Elternabend

Ab 17:30 Uhr. Mein Sohn hätte mir nichts davon erzählt. Hätte es wahrscheinlich unauffällig unter den Tisch fallen lassen. Und ich hätte eine gute Entschuldigung gehabt, nicht dort gewesen zu sein. Bei der Durchsicht seiner Schulsachen geriet mir der Zettel zwischen die Finger. Zufällig. Petit rappel! Rencontre professeurs-parents 17:30 heures le 14 septembre. – Kleine Erinnerung! Elternabend am 14. September um 17:30 Uhr. Ein Zettel in verbessertem Briefmarkenformat. Manchmal entwickelt diese Schule ökologische Anwandlungen. Daß so winzige Zettelchen auch verlorengehen können, ist vielleicht auch Absicht. Je weniger kleine Erinnerungen von Eltern gefunden werden, desto weniger davon kommen. Desto weniger unangenehme Zwischenfragen und vor allem, desto schneller Feierabend. Lehrer sind auch nur Menschen.

17:30 Uhr ist eine tendenziell sportliche Herausforderung. Ich muß die Kinder nach Schulende um halb fünf zum Schwimmtraining ins Bad am Hafen bringen und im Pendlerverkehr zurück zur Schule kommen. Und dann, vor allem, einen Parkplatz in der Nähe der Schule finden. Im Eingangsbereich zum Auditorium, wo dieser Elternabend eigentlich stattfinden sollte, hängen Zettel aus. Programmänderung: Jede Klasse hat einen individuellen Raum. Es gibt vier Klassen 5ème. 1 bis 4. Woher soll ich denn wissen, in welcher 5ème mein Sohn ist? 2 vielleicht? Hat er zwei gesagt? 2 kommt mir bekannt vor. Im entsprechenden Raum sehe ich Arthur. Arthur, weiß ich, ist in der Klasse meines Sohnes. Vor Arthur ist noch ein Platz frei.

17:38 Uhr auf der Uhr an der Wand. Eigentlich ganz gut im Timing.

Vorne spricht eine dunkelhaarige Mittvierzigerin in knallgrünem Blouson über schwarzer Kombination. Sie trägt eine Brille und ein Dauerlächeln.

Qui c’est? frage ich Arthur. Wer ist das?

Madame C., la prof principale.

Die Klassenlehrerin. Die Klassenlehrerin unterrichtet die Naturwissenschaften. Physik, Chemie, Biologie. Für Physik und Chemie braucht der Schüler einen Kittel. Der Kittel sei keine Option, der Kittel ist ein Muß, sagt sie. Ohne Kittel keine Teilnahme am Physikunterricht. Man kann den Kittel allerdings auch im Schülerbüro leihen. Ein Euro pro Unterrichtseinheit würde den Eltern dann in Rechnung gestellt werden. Das wäre nicht viel, sagt sie mit ihrem Lächeln, sondern mehr so als edukative Maßnahme gedacht. Aha. Edukative Maßnahme? Sollen die Eltern erzogen werden? Kauft Eurem Kind endlich einen Kittel! Anschließend fällt ihr ein, daß ja noch wichtige Unterlagen zu verteilen sind. Neun Blätter, einseitig bedruckt. Da hat die Schule ihr ökologisches Gewissen klar verdrängt. Wichtig ist wichtig. Das mit dem Kittel für Physik steht nicht drin. Die Schulordnung aber ist abgedruckt, die Planung der Klassenarbeiten, der Stundenplan. Der Stundenplan ist kompliziert. Zwei Blätter Anhang. Jede Woche ist ein bißchen anders. Unterschiedlich anders für die Schüler der Englisch-Gruppe und der Deutsch-Gruppe. Zwischenfrage aus dem Publikum:

Haben die Schüler das verstanden?

Sie wüßte, daß das nicht ganz einfach wäre, aber die Schüler haben das verstanden, sagt Madame C.. Ein Aufatmen geht hörbar durch die Reihen. Niemand mehr folgt den Ausführungen der Klassenlehrerinnen.

Maman! – Maman!

Arthur ruft im Flüsterton seine Mutter. Die sitzt ein paar Tische weiter rechts. Die Mutter reagiert erst auf wiederholte Ansprache.

Quoi?

Arthur möchte seine Teilnahme an der Réunion beenden, den Raum verlassen.

Tu me soûles!

Du gehst mir auf den Geist, zischt die Mutter. Erstaunte Blicke ringsum. Redet man so mit seinem Kind? In der Öffentlichkeit? Andererseits kann man Arthur verstehen. Er ist der einzige anwesende Schüler. Das nervt auch. Ich verstehe Arthur. Mit Arthur verbinden mich außerdem gemeinsame Erinnerungen. Seinetwegen hatte ich mich einen Mittwoch Nachmittag bei der Grundschulleiterin einzufinden. Arthur war Opfer einer ganz ungewöhnlichen Aggressivität meines Sohnes geworden. Arthur nervt manchmal durch seine penetrante Art. Okay. Der aggressive Ausbruch meines Sohnes war dennoch unverhältnismäßig. Richtig. Die Grundschulleiterin versuchte durch subtile Psychologie unser häusliches Gewaltniveau auszuloten. Fragen zu Geschwistern, Computerspielen, Internetkontrolle, familiären Dissonanzen. Machte sich Notizen. Letztendlich konnte sie von einer Benachrichtigung des Jugendamts offenbar absehen. Mein Sohn mußte einen Brief zur Entschuldigung verfassen.

Eine grauhaarige Dame in beigefarbener Kombination hat ihren Auftritt. Die Englischlehrerin. Schmallippig spricht sie über die Wichtigkeit des Englischen der heutigen Zeit im allgemeinen und die ihres Unterrichts im Besonderen. Mündliche Mitarbeit und Vokabeltraining wären die Grundfesten ihres Unterrichts. Und die Hausaufgaben. Diese häufig anhand der CD im Lehrbuch. Es gäbe schon, jetzt schon, Schüler, die diese Hausaufgaben nicht machen würden. Diese Schüler würden mit ernthaften Konsequenzen zu rechnen haben. Ich nehme mit vor, die Englisch-Hausaufgaben meines Sohns engmaschig zu hinterfragen. Dann fällt mir ein, daß mein Sohn zur Deutschgruppe der Klasse zählt. Mit dieser Dame wird er dieses Jahr nichts zu tun haben. Ein Glück.

Dann tritt der Sportlehrer auf. Werden hier alle Lehrer dieser Klasse ihren Auftritt haben? Religion, Kunst, Geschichte, Geographie? Deutsch, Latein? Jeder mit mindestens zehn Minuten Redezeit? Das verspricht, eine richtige Réunion zu werden. Der Sportlehrer ist etwas kurz geraten, kräftig, mit deutlichem Bauchansatz. Goldkettchen. Ein buntes T-Shirt “Key West, Florida“, bunte Palmen. Spannt ein bißchen über dem Bauchansatz. Nicht wirklich der Sportlehrertyp. Vor allem spricht er mit schweren Akzent aus Marseille. Das kostet ihn bei uns, hundert Kilometer weiter östlich, jegliche Glaubwürdigkeit. Er referiert trotzdem über sein Programm, welches durch den komplizierten Stundenplan nur schwer zu halten sein würde, von der Notengebung und von seiner Tischtennis-AG nach dem Mittagessen. Noch Fragen? Keine Fragen. Bedankt sich für die Aufmerksamkeit und wünscht einen schönen Abend.

Danach kein weiterer Gastauftritt aus dem Kollegium. Fehlt nur noch die Wahl des Elternsprechers. Es gibt nur eine Kandidatin. Somit könnten wir wohl von einer geheimen Wahl absehen, meint die Klassenlehrerin. Zustimmendes Raunen aus dem Publikum. Noch Fragen? Keine Fragen. Die Klassenlehrerin bedankt sich für unsere Aufmerksamkeit und wünscht uns einen schönen Abend.

18:17 Uhr zeigt die Uhr an der Wand. Wow! Das war phänomenal straff für einen Elternabend! Phänomenal straff insbesondere für einen französischen Elternabend! Bleibt mir Zeit genug, meine Tochter auf 18:45 Uhr vom Training abzuholen. Die Uhr im Nachbarsaal, da ist der Elternabend auch schon zu Ende, zeigt allerdings 18:23 Uhr. Die Echtzeit auf dem Display meines Handys liegt bei 18:32 Uhr. Das ist wie bei mir im Krankenhaus. Dort ist vor ein paar Jahren die Zentraleinheit für die Uhren ausgefallen. Nur noch die Drähte aus der Wand sind geblieben. Daran hängen jetzt Küchenmodelle von Ikea. Jeder OP, jeder Kreißsaal hat sein eigenes Modell, seine eigene Zeit. Zeitangaben haben höchstens die Rolle eines groben Richtwerts.

Und die Tochter wird sich ein paar Minuten gedulden müssen.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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