Knaller

27. August 2015 Von Alleinerzieher

Als sich mein Zustand soweit sta­bi­li­siert hatte, daß ich an den Mit­tags­tisch zurück­keh­ren konnte, war im Gesicht mei­ner Frau eine Mischung aus Mit­leid, Spott und Besorg­nis abzu­le­sen. Besorg­nis aller­dings weni­ger um meine Vital­pro­gnose. Ich konnte ihre Sorge auf den Punkt brin­gen:

Die Lebens­mit­tel­all­er­gie ist eigent­lich eher was für Knal­ler. Ich weiß.

Wer will schon einen Knal­ler zuhause haben? Berech­tigte Sorge mei­ner Frau. Knal­ler, so Leute, die, ein­ge­la­den zum Dîner, noch in Hut und Man­tel Ein­zel­hei­ten ihrer All­er­gie auf Scha­len­tiere und Fisch erläu­tern und ihrer Hoff­nung Aus­druck ver­lei­hen, der Fisch­ge­ruch wäre doch bestimmt noch vom Mit­tag­essen in der Luft. Oder Mit­men­schen, die zu sorg­fäl­ti­ger Sek­tion ihres Kuchen­stücks mit der Gabel die äußerst bedenk­li­chen Reak­tio­nen ihres sen­si­blen Orga­nis­mus' auf unge­garte Stein­früchte schil­dern. Auch auf Spu­ren davon. Die Lebens­mit­tel­all­er­gie ist eigent­lich eher was für Knal­ler.

Dabei hat meine Frau durch­aus Erfah­rung mit exo­ti­schen Kri­sen am Mit­tags­tisch. Aus dem enge­ren Fami­li­en­kreis. Wobei mir – das möchte ich an die­ser Stelle aus­drück­lich beto­nen – nie in den Sinn käme, Mit­glie­der des enge­ren Fami­li­en­krei­ses als Knal­ler zu bezeich­nen.

Tante Baby zum Bei­spiel. Die zweite der drei Schwes­tern mei­nes Schwie­ger­va­ters. Die erste ist trotz einer Auto­im­mun­ge­schichte an der Leber gut über acht­zig gewor­den. So wie Tante Baby. Deut­lich über acht­zig. Beide hat­ten rei­hen­weise Krank­hei­ten. Tante Baby ihrer­seits vor allem am Her­zen. Die Medi­ka­mente dage­gen waren "ganz schwere Geschütze", sagte sie gerne. Mit so einer schwe­ren bal­ti­schen Ton­lage und rol­len­dem R – ganz schwäärre Geschütze. Immer wie­der "schockte" sie. Wobei es da nie genauere Erläu­te­run­gen gab zu die­sem "Scho­cken". Aku­tes Herz­ver­sa­gen, Herz­still­stand, Rhyth­mus­stö­run­gen, Elek­tro­schock viel­leicht? Trotz der schwe­ren Geschütze gab das Herz letzt­end­lich vor ein paar Jah­ren auf.

Mei­nen Kin­dern ist sie in blei­ben­der Erin­ne­rung durch meh­rere Besu­che bei uns. Min­des­tens zwei. Ein­mal zur Taufe mei­nes Erst­ge­bo­re­nen, schon wirk­lich lange her also, ein­mal min­des­tens nur ein­fach so. Weil es bei uns so schön ist. Wir haben immer wie­der Senio­ren bei uns, weil es so schön bei uns ist. Frü­her mehr als heut­zu­tage. Und das auch über län­gere Zeit­räume, damit es sich auch lohnte. Nur meine Eltern kom­men für höchs­tens 36 Stun­den. Meine Eltern wis­sen, daß län­ger anhal­ten­der Besuch Quelle für Unfrie­den sein kann. Auch wenn man sich als Besuch rich­tig Mühe gibt. Jeden Tag Baguette holen geht zum Bei­spiel und Crois­sants und Pains au cho­co­lat, die dann doch kei­ner ißt. Wird nega­tiv regis­triert. Und arti­ku­liert – da muß ich schon jeden Tag Brot holen gehen und dann wird es doch weg­ge­wor­fen. Das hält die Kriegs­ge­nera­tion nicht gut aus. Muß aber jeden Tag Brot holen gehen. Oder kluge Anre­gun­gen zu Ver­bes­se­run­gen im Haus­halt. Anre­gung und kon­se­quente Umset­zung.

Das ist jedoch nicht das, was sich mei­nen Kin­dern blei­bend ein­prägte. Tante Baby, eigent­lich Vera und frü­her ein­mal Tän­ze­rin, hatte auch ein Pro­blem an der Spei­se­röhre. Spei­se­röhre ist ein schö­nes Wort für Ex-Bal­ten: Gleich zwei R in dich­ter Folge – Rrööhrre. "Krampfte" gele­gent­lich, die Spei­se­röhre. Beim Essen. Atem­not mit gut­tu­ra­lem Röcheln und gepreß­tem Hus­ten, blut­un­ter­lau­fene, her­vor­tre­tende Augen, Trä­nen- und Spei­chel­fluß, hek­ti­sches Tup­fen mit der Ser­vi­ette. Das zu eher ehren­vol­lem Rah­men, bei Tisch mit Ker­zen­licht, dem guten Sil­ber­be­steck und Stoff­ser­vi­et­ten. Das macht ordent­lich Ein­druck. Blei­ben­den.

Ob das jetzt "Scho­cken" gewe­sen wäre, fragte ich, als es vor­bei war. Nein, nein, Scho­cken ist am Her­zen. Wie­der so ein bal­ti­sches Wort. Lange Sil­ben, Tsu­nami-R. Am Häärrr­zen. Aber das gerade eben war Kramp­fen. Tat ihr immer etwas leid. Weil die Kin­der so große Augen beka­men. Die gro­ßen Augen erin­ner­ten sie ande­rer­seits viel­leicht auch ein biß­chen an frü­her, als sie noch Tän­ze­rin war und Publi­kum hatte. Tat ihr viel­leicht sogar gut. Ich mei­ner­seits wußte genau, wo mein Laryn­go­skop liegt. Für den ernst­ge­mein­ten Not­fall. Ein übrig­ge­blie­be­nes Laryn­go­skop aus einem katho­li­schen Kran­ken­haus im nord­öst­li­chen Ruhr­ge­biet. Fri­sche Bat­te­rien direkt dane­ben. 7–1/2er-Tubus. Der viel­leicht schon abge­lau­fen. Aber egal. Ambu­beu­tel. Mag­ill-Zange. Drei Minu­ten höchs­tens bis zur Intu­ba­tion.

Tante Babys deut­lich jün­ge­rer Bru­der, mein Schwie­ger­va­ter, macht das auch. Er kann in sol­chen Fäl­len aber meist noch auf­ste­hen und sich in den Toi­let­ten ver­ste­cken, bis es vor­bei ist. Das dämpft die Geräusch­ku­lisse ten­den­zi­ell. Ich glaube nicht, daß es sich da um ein ech­tes orga­ni­sches Pro­blem han­delt. Die Kriegs­ge­nera­tion schlingt ein­fach zu hek­tisch. Unge­kaut. Oder wenig gekaut. Kriegs­ge­nera­tion eben. Große Bro­cken, die sich unge­kaut stauen und ver­ha­ken. In der "Gurrr­gel", sagte Tante Baby. Mein Schwie­ger­va­ter mußte sich neu­lich im Som­mer doch mal neben den Tisch legen. Auf den son­nen­war­men Stein der Ter­rasse. Hatte nicht mehr gereicht fürs dezente Aus­blen­den. Vagale Geschichte. Puls­fre­quenz um die drei­ßig pro Minute. Bro­cken in der Gur­gel. Infu­sion, Atro­pin, alles gut. Den Eltern müßte man schon mit schwe­re­rem Geschütz auf­war­ten, um sie nach­hal­tig zu beein­dru­cken. Im Beruf gehört sowas zum All­tag. Den Kin­dern reicht das schon.

Der Auf­tritt ihres Vaters im Rah­men sei­ner Pfir­sich­all­er­gie läßt sie also eher kalt. Eltern sind öfter mal etwas eigen­ar­tig. Sie wür­den mich zudem nicht als Knal­ler bezeich­nen. Alleine schon, weil der Begriff in ihrem akti­ven deut­schen Wort­schatz nicht vor­kommt. Eher viel­leicht den­ken sie "cht­arbé".

Cht­arbé [ʃtaʀbe], frz., durch­ge­knallt.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr