3.652 Zeichen
Zweitausend Zeichen gesteht mir die Redakteurin zu. Den Fokus auf meinen Beruf, Anästhesist, “gewürzt” mit Besonderheiten aus französischem Krankenhausalltag. Wünscht sich die Redakteurin. Zweitausend Zeichen. Das ist nicht viel für gewürzten Alltag mit Fokus. Zweitausend Zeichen sind im französischen Krankenhausalltag schon gesagt, bevor der Tag überhaupt richtig anfängt.
Mein Alltag findet vorwiegend im bloc opératoire statt. Im OP. Da gibt es OP-Schwestern, die ab halb acht in ihrem Saal Instrumente für ihre Chirurgen auspacken, nett drapiert auf sterilem Grün. Anästhesiepersonal, das die Funktionsfähigkeit der Maschinen prüft, Spritzen vorbereitet und nett zu den Patienten im Vorraum ist. Der Chirurg hat seinen Auftritt typischerweise um 8:45 Uhr. Also, um genau zu sein, nicht vor 8:45 Uhr. Der Anästhesist ein bißchen vorher, ab halb neun. Normalement. Bis dahin sind die Schwestern und Pfleger mit ihren Vorbereitungen längst fertig und warten in der Kaffeeküche. Rufen den jeweiligen Arzt auf seinem Portable an: wir sind fertig, du kannst kommen. Der Arzt sagt am Telefon “j’arrive”. Wenn man verschlafen hat und unter der Dusche erwischt wird, kann man “j’arrive” sagen. Das gleiche “j’arrive” würde man auch aus der Umkleide nebenan verkünden. J’arrive umschreibt ein äußerst großzügiges zeitliches Spektrum. Alles ist drin von “sofort” bis “heute noch, ganz sicher”. Das ist im Hôpital nicht anders als mit dem Plombier, auf den man seit dem frühen Morgen verzweifelt wartet.
Wenn ein Doktor “j’arrive” gesagt hat, kann das zugeteilte Pflegepersonal sagen: “il arrive”. Und schon gilt auch für sie das gleiche zeitliche Spektrum. Großzügig. Das ist eigentlich ganz angenehm. Wenn der Chef fragt, warum es nicht weiter geht, kann man sagen “il arrive”. Das reicht völlig als Legitimation. Und für einen Kaffee. Einen mindestens. Zum Kaffee im großen Kreis plaudert es sich gut über Einzelheiten des Menüs von gestern Abend, das Auswärtsspiel des RCT vom Samstag, die Kinder, die aktuelle Diät. Natürlich auch über den spannenden Kaiserschnitt letzte Nacht und wie blöde das ist, daß man schon wieder auf den Doktor warten muß. So wie immer eigentlich. Dabei weiß der doch, daß er ein volles OP-Programm hat! Und daß der Chef da endlich mal eingreifen müßte.
Da sind zweitausend Zeichen schnell gesagt.
Zu meinem Auftritt, meist kurz nach halb neun, sitzen die meisten Schwestern und Pfleger mit ihrem Kaffee in der Kaffeeküche. Alle Anwesenden müssen geküßt werden. Alle. Alle wollen geküßt werden. Bises links und rechts, salut, tout va bien? Dazu kleiner Smalltalk, kleiner Scherz. Du bist aber schlecht rasiert heute! Wenn man jemanden vergißt, muß man mit lautstarkem Protest rechnen. Alleine in diesem Kontext sind auch meine zweitausend Zeichen wahnsinnig schnell gesagt. Zweitausend Zeichen sind nur eine gute halbe Seite.
Früher war das anders. Früher, in einem Provinzkrankenhaus des nordöstlichen Ruhrgebiets. Ende des letzten Jahrtausends. Visite auf der Intensivstation halb acht. Halb acht! Steile Hierarchie. Chefarzt, Oberärzte, Fußvolk. 7:31 Uhr. Ein geflüstertes “Guten Morgen”. Zwölf Zeichen. Dienstbeginn ist sieben Uhr dreißig, Herr Diehl. – Tut mir leid, Frau Chefärztin. Ich war im Stau wegen Unfall auf der Provinzialstraße. Nochmal gut achtzig Zeichen. In der Kaffeeküche des OP saß morgens niemand. Keiner hatte Zeit zu sitzen. Und geküßt wurde da ohnehin nicht. Früher, zu Ende des letzten Jahrtausends im nordöstlichen Ruhrgebiet, kam ich im Krankenhausalltag mit zweitausend Zeichen problemlos bis in die Kantine mittags.
Das sind nun 3.652 Zeichen geworden. Bleibt abzuwarten, was die Redakteurin dazu sagt.
© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
bertram@diehl.fr
8. Mai
Auch Redakteurinnen können nicht anders. Sie müssen einfach was wegkürzen. Sie haben ja schließlich auch Vorgaben – andere Beiträge, Werbung, Quadratzentimeter hier und da. Ich kann mit dem Resultat leben. Ist abgedruckt in der Mai-Ausgabe der Riviera Zeitung.