Knaller

Als sich mein Zustand soweit stabilisiert hatte, daß ich an den Mittagstisch zurückkehren konnte, war im Gesicht meiner Frau eine Mischung aus Mitleid, Spott und Besorgnis abzulesen. Besorgnis allerdings weniger um meine Vitalprognose. Ich konnte ihre Sorge auf den Punkt bringen:

Die Lebensmittelallergie ist eigentlich eher was für Knaller. Ich weiß.

Wer will schon einen Knaller zuhause haben? Berechtigte Sorge meiner Frau. Knaller, so Leute, die, eingeladen zum Dîner, noch in Hut und Mantel Einzelheiten ihrer Allergie auf Schalentiere und Fisch erläutern und ihrer Hoffnung Ausdruck verleihen, der Fischgeruch wäre doch bestimmt noch vom Mittagessen in der Luft. Oder Mitmenschen, die zu sorgfältiger Sektion ihres Kuchenstücks mit der Gabel die äußerst bedenklichen Reaktionen ihres sensiblen Organismus’ auf ungegarte Steinfrüchte schildern. Auch auf Spuren davon. Die Lebensmittelallergie ist eigentlich eher was für Knaller.

Dabei hat meine Frau durchaus Erfahrung mit exotischen Krisen am Mittagstisch. Aus dem engeren Familienkreis. Wobei mir – das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen – nie in den Sinn käme, Mitglieder des engeren Familienkreises als Knaller zu bezeichnen.

Tante Baby zum Beispiel. Die zweite der drei Schwestern meines Schwiegervaters. Die erste ist trotz einer Autoimmungeschichte an der Leber gut über achtzig geworden. So wie Tante Baby. Deutlich über achtzig. Beide hatten reihenweise Krankheiten. Tante Baby ihrerseits vor allem am Herzen. Die Medikamente dagegen waren “ganz schwere Geschütze”, sagte sie gerne. Mit so einer schweren baltischen Tonlage und rollendem R – ganz schwäärre Geschütze. Immer wieder “schockte” sie. Wobei es da nie genauere Erläuterungen gab zu diesem “Schocken”. Akutes Herzversagen, Herzstillstand, Rhythmusstörungen, Elektroschock vielleicht? Trotz der schweren Geschütze gab das Herz letztendlich vor ein paar Jahren auf.

Meinen Kindern ist sie in bleibender Erinnerung durch mehrere Besuche bei uns. Mindestens zwei. Einmal zur Taufe meines Erstgeborenen, schon wirklich lange her also, einmal mindestens nur einfach so. Weil es bei uns so schön ist. Wir haben immer wieder Senioren bei uns, weil es so schön bei uns ist. Früher mehr als heutzutage. Und das auch über längere Zeiträume, damit es sich auch lohnte. Nur meine Eltern kommen für höchstens 36 Stunden. Meine Eltern wissen, daß länger anhaltender Besuch Quelle für Unfrieden sein kann. Auch wenn man sich als Besuch richtig Mühe gibt. Jeden Tag Baguette holen geht zum Beispiel und Croissants und Pains au chocolat, die dann doch keiner ißt. Wird negativ registriert. Und artikuliert – da muß ich schon jeden Tag Brot holen gehen und dann wird es doch weggeworfen. Das hält die Kriegsgeneration nicht gut aus. Muß aber jeden Tag Brot holen gehen. Oder kluge Anregungen zu Verbesserungen im Haushalt. Anregung und konsequente Umsetzung.

Das ist jedoch nicht das, was sich meinen Kindern bleibend einprägte. Tante Baby, eigentlich Vera und früher einmal Tänzerin, hatte auch ein Problem an der Speiseröhre. Speiseröhre ist ein schönes Wort für Ex-Balten: Gleich zwei R in dichter Folge – Rrööhrre. “Krampfte” gelegentlich, die Speiseröhre. Beim Essen. Atemnot mit gutturalem Röcheln und gepreßtem Husten, blutunterlaufene, hervortretende Augen, Tränen- und Speichelfluß, hektisches Tupfen mit der Serviette. Das zu eher ehrenvollem Rahmen, bei Tisch mit Kerzenlicht, dem guten Silberbesteck und Stoffservietten. Das macht ordentlich Eindruck. Bleibenden.

Ob das jetzt “Schocken” gewesen wäre, fragte ich, als es vorbei war. Nein, nein, Schocken ist am Herzen. Wieder so ein baltisches Wort. Lange Silben, Tsunami-R. Am Häärrrzen. Aber das gerade eben war Krampfen. Tat ihr immer etwas leid. Weil die Kinder so große Augen bekamen. Die großen Augen erinnerten sie andererseits vielleicht auch ein bißchen an früher, als sie noch Tänzerin war und Publikum hatte. Tat ihr vielleicht sogar gut. Ich meinerseits wußte genau, wo mein Laryngoskop liegt. Für den ernstgemeinten Notfall. Ein übriggebliebenes Laryngoskop aus einem katholischen Krankenhaus im nordöstlichen Ruhrgebiet. Frische Batterien direkt daneben. 7-1/2er-Tubus. Der vielleicht schon abgelaufen. Aber egal. Ambubeutel. Magill-Zange. Drei Minuten höchstens bis zur Intubation.

Tante Babys deutlich jüngerer Bruder, mein Schwiegervater, macht das auch. Er kann in solchen Fällen aber meist noch aufstehen und sich in den Toiletten verstecken, bis es vorbei ist. Das dämpft die Geräuschkulisse tendenziell. Ich glaube nicht, daß es sich da um ein echtes organisches Problem handelt. Die Kriegsgeneration schlingt einfach zu hektisch. Ungekaut. Oder wenig gekaut. Kriegsgeneration eben. Große Brocken, die sich ungekaut stauen und verhaken. In der “Gurrrgel”, sagte Tante Baby. Mein Schwiegervater mußte sich neulich im Sommer doch mal neben den Tisch legen. Auf den sonnenwarmen Stein der Terrasse. Hatte nicht mehr gereicht fürs dezente Ausblenden. Vagale Geschichte. Pulsfrequenz um die dreißig pro Minute. Brocken in der Gurgel. Infusion, Atropin, alles gut. Den Eltern müßte man schon mit schwererem Geschütz aufwarten, um sie nachhaltig zu beeindrucken. Im Beruf gehört sowas zum Alltag. Den Kindern reicht das schon.

Der Auftritt ihres Vaters im Rahmen seiner Pfirsichallergie läßt sie also eher kalt. Eltern sind öfter mal etwas eigenartig. Sie würden mich zudem nicht als Knaller bezeichnen. Alleine schon, weil der Begriff in ihrem aktiven deutschen Wortschatz nicht vorkommt. Eher vielleicht denken sie “chtarbé”.

Chtarbé [ʃtaʀbe], frz., durchgeknallt.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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