Ainörnschen

Früher, als ich noch jung war und sportlicher, als ich noch zur Schule ging, ins Gymnasium in eine schwäbische Kreisstadt, aus meinem Dorf in die Kreisstadt, fuhr ich diese gut zehn Kilometer oft, na ja, immer wieder, mit dem Fahrrad. Bergauf, bergab. Mehr bergauf als bergab. Der letzte Kilometer von meinem Dorf in die Kreisstadt leicht bergab. Auf diesem letzten Kilometer wurde ich oft, na ja, immer wieder, von einer Ente überholt. Heutzutage werden Enten automatisch mit den Attributen alt und klapprig versehen, früher war die ja wahrscheinlich noch mehr oder weniger neu. Trotzdem ist sie mir als alt und klapprig in Erinnerung. Enten wurden vermutlich schon als alt und klapprig ausgeliefert. Savoir vivre aus Frankreich. Diese Ente damals war blaßgrau oder -blau und hatte neben der obligaten Atomkraft-nein-danke-Sonne noch einen Aufkleber: Honi soit qui mal y pense. Überzeugter Akademiker, Grünen-Wähler. Wahrscheinlich ein Lehrer.

Damals hatte ich zwar schon Französisch, als dritte Fremdsprache nach Englisch und Latein, und habe den Spruch auch als Französisch erkannt. Aber nicht verstanden. Ich wußte nicht, wer Honi war. Und “soit” habe ich auch nicht als Derivat des Hilfverbs “être” erkannt. Hat mich auch nicht weiter interessiert. Meine drei Jahre Französisch waren ein einziges Debakel. Die ersten Stunden waren noch gut, der Lehrer damals ausgesprochen frankophil, rundlich, wenig Haare, eitel und selbstzufrieden. Einer wie Hercule Poirot, der belgische Detektiv von Agatha Christie. In der Darstellung von David Suchet. So einer. Und die gleiche Arroganz.

Am Anfang fand ich die Sprache faszinierend. Mit den X am Ende wie bei Asterix und all diesen anderen Buchstaben, die man nicht hört. Ich dachte, ich kann das. In der ersten Klassenarbeit, einem Diktat, hatte ich zu meiner erheblichen Verwunderung eine glatte sechs. Ich kann mich noch heute an dieses Gefühl erinnern. Diesen Absturz aus euphorischer Erwartung einer Note, die mir zum Klassenbesten gereicht hätte. Weil ich mir doch so sicher war, mit den X und S am Ende und all den anderen Buchstaben, die man schreibt, aber nicht hört, umgehen zu können. Und dann das! Glatte sechs. Zuviele Fehler pro Zeile. Ich hatte Buchstaben geschrieben, wo keine sein durften und Buchstaben weggelassen, die man ohnehin nicht hört. Meine Motivation war weg. Null. Minus zehn. Ich fand die Sprache albern mit diesen Nasallauten und schwachsinnig mit diesen Regeln, die nie wirklich funktionieren, den unzähligen Buchstaben, die man nicht hört. An schlechten Tagen finde ich sie immer noch albern mit diesen Nasallauten. Affektiert. Immer noch. Vielleicht auch wegen eines selbstgefälligen Typen, der sich an der Tafel wie Hercule Poirot inszenierte. Vor fast vierzig Jahren.

Vor gut zehn Jahren erst habe ich verstanden, daß “Honi” kein Name ist. Und auch “soit” konnte ich einordnen. Google macht es heutzutage ohnehin ganz leicht.

Meiner Tochter geht es schon mit ihrer ersten Fremdsprache auch nicht viel besser. Maureen, ihre französische Deutschlehrerin, würde immer “Ainörnschän” sagen statt “Ainörnschän”, berichtet sie. – Häh? Ich verstehe nicht. – Ja, sie würde immer Ainörnschän sagen statt Ainörnschän. Sie könnte nicht Ainörnschän sagen. Ich bin nicht in der Lage, das Wort meiner Tochter zu erkennen. Ainörnschän? Geschweige denn, den Unterschied zu finden zwischen den beiden angebotenen Versionen. Was kann das sein? Ich muß es selbst ein paar Mal laut sagen. Ainörnschän, Ainörnschän – ah! Meine Tochter meint Eichhörnchen.

An der Aussprache des deutschen Worts für das putzige Écureuil (Sciurus vulgaris) läßt sich der deutsche Muttersprachler vom französischen Deutschschüler klar differenzieren. Vermutlich sogar von der französischen Deutschlehrerin. Gleich zwei schwierige Laute, grenzwertig für französische Kehlen, in einem Wort. Eine linguistische Herausforderung. Das H, welches zuhause ohnehin immer stumm bleibt, und das CH, dessen Modifikation ins SCH den Franzosen zu soviel Charme verhilft im Deutschen. Und dann auch noch in unmittelbarer Folge. Eich-Hörn-Chen. Meiner Tochter – leider mehr französische Deutschschülerin als deutsche Muttersprachlerin – verlangte die korrekte Aussprache einiges an Konzentration und Training ab. Inzwischen kann sie das Eichhörnchen. Manchmal vereinfacht es sich noch in ein Einhörnchen.


11. November

Fast unverändert abgedruckt in der November-Ausgabe von “Riviera – Das Magazin”


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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