Hoffnung

Mittwoch

12:50 Uhr Rendezvous in der médecine nucléaire, Nuklearmedizin. Fensterlose Wartenische an der Kreuzung von zwei Fluren. Neben einer  Tür mit einem Pappschild “Accueil” ist ein kleiner Automat zur Vergabe von Wartenummern. C016. Wieso C? Gibt es hier noch andere Türen? Überhaupt, ich sehe keinen einzigen Monitor für die Anzeige der aktuell aufgerufenen Nummer. Noch bevor ich jedoch in die Patientenrunde der Wartenische fragen kann, was ich nun mit meiner Nummer anzufangen hätte, öffnet eine junge Frau die Tür. C’est vous la seize? Sind Sie die Sechzehn? Die junge Frau trägt ein Namensschild. Sabrina. Erfassung der Personalien, Unterschrift für die digitale Weitergabe meiner Resultate an den Neurologen. Wie fortschrittlich! Ob ich meine Resultate nicht auch digital haben dürfte? Das geht leider nicht, sagt Sabrina lächelnd, leider nicht ohne die Autorisation des Doktor C., der mich gleich sehen würde. Das würde ich doch verstehen. Natürlich verstehe ich das. Es geziemt sich für Patienten, Verständnis aufzubringen. Warten im Wartebereich. Ein dicker älterer Herr wird halb entblößt auf einer Pritsche vorgeschoben. Er trägt Windeln und stöhnt vor Schmerzen. Das tut so weh, oh, mein Kopf, das tut so weh! Sehr ermutigend. In der Radiologie hilft einem keiner. Die interessieren sich für ihre Bilder und sonst nichts. Der brancardier, der Pritschenschieber legt einen kleinen Stop ein, wechselt charmante Worte im Accueil mit Sabrina und ihren Kolleginnen, während der ältere Herr in Windeln mitten auf der Kreuzung stöhnt. Das tut so weh, oh, mein Kopf, das tut so weh! Der Pritschenschieber hat den Lehrgang zum würdigen Umgang mit Patienten offensichtlich versäumt. Oder nichts verstanden.

Monsieur Diäl?

13:27 Uhr der Doktor. Doktor C.. Mondgesicht mit Vollbart. Sieht aus wie direkt aus dem Studium. Gibt mir eine Kapsel, die ich schlucken soll mit etwas Wasser. Carbidopa 100 mg. Soll eine Stunde einwirken. Zur besseren Fixierung des radioaktiven Dopamins. Nach der Injektion des radioaktiven Dopamins werde ich weitere eineinhalb Stunden warten müssen. Zur Fixierung der Isotope. Die eigentliche Untersuchung funktioniert wie ein Kernspin oder CT und dauert nur etwa 15 Minuten. Nebenwirkungen? Nein, eigentlich nicht. Die von mir dann ausgehende Radioaktivität würde meinen Familienangehörigen nicht schaden. Und mir selbst? Non, normalement non.

Wartenische.

Monsieur Diehl?

Die Schwester fünf Minuten später – immerhin spricht sie meinen Namen richtig aus – geleitet mich in eine Art Labor. Hélène. Infusion in der Ellenbeuge. Die radioaktive Injektion soll jetzt gleich erfolgen, maintenant, kündigt sie an. Auch wenn maintenant im mediterranen Verständnis ganz allgemein eine andere Bedeutungsschwere hat als rechts des Rheins und nicht “Jetzt und Sofort” heißt, sondern durchaus Spielräume von einer Viertel- bis halben Stunde bietet, steht maintenant im Widerspruch zu der Stunde Wartezeit, von welcher der Doktor eben sprach. Ah, bon, sagt Hélène, hat der Doktor das gesagt? Geht weg. Und kommt nach einer guten halben Stunde wieder. Jetzt wäre es wohl soweit. Na dann. Plaudert noch was. Über meinen Akzent und von wo ich denn käme. Stuttgart? Kennen Sie das? Nein, aber ihr Mann kennt das, der war mit dem Militär damals nicht weit von Stuttgart. Viele Männer dieser Generation scheinen mit dem Militär damals in Kasernen nicht weit von Stuttgart gewesen zu sein. Oder Tübingen. Sigmaringen. Hélène war zwei Mal in Trèves, Trier. Die  Austauschpartnerin, auch die Eltern, sprach so gut Französisch, daß sie nichts gelernt hätte. Überhaupt wären die Franzosen ja so schlecht in Sprachen, stellt sie fest. Was aber auch an dem miserablen Unterricht in der Schule läge. Der durchschnittliche Franzose kokettiert gerne mit der mangelnden Sprachbegabung seines Volks und dem miserablen Unterricht in der Schule. Dann ist genug geplaudert. Es folgt die radioaktive Injektion aus einer monströsen Maschine mit Stahlzylindern. Maintenant. Sieht aus wie ein Modell aus den frühen Anfängen der Nuklearmedizin. Einschließlich der mediterranen Viertelstunde für Jetzt kommt das am Ende schon hin mit der Stunde Einwirkzeit.

Bis zuletzt hatte ich gehofft, es wäre vielleicht doch alles Quatsch, Einbildung, ein Irrtum. Die Hoffnung gehört zu chronischen Krankheiten wie der Horizont zur Wüste. Obwohl ich es natürlich besser weiß. exams_requests-php-1Eigentlich. Hinter dem Horizont geht die Wüste genauso weiter. Insgesamt zuwenig Anreicherung des Isotops, sagt der Nuklearmediziner Doktor C. und wird es auch schreiben in seinem Befund, rechts noch weniger als links. Die Bilder sind der Beweis. Soll die Symptomatik links erklären. Die meisten Nervenfasern aus dem Hirn kreuzen irgendwo auf die Gegenseite. Okay. Ich habe damit gerechnet. Trotzdem, schade.

Freitag

Der Vollständigkeit halber und weil mir eine Freundin von ganz früher, aus der medizinischen Sandkiste quasi, jetzt Neurologin in Berlin, dazu geraten hatte, war ich bei der Echokardiographie. Sie hat sich mittlerweile zwar mehr auf Psychiatrie spezialisiert, hatte aber auch lange mit Parkinson zu tun und Parkinson sei ja das täglich Brot des Neurologen, sagt sie. Die Neurologin sagt, Herzprobleme sollten im Rahmen der Parkinson-Diagnostik ausgeschlossen werden, insbesondere ein Foramen ovale. Das Foramen ovale, lateinisch für ovales Loch, ist ein Loch zwischen zwei Herzkammern, den Vorhöfen. Das Loch braucht man im Mutterleib, solange die Lungen noch nicht in Betrieb sind. Nach der Geburt sollte sich das innerhalb von ein paar Tagen bis Wochen verschließen. Wenn nicht, kann das später zu Schlaganfällen führen. Oder kann eben, wie es scheint, irgendwas mit Parkinson zu tun haben. Habe ich noch nie gehört vorher, wozu aber sonst die Herzdiagnostik? Ich habe der Neurologin in Berlin vielleicht nicht richtig zugehört. Oder nicht richtig nachgefragt. Patienten fragen immer viel zu wenig. Und wundern sich nachher, daß sie nichts verstanden haben.

Patrick B., im Centre hospitalier der Kardiologe meines Vertrauens, macht die Echokardiographie. Patrick B. könnte auch Parkinsonpatient sein. Klarer Fall von Hypomimie, Maskengesicht, charakteristisch für Parkinson. Ich kenne mich damit aus. Patrick lächelt nicht oft. Liegt vielleicht an der knappen Ausstattung seiner Abteilung. Momentan verfügt er zum Beispiel nicht über seine Sonde für transösophageale Echographie. Ist kaputt gegangen, er wartet seit drei Monaten auf Ersatz oder Reparatur. Wir sind eine öffentliche Struktur, vielleicht gibt es gerade nicht genug Geld für die Reparatur. Transösophageal? Eine Sonographie-Sonde für die Speiseröhre, weil man so dem Herzen und insbesondere dem eventuellen Loch noch näher kommt als transthorakal, durch die Brustwand. Gilt wohl als die Methode der Wahl, um das Loch zu finden, wenn es da eines gibt. Patrick hat eine andere Methode, die er der transösophagealen Echographie ohnehin zumindest für ebenbürtig hält, wenn nicht gar überlegen. Vielleicht macht er aus der Not eine Tugend. Die Schwester, Pascale, injiziert mir Flüssigkeit mit winzig kleinen Luftbläschen in die Vene. Kann man in der Echographie sehr schön sehen, die Bläschen erscheinen wie Schneegestöber. Normalerweise nur in den rechten Herzkammern. Wenn da ein Loch ist, auch links. Vier Injektionen. Zwei Mal unauffällig. Und dann doch ein Zweifel. Sind da nicht doch Bläschen links? Sind das vielleicht Artefakte, Fehlmessungen, frage ich. Auf unseren Narkose-Monitoren gibt es ständig Fehlmessungen. Blutdruck 143 zu 132 gibt es nicht, eigenartiges EKG, nein, trotzdem kein Herzstillstand, wahrscheinlich hat sich eine Elektrode gelöst. Patrick aber ist sich ganz sicher: Klares Nein. In der Kardiologie gibt es keine Artefakte. Ein ganz kleines Loch vielleicht. Er wird seinen Freund, den Professor in Marseille fragen. Mein Neurologe hat auch einen Freund in Marseille. Das gehört irgendwie dazu. Und wenn da ein Loch ist, auch ganz klein, wird das abgedichtet und mein Parkinson verschwindet wie von selbst. Bestimmt.

Die Hoffnung gehört zu chronischen Krankheiten wie der Horizont zur Wüste. Irgendwo muß die Oase doch sein.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

bertram@diehl.fr