Charlie Hebdo

Meine Eltern wünschen sich die nächste Ausgabe von Charlie Hebdo. Die erste nach dem Attentat. Soll in Millionenauflage an den Kiosk kommen. Sonst nur 60.000, von denen die Hälfte verkauft wird. Sind auch nur acht Seiten statt der sonst üblichen sechzehn.

Liebe Eltern!

In meinem Krankenhaus gibt es einen Kiosk. Da kann man sich eine Fernsteuerung leihen für die Glotze im Patientenzimmer, einen drahtlosen Internetzugang, der angeblich nur sehr schlecht funktioniert, Spielzeug, Bonbontüten, Zeitschriften, Zeitungen. Vom Charlie Hebdo würde sie am Mittwoch zwei Exemplare bekommen, sagt die Verkäuferin. Eine Reservierung wäre nicht möglich, sagt sie. Was sollten denn dann die denken, die kein Exemplar bekämen? Ergänzt sie. Ich glaube, sie sagt die Unwahrheit. Einerseits aus Unkenntnis, weil sie wahrscheinlich gar nicht sicher weiß, wieviele Exemplare sie von dieser Ausnahmenummer geliefert bekommen wird. Und somit sich hinsichtlich eventueller Reservierungen nicht festlegen will. Andererseits hat sie natürlich ein persönliches Umfeld, das ihr nähersteht als gerade ich. Reicht nicht, einer der docteurs zu sein. Richtig so. Was sollten denn dann die anderen denken? Die Putzfrauen, Hebammen, Schwestern? Eines der Exemplare hat sie vermutlich Monsieur le Directeur versprochen. Der könnte sie ja schließlich angesichts der wirtschaftlich prekären Situation des Hôpital auf die Straße setzen. Rein theoretisch, versteht sich. Der Kiosk ist andererseits vermutlich eine der wenigen wirtschaftlichen Einrichtungen des Hauses. Aber man weiß ja nie. Schließlich ist Monsieur le Directeur der Chef. Und wir sind in Frankreich. Da kann man nie wissen, wie weit es mit der Égalité her ist.

Außerdem arbeite ich am Mittwoch nicht. Und so wichtig ist mir dieses Heft dann auch wieder nicht. Nicht so wichtig, daß ich bis ins Krankenhaus fahren würde. Bis ins Krankenhaus auf gut Glück. An meinem freien Tag. Wenn sie mir ein Exemplar für halb neun versprochen hätte, würde ich die zehn Kilometer natürlich fahren. Von der Mauer in Berlin habe ich mir auch nichts geholt. Auch kein Gläschen Staub vom 11. September. Zehn, zwanzig Jahre später wäre der Brocken alter Beton ohnehin nur noch ein Brocken alter Beton und das Gläschen Staub ein Gläschen Staub. Das iPhone, welches man nach drei Tagen Campen vor einem Apple-Shop als einer der Ersten bekommen hat, ist eine Woche später auch nur noch ein Telefon. Irgendwer wird schon so einen Charlie organisieren. In einer Woche spätestens liegt das Heft irgendwo einfach so herum.

Bei Intermarché gibt es natürlich auch einen Kiosk. Keine Fernsteuerungen natürlich, aber Lottoscheine dafür und ein umfangreicheres Sortiment an Printmedien. Die Verkäuferin setzt mich auf eine Liste, “Tihl”. Kaum ein Franzose kann meinen Namen trotz wiederholten Buchstabierens richtig schreiben. Tihl ist schon ganz gut. Wenn das D ein D bleibt, wird es meist direkt vom H gefolgt. Oder das H nach dem L. Auch schön. Hat was Exotisches. Tihl also. Egal. Sechste Zeile auf der Liste. Na, dann hätte ich ja beste Chancen, ein Exemplar zu bekommen, sage ich. Sie können es ja versuchen am Mittwoch um halb neun, erwidert die Verkäuferin, immerhin hätte ich ja nun einen Platz auf der Liste. Zeile sechs. Von Seite zwei allerdings nur.

Persönlich hat mich Charlie Hebdo nie interessiert. Ich hätte von der Zeitschrift nicht einmal gewußt. Im Zusammenhang mit bissigen Karikaturen vom Propheten wäre ich nicht auf Charlie gekommen. Geschweige denn einen der Namen aus der Redaktion. Mit französischer Satire glaube ich ohnehin, nicht viel anfangen zu können. Schon der französische Alltagshumor ist mir eher fremd. Warum also das Heft? Eine Trophäe? Je suis Charlie! Und jetzt will ich auch eine Teilnahmebescheinigung?

Im Stadtzentrum gibt es auch einen Zeitschriftenhandel. Noch viel umfangreicher das Sortiment. Außerdem lokales Kunsthandwerk aus Olivenholz, Keramikzikaden aus China, Säckchen mit Lavendelblüten, Herbes de Provence in Zellophan. Postkarten. Ein knappes Dutzend Motive aus La Garde, Lavendelfelder in der Haute Provence und wilde Pferde in der Camargue. Was der Tourist halt so braucht. Die Verkäuferin eher kurz angebunden. Mein harter deutscher Akzent, der sonst gerne als charmant bezeichnet wird, wirkt hier nicht. Vermutlich sonst auch nicht die Wahrheit, das Kompliment zum charmanten Akzent. Weiß ich. Die Geschichte von meinen so frankophilen Eltern, die so gerne ein Exemplar des nächsten Charlie hätten, interessiert sie nicht. Reservierungsliste? Nö. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Wenn man wirklich wissen will, was drinsteht in den acht Seiten, denke ich, findet man vermutlich am Mittwoch, ab zehn Uhr morgens spätestens das ganze Heft als PDF. Im schlimmsten Fall bei Ebay. Es werden sich schon gewissensneutrale Abzocker finden, die ihr Exemplar für zehn Euro die Datei vervielfältigen. Oder, andere Möglichkeit, wenn man in der Nähe eines internationalen Flughafens lebt – wie Ihr zum Beispiel, liebe Eltern – und das Original ganz original haben muß, könnte man die Runde in den einschlägigen Etablissements des internationalen Flughafens machen. Charlie kommt vermutlich ab sechs Uhr morgens mit der ersten Maschine aus Paris. Oder am späten Dienstag Abend schon. Das nur so als Idee. Wenn man das Original haben muß. Ich würde nicht nach Marseille fahren. Ich persönlich wäre im Falle, jemand aus der Nähe eines internationalen Flughafens käme in Besitz eines Exemplars, mit einem persönlichen PDF-Scan zufrieden. Bei Ebay würde ich es schon nicht kaufen.

In einer Parallelstraße zur rue Frédéric Mistral ist ein kleines Centre commercial mit einem weiteren Kiosk. Außerdem eine Apotheke, Bäcker, Asia-Food. Der Kiosk etwas weniger reichhaltig als der im Zentrum. Das ganze Touristenzubehör fehlt. Mangels entsprechender Klientel wohl. Dafür eine ganze Wand Zigaretten. Der Inhaber stark übergewichtig, seine Frau etwas weniger. Sehr freundlich, sehr wortreich. Er mehr als sie. Er hat auch eine Liste. Ich könnte Platz acht haben. Auch auf Seite zwei nur allerdings. Platz acht auf Seite zwei ist überhaupt eigentlich Platz achtzig etwa. Seine Liste entspräche nämlich über siebzig Bestellungen, sagt er. Dann würde es wohl keinen Sinn machen, am Mittwoch zu kommen. Nein, überhaupt nicht, er hätte ohnehin nur dreißig Exemplare. Aber ich solle es doch bei Intermarché versuchen am Mittwoch Morgen. Die würden nämlich keine Liste machen. Doch, doch, erwidere ich, die haben auch so eine Liste wie Sie! Dis donc, sagt der Dicke, ça alors! Dann haben die ja gelogen! Gelogen? Sowas kann für Südfrankreich doch noch nicht als gelogen gelten, denke ich! Man kann die dynamische Darstellung dynamischer Gegebenheiten doch nicht als Lüge bezeichnen! Und überhaupt, welche Relevanz soll das haben? Das aber behalte für mich. Merci, bon après-midi.

Liebe Eltern!

Ich werde am Mittwoch Morgen halb neun bei Intermarché vor der Tür stehen. Ich mache mir allerdings nur sehr geringe Hoffnungen, eines der Charlie-Exemplare zu ergattern.

Ich werde es versucht haben. Versprochen.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

bertram@diehl.fr


Dieser Text erschien in einer gekürzten Version am 14. Januar 2015 als Leserartikel bei ZEIT ONLINE (http://www.zeit.de/community/2015-01/charlie-hebdo-sonderausgabe-jagd)