Все счастливые семьи похожи друг на друга, каждая несчастливая семья несчастлива по-своему. Tolstoi. Im Original. Anna Karenina. Die ersten Zeilen. Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich. Ich kann nur diesen einen Satz russisch. Winter 1983. Auf dem Weg von Rumänien nach Polen. Nachts um eins mußte ich im ersten Bahnhof auf der sowjetischen Seite aussteigen. Hatte kein Visum. Man hatte mir gesagt, im betreffenden Zug bräuchte man kein Visum, weil der abgeschlossen einfach durch die Sowjetunion durchfahren würde bis Polen. Habe ich geglaubt. Auch glauben wollen. Ziemlich blauäugig.
Hermann?
Ich heiße nicht Hermann. Könnte aber sein. Meinen Eltern waren alle möglichen denkwürdigen Vornamen für ihre Söhne zuzutrauen. Egal. Hermann sitzt in seinem Sessel und macht nichts. Sitzt da und guckt. Denkt vielleicht was. Im Hintergrund wirkt die Gattin in der Küche, die Tür halb geschlossen, trippelt von rechts nach links.
Ja?
Was machst du da?
Wie meint sie das? Ich sitze da und mache nichts. Denke vielleicht was. Obwohl, denken? Ich habe Bilder vom letzten Ski-Urlaub vor Augen, Vorstellungen von der bevorstehenden Reise nach Neuseeland. Sowas. Ist das denken? Muß ich jetzt darüber reden?
Nichts.
Nichts? Wieso nichts?
Muß ich denn immer was machen? Die ganze Zeit mache ich irgendwas. Arbeiten, Hausaufgaben, Müllrausbringen. Einmal muß auch Pause sein dürfen. Sitzen ohne machen.
Ich mache nichts.
Gar nichts?
Nein.
In zehn Tagen fliegen wir nach Neuseeland. Wir treffen den Erstgeborenen und feiern die Hochzeit von Isabelles und Jéjés Sohn. Wir werden Vulkane sehen, in heißen Quellen am Strand baden, den einen oder anderen Originalschauplatz aus Herr der Ringe besichtigen. Dreitausend Kilometer fahren von Auckland im Norden nach Queenstown im Süden. Die Landschaft wird unglaublich schön sein. Sagen alle, die schon mal dort waren. Ziemlich viel Schafe, ein paar Spuren von Ureinwohnern. Kiwis. Wir werden Bilder davon machen. Mit Landschaft und Schafen. Meine Frau wird Selfies machen. Ich werde lächeln.
Überhaupt nichts?
Nein, ich sitze hier.
Du sitzt da?
Ja.
Aber irgendwas machst du doch?
Nein.
Denkst du irgendwas?
Ich hatte zur Sicherheit doch ein paar Stangen Zigaretten – Kent, die weißen von Kent – mitgenommen. Und ein paar Pfund Bohnenkaffee von Aldi. Gegen Kent, die weißen von Kent, und Kaffeebohnen konnte man im spätsozialistischen Rumänien alles bekommen, was es eigentlich nicht gab. Mädchen würden ihre Unschuld dafür hergeben, hieß es. Mit ein paar Nylonstrümpfen als Zugabe. Ich hatte nie Nylonstrümpfe dabei. Schon weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß die Mädchen, die mich interessierten, für ein paar Schachteln Zigaretten und Nylonstrümpfe zu haben wären. Und die Mädchen, die vielleicht für ein paar Schachteln Zigaretten und Nylonstrümpfe zu haben gewesen wären, interessierten mich nicht.
Nichts besonderes.
Es könnte ja nicht schaden, wenn du mal etwas spazieren gingest.
Nein, nein.
Letztes Jahr reisten unsere Musikerfreunde während der gleichen zwei Wochen Februarferien nach Indien. Zur Einstimmung und Vorbereitung hatten sie sich zu Weihnachten prächtige Bildbände geschenkt und ein paar Reiseführer. Leider wäre die Reise beinahe schon in Paris zu Ende gewesen. Ohne Visa darf man nicht in den Flieger. Sie hatten versäumt, ihre schönen Reiseführer auch zu lesen. Die Kapitel "Praktische Hinweise". Musiker eben. So etwas würde meiner Frau und mir nie passieren. Dachte ich damals noch. Mir vielleicht, nicht meiner Frau.
Ich bringe dir deinen Mantel.
Nein, danke.
Aber es ist zu kalt ohne Mantel.
Im Zug nach Posen bekam die erstbeste Uniform zur Sicherheit ein paar Schachteln Kent. Das war der rumänische Schaffner. Unnötige Verschwendung, dachte ich mir dann. Mein Rückfahr-Ticket erster Klasse Schlafwagen für umgerechnet sechzehn Mark war ohnehin in Ordnung. Zu spät. Mein Abteil war erstaunlich sauber. Und erstaunlich warm. Die Fenster konnte man nicht öffnen. Na also, dachte ich. Stimmt ja wohl mit dem abgeschlossenen Zug durch die Sowjetunion. Nicht wirklich viel später hielt der Zug im Nirgendwo. Ringsum nur Schnee im Mondschein. Wahrscheinlich war das die Grenze zur Ukraine.
Ich gehe ja nicht spazieren.
Aber eben wolltest du doch noch?
Nein, du wolltest, daß ich spazieren gehe.
Ich? Mir ist es doch völlig egal, ob du spazieren gehst.
Die nächsten Uniformen waren sowjetische. Wollten meine Papiere sehen. Ich hatte keine außer meinem Paß, dem Schlafwagenticket und einer selbstgefälschten rumänischen Ausreiseerlaubnis. Personalausweis, Führerschein? Wollten sie nicht. Meine Kaffeebohnen und meine Kent winkten sie routiniert ab. Überzeugte Patrioten. Ich mußte erkennen, daß meine exotische Zigarettenmarke nur in Rumänien Wunder bewirken konnte. Auch meine Camel zum Eigenbedarf konnten das fehlende Transitvisum leider nicht ersetzen.
Gut.
Ich meine nur, es könnte dir nicht schaden, wenn du mal spazieren gehen würdest.
Nein, schaden könnte es nicht.
Meine Frau kann es nur ganz schlecht aushalten, wenn sie alleine "im Haus was machen muß" – Wäsche, wischen, kochen. Als ob ich nie was im Haus machen würde – Wäsche, wischen, kochen. Wenn sie wischt, werde ich meistens dazu angehalten, die Asche aus dem Kamin zu holen oder mich wenigstens um das Mittagessen zu kümmern. Wenigstens. Und wann ich denn mal wieder was schreiben würde in meinem Blog. Mir fällt eben nichts mehr ein. Demenz würde nicht unbedingt zur Krankheit gehören, meint sie. Bradyphrenie aber, erwidere ich. Das Denken geht noch, aber langsamer.
Also, was willst du denn nun?
Ich möchte hier sitzen.
Du kannst einen ja wahnsinnig machen.
Ach.
Im nächsten Bahnhof mußte ich aussteigen. Und saß dann in Was-weiß-ich-wo jenseits der rumänischen Grenze. Den Namen der Station habe ich vergessen, wenn ich ihn überhaupt mal kannte. Wahrscheinlich Cherepkivtsi. Mußte auf den Zug zurück nach Suceava warten. Die riesige Bahnhofshalle war warm, fast zu warm. Ich mußte eine neue Fahrkarte kaufen gegen schöne Dollars zum offiziellen Kurs. Bekam gegen meinen Zwanzig-Dollar-Schein keine Rubel, sondern nur ein paar rumänische Münzen und eine speckige zehn-Lei-Note zurück. Rubel als Wechselgeld würde ich ja ohnehin nicht ausführen dürfen. Lehrgeld. Bis zur Abfahrt meines Zugs zurück hatte ich noch gut drei Stunden zu warten.
Erst willst du spazieren gehen, dann wieder nicht. Dann soll ich deinen Mantel holen, dann wieder nicht. Was denn nun?
Ich möchte hier sitzen.
Und jetzt möchtest du plötzlich da sitzen.
Gar nicht plötzlich. Ich wollte immer nur hier sitzen.
Was willst du eigentlich in Neuseeland, wollte ich von meinem Erstgeborenen wissen. Da gibt's doch nichts außer Schafen, Hobbits und Bungee-Springer. Mein Sohn widersprach ganz entschieden. Die Natur! Ok, das sagen sie alle. Und vor allem, Neuseeland wäre ja auf der Südhalbkugel. Wenn ihr es hier kalt und unangenehm habt, habe ich den schönsten Sommer, warm und Sonne. Südhalbkugel stimmt. Auckland im Norden ist vom Äquator so weit entfernt wie zum Beispiel Tunis. Queenstown im Süden wie Lyon. Der Sommer dort hat jedoch nichts mit dem Sommer von Tunis oder Lyon gemeinsam. Klimamäßig. Eher Dublin oder Helsinki. Unter 25 Grad. Regen jeden zweiten Tag. Von wegen Sommer. Ich glaube, mein Sohn wollte einfach nur ganz weit weg.
Sitzen?
Ich möchte hier sitzen und mich entspannen.
Wenn du dich wirklich entspannen wolltest, würdest du nicht dauernd auf mich einreden.
Ich sag’ ja nichts mehr.
Die Wartezeit störte mich nicht weiter, ich saß ja schön im Warmen und hatte was zu lesen dabei. Anna Karenina. Und kam ins Gespräch mit gelangeweiltem uniformiertem Personal, soweit mein noch sehr kompakter rumänischer Wortschatz das eben zuließ. Wir plauderten über Rumänien, Ceaușescu, das erbärmliche Leben im rumänischen Sozialismus, meine Familie in Deutschland. Und natürlich über Tolstoi.
Jetzt hättest du doch mal Zeit, irgendwas zu tun, was dir Spaß macht.
Ja.
Liest du was?
Die Athmosphäre war nett. Entspannt. Lew Nikolajewitsch Tolstoi gehört zu den größten Schriftstellern aller Zeiten. Wir waren uns einig. Wahrscheinlich war ich der erste Kapitalist, der seit dem Krieg in diesem Grenzbahnhof ausgestiegen war. Einer der Beamten schrieb mir die ersten Zeilen auf russisch in mein Buch. Glaubte ich zumindest. Hat er mir zumindest als den Originaltext verkauft. Aber, wie gesagt, ich war ja blauäugig. Das war dem Personal sicher auch aufgefallen. Will ohne Visum durch die Sowjetunion! Blauäugiger geht ja wohl gar nicht!
Im Moment nicht.
Dann lies doch mal was.
Nachher. Nachher vielleicht.
Hol dir doch die Illustrierten.
Ich möchte erst noch etwas hier sitzen.
Vor ein paar Tagen ist meiner Frau beim Studium der praktischen Seiten des Reiseführers siedendheiß aufgefallen, daß wir für Neuseeland internationale Führerscheine benötigen. Zu unseren deutschen Führerscheinkarten stellt uns das niemand aus. Nicht mal das Konsulat in Marseille kann helfen. Wenn Sie keinen Wohnsitz in Deutschland mehr haben, müssen Sie Ihren deutschen Führerschein gegen einen französischen eintauschen. Und sich dann dazu einen internationalen holen. Geschätzter zeitlicher Aufwand drei Monate. Alternativ dazu reichen auch autorisierte Übersetzungen. In Neuseeland autorisierte Übersetzungen. Die man vor Ort wahrscheinlich innerhalb von ein paar Stunden haben könnte. Man würde Touristen ja nicht mit läppischen Formalitäten vergraulen. Die haben ja nichts außer Schafen, Hobbits und Touristen. Meine Frau wollte es jedoch nicht darauf ankommen lassen.
Soll ich sie dir holen?
Nein, nein, vielen Dank.
Will der Herr sich auch noch bedienen lassen, was? Ich renne den ganzen Tag hin und her. Du könntest wohl einmal aufstehen und dir die Illustrierten holen.
Ich möchte jetzt nicht lesen.
Mal möchtest du lesen, mal nicht.
Der Oberaufseherin im Bahnhof, erkenntlich an mehr Pelz an der Mütze, Sternen auf den Schultern und klischeekonformem Aufseherauftreten, gefiel die offensichtliche Fraternisierung ihres Personals mit dem Eindringling aus kapitalistischem Ausland nicht. Sie verbannte mich in eine immer noch große, aber zugige Vorhalle. Unbeheizt. Kontinentalwinter. Meine rudimentären Russischkenntnisse sind hart erkauft.
Ich möchte einfach hier sitzen.
Du kannst doch tun, was dir Spaß macht.
Das tue ich ja.
Dann quengel doch nicht dauernd so rum. Hermann? … Bist du taub?
Nein, nein.
Все счастливые семьи похожи друг на друга, каждая несчастливая семья несчастлива по-своему – Nieder mit der kommunistischen Partei Rumäniens und dem eingebildeten Schusterlehrling an ihrer Spitze! Hätte auch sein können. 1983 gab es google noch nicht. In diesem Fall hätten im Rahmen einer vorstellbaren Auseinandersetzung mit rumänischen Grenzbeamten meine Kaffeebohnen von Aldi und die exotischen Zigaretten zum schlagenden Argument werden können. Hat aber keiner kontrolliert. Der rumänische Zollbeamte interessierte sich nicht für fremdsprachliche Literatur.
Du tust eben nicht, was dir Spaß macht. Stattdessen sitzt du da.
Ich sitze hier, weil es mir Spaß macht.
Sei doch nicht gleich so aggressiv.
Ich bin doch nicht aggressiv.
Warum schreist du mich dann so an?
ICH SCHREIE DICH NICHT AN!
32 (zweiunddreißig) Stunden dauert die Reise nach Auckland. Vielleicht fällt mir unterwegs was für den Blog ein.
© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
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