Einsatz bei uns. Die Woche davor gab es, glaube ich, ein Problem mit dem Hund. Ihr Einsatz bei uns ist eigentlich für vier Stunden zwischen halb neun und halb eins vorgesehen. Vielleicht kommt sie ja gar nicht heute. Käme mir sehr gelegen.

Kaum denke ich das, kaum denke ich mir, wie schön das wäre, wenn die Putzfee heute gar nicht käme, warum auch immer, Arzt, Hund, Auto meinetwegen, geht die Tür. Élodie. Heute ist ihr Rücken der Grund für die Verspätung. Le dos bloqué. Sieht auch wirklich angegriffen aus. Sie hatte eine Nacht wie in der Hölle. Hat kein Auge zugetan. Sagt sie. Wenn es so schlimm wäre, solle sie doch besser zuhause bleiben. Nein, nein, sagt sie, geht schon. Dann doch. Schade. Später kreischt sie oben irgendwo. Spinne? Skorpion? Maus? Eine Putzfee mit Arachnophobie? Nein, der Hamster war’s. Der Hamster meiner Tochter hatte Élodie angekrabbelt. Der Käfig war offen geblieben. Mal wieder. Ein Glück, das dies der Katze nicht aufgefallen war!

Ich werde versuchen, ein Zeitfenster für eine kleine Sieste zu finden. Am besten draußen. Außer Hörweite von Élodie. In der Sonne. Am besten gleich. Und das Telefon im Funkloch lassen.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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