Beaufort 5

Aus dem Fenster eines der Kinderzimmer oben im Haus hat man einen Blick auf das Wahrzeichen des Dorfs, einen solitären Andesit-Felsen mit Burgruine und Kapelle. Auf dem Turm weht Blau-Weiß-Rot und die Flagge der Provence, gelb und rot in senkrechten Streifen. Das Haus liegt am Fuße eines langgestreckten Hügels im Windschatten, in einer windgeschützten Zone zumindest. Der Erbauer hat sich – vor bald 150 Jahren – ernsthafte Gedanken gemacht zu Plazierung und Ausrichtung seines Landhauses. Bei uns ist immer viel weniger Wind als an der Küste, im Flachland zur Küste, aber auch schon weniger als im Dorf selbst. Wenn im Dorf der Wind Staub und Blätter durch die Gassen treibt, können wir noch ohne Beeinträchtigung auf der Terrasse essen. Mit einem Blick auf die Flaggen kann ich vorherrschende Windrichtung und -stärke beurteilen. Es gibt eigentlich nur zwei Windrichtungen. Von rechts, Westwind, und von links, Ostwind. Starker Westwind ist meist Mistral, Ostwind, egal welcher Intensität, ist ein Vorbote schlechten Wetters. Der Himmel ist – wie auf dem Foto übrigens – bei Ostwind bestenfalls milchigblau, meist ziehen schnell Wolken auf. Mistral ist kalt und macht den Himmel strahlend blau. Keine Wolken. Regen ist bei Mistral ziemlich unwahrscheinlich.

Ich durfte Albans neues Fahrrad mit Karbonrahmen ausprobieren. Alban wohnt mit seiner Familie am Coudon. Der Coudon ist einer der Hügel um Toulon. Alban wohnt hoch genug, um von seiner Terrasse aus das Meer sehen zu können. Unsere Tour führte Richtung Pierrefeu und zurück. Gut zwei Stunden. Am Ende zwangsläufig eine Steigung. Steigung zum Ende einer Tour macht mir wenig Spaß. Bei Mistral als Gegenwind macht mir Steigung am Ende einer Tour noch weniger Spaß. Gleich würde mich seine Frau fragen: Und? Wie fährt man auf Karbon? Pour voir la boulangère le matin et ses copains au terrain de boule l’après-midi papi n’a pas besoin d’un vélo en carbone. Um die Bäckerin zu sehen am Morgen und seine Kumpels am Nachmittag auf dem Boule-Platz, braucht Opa kein Karbonrad. Wäre eine schöne Antwort, dachte ich, im Schweiße meines Angesichts auf dem letzten Kilometer Steigung, Alban weit voraus, leichtfüßig auf seinem alten Alurad. Die zehn Jahre Altersunterschied zu Alban fühlten sich an wie vielleicht dreißig.

Ich hätte einen Blick aus dem Fenster des Kinderzimmers werfen sollen. Beaufort 5 mindestens. Blauer Himmel. Mistral. Ich hätte absagen können. Kopfschmerzen, Dienst ganz überraschend, irgendwas. Zu spät. Richtung und Stärke des Winds beeinflussen zum Radfahren maßgeblich meine Wahl der Route. Ostwind ist gut für eine Strecke um Cap Garonne an der Küste, Mistral wäre gut gewesen für eine Tour über den Faron. In beiden Fällen hat man den Wind zum Rückweg im Rücken. Rückenwind am Ende ist gut für die Motivation unterwegs.

Alban ist einer von denen, die für meinen Drahtesel nur einen mitleidigen Blick übrig haben. Einer von denen, die am Samstag-Nachmittag mit zwei, drei Kollegen mal eben zu einer 150-Kilometer-Tour ins hügelige Hinterland aufbrechen. Zum Abschluß die Tour noch eben mit einem Abstecher über Faron (584 Meter) und Coudon (702 Meter) abrunden. Dabei schien mir mein aktuelles Rad im Vergleich zum Vorgänger schon wie ein Quantensprung, überall Shimano dran. Damit könnte Radfahren ja keinen Spaß machen, sagt Alban. Wann ich mir denn endlich ein richtiges Fahrrad gönnen würde, bald wäre doch Ostern. Die gleiche Frage hatte er mir schon letztes Jahr immer wieder gestellt. Bald wäre doch Weihnachten. Ein richtiges Fahrrad ist für solche Leute ein Fahrrad mit Karbonrahmen. Der Rahmen wiegt dann weniger als ein Kilo. Insgesamt sechs Kilogramm Fahrrad-Hightech. Alban hat sich eines gekauft für etwas über dreitausend Euro. Ziemlich viel, finde ich. Für ein Fahrrad. Man kann noch viel mehr ausgeben für ein Fahrrad, ich weiß.

Ob es nicht schlauer wäre, ein paar Kilo abzunehmen? Nein, nein, sagt Alban, und das habe ich auch schon von anderen Karbonradfahrern gehört, es wäre ja nicht nur das Gewicht, ein Karbonrahmen sei viel steifer, deswegen viel harscher und direkter, das Fahrrad also vielleicht unbequem, aber dafür auch reaktionsfreudiger. Reaktionsfreudiger? Ja, die Reaktionsfreude merkt man zum Beispiel beim Beschleunigen in der Steigung. Beschleunigen in der Steigung? Achso. Passiert mir nicht so oft. Auf den letzten Metern einer Steigung, wenn das Ende in Sichtweite vor mir liegt, steige ich manchmal noch in die Pedale. Als Endspurt, ein letztes Aufbäumen. Soviele andere Faktoren kämen da noch ins Spiel, aufgrund des steiferen Rahmens würde so ein Karbonfahrrad eine ganz andere Dynamik entwickeln können, ein direkteres Ansprechen. Dynamik? Ja, ergänzt Alban mit missionarischem Eifer, eine viel bessere Inertie. Inertie? Den Begriff Inertie habe ich vor vielen Jahren schon mal gehört, im Studium, Biophysik. Und schon damals nicht wirklich verstanden. Damals gab es noch kein wikipedia. Inertie ist auf Deutsch Trägheit. Je schwerer ein Körper, desto träger. So einfach. Schwere Körper setzen sich schwerer in Bewegung. Hat was mit dem Gewicht zu tun. Mein Sohn studiert Ingenieur. Inertie kam auch mal vor. Mein Sohn sagt, das sei Quatsch mit der Inertie beim Fahrrad. Augenwischerei. Karbonräder sind eben leichter. Leichter macht bessere Inertie, logisch. Klingt gut und keiner versteht, was wirklich gemeint ist. Muß aber was ganz Tolles sein, sonst würde man ja nicht dreitausend Euro dafür ausgeben müssen.

Und? Wie fährt sich Karbon? – Pour voir la boulangère le matin et ses copains au terrain de boule l’après-midi papi n’a pas besoin d’un vélo en carbone. Für meinen sportlichen Anspruch tut’s auch eine technische Antiquität. Und vielleicht drei, vier Kilo weniger Eigengewicht zum Sommer hin und überhaupt. Drei, vier Kilo weniger Eigengewicht sind sicher auch gut für meine persönliche Inertie.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

bertram@diehl.fr


Gekürzte Version für Heft Nr. 301, Mai/Juni, der Riviera Zeit

Aus dem Fenster des Kinderzimmers oben hat man einen Blick auf das Wahrzeichen des Dorfs, einen Felsen mit Burgruine und Kapelle. Auf dem Turm weht Blau-Weiß-Rot und die Flagge der Provence, gelb und rot in senkrechten Streifen. Mit einem Blick auf die Flaggen kann ich vorherrschende Windrichtung und -stärke beurteilen. Es gibt eigentlich nur zwei Windrichtungen. Der Ostwind ist gut für eine Strecke um Cap Garonne an der Küste, Mistral, der kalte Westwind, für eine Tour über den Faron. In beiden Fällen hat man den Wind zum Rückweg im Rücken. Rückenwind am Ende ist gut für die Motivation unterwegs.

Neulich durfte ich Albans neues Fahrrad mit Karbonrahmen ausprobieren. Alban wohnt mit an einem der Hügel hinter Toulon, hoch genug für vue mer von seiner Terrasse aus. Unsere Tour führte Richtung Pierrefeu und zurück. Gut zwei Stunden. Am Ende zwangsläufig eine Steigung. Steigung zum Ende einer Tour macht mir wenig Spaß. Noch weniger bei Mistral als Gegenwind. Gleich würde mich seine Frau fragen: Und? Wie fährt man auf Karbon? Pour voir la boulangère le matin et ses copains au terrain de boule l’après-midi papi n’a pas besoin d’un vélo en carbone. Um die Bäckerin zu sehen am Morgen und seine Kumpels am Nachmittag am Boule-Platz, braucht Opa kein Karbonrad. Wäre eine passende Antwort, dachte ich, im Schweiße meines Angesichts auf dem letzten Kilometer Steigung, Alban weit voraus, leichtfüßig auf seinem alten Alurad.

Ich hätte einen Blick aus dem Fenster des Kinderzimmers werfen sollen. Blauer Himmel. Mistral. Beaufort 5 mindestens. Ich hätte absagen können. Kopfschmerzen, Dienst ganz überraschend, irgendwas. Zu spät.

Alban ist einer von denen, die für meinen Drahtesel nur einen mitleidigen Blick übrig haben. Einer von denen, die am Samstag-Nachmittag mit zwei, drei Kollegen mal eben zu einer Tour ins hügelige Hinterland aufbrechen. Zum Abschluß die Tour noch eben mit einem Abstecher über den Coudon (702 Meter) abrunden. Mit sowas könnte Radfahren ja keinen Spaß machen, sagt Alban. Wann ich mir denn endlich ein richtiges Fahrrad gönnen würde, bald wäre doch Ostern. Die gleiche Frage hatte er mir schon letztes Jahr immer wieder gestellt. Bald wäre doch Weihnachten. Ein richtiges Fahrrad ist für solche Leute ein Fahrrad mit Karbonrahmen. Der Rahmen wiegt dann weniger als ein Kilo. Alban hat sich eines gekauft für über dreitausend Euro. Ziemlich teuer, finde ich.

Ob es nicht schlauer wäre, ein paar Kilo abzunehmen? Nein, nein, sagt Alban, es wäre ja nicht nur das Gewicht, ein Karbonrahmen sei viel steifer, deswegen viel direkter, das Fahrrad also vielleicht unbequem, aber dafür reaktionsfreudiger. Reaktionsfreudiger? Ja, die Reaktionsfreude merkt man zum Beispiel beim Beschleunigen in der Steigung. Beschleunigen? In der Steigung? Passiert mir nicht so oft. Auf den letzten Metern einer Steigung, wenn das Ende in Sichtweite vor mir liegt, steige ich manchmal noch in die Pedale. Soviele andere Faktoren kämen da noch ins Spiel, aufgrund des steiferen Rahmens würde so ein Karbonfahrrad eine ganz andere Dynamik entwickeln können, ein direkteres Ansprechen. Dynamik? Ja, ergänzt Alban mit missionarischem Eifer, eine viel bessere Inertie. Inertie? Den Begriff habe ich vor vielen Jahren schon mal gehört, im Studium, Biophysik. Und schon damals nicht wirklich verstanden. Damals gab es noch kein wikipedia. Inertie ist Trägheit. Schwere Körper setzen sich schwerer in Bewegung. Mein Sohn studiert Ingenieur. Inertie kam auch mal vor. Mein Sohn sagt, das sei Quatsch mit der Inertie beim Fahrrad. Augenwischerei. Karbonräder sind eben leichter und somit physikalisch weniger träge. Inertie klingt gut und keiner versteht, was wirklich gemeint ist. Muß aber was ganz Tolles sein, sonst würde man ja nicht soviel Geld dafür ausgeben wollen.

Und? Wie fährt sich Karbon? – Pour voir la boulangère le matin et ses copains au terrain de pétanque l’après-midi papi n’a pas besoin d’un vélo en carbone. Für meinen sportlichen Anspruch tut’s auch eine technische Antiquität.