Deckarddip, GrokVock, Domeniksi und Alimabum! Ich freue mich, Euch zu meinen Abonnenten zählen zu dürfen. Wahrscheinlich seit Ihr Freunde von Abbasrow, Alipi und Kliffet. Und da sind noch viele mehr. Ich habe Leser in ganz Russland!
葉卡捷琳堡. Jekaterinburg. Habe ich schon mal gehört. Russland. Links unten. Noch vier Stunden und zweiunddreißig Minuten, 2392 Meilen. Wir fliegen auf einer Höhe von 34.000 Fuß. Die Geschwindigkeit liegt aktuell bei 529 mph. Vor ein paar Stunden war links unten Novosibirsk (新西伯利亚). Etwas weiter Omsk, auch links. Und Surgut. Nie gehört. Rechts. Die Außentemperatur liegt bei minus 67 Grad. Fahrenheit. In Celsius macht das minus 55. Wie auch immer ziemlich kalt. Der Flieger von Cathay Pacific wird um sechs Uhr morgens in London (伦敦) landen. Cathay Pacific ist eine Fluggesellschaft mit Sitz in Hongkong. Die Filme in der Rückenlehne des Vordermanns sind meist chinesisch untertitelt. Die Städte auf dem Flight-tracking-Bildschirm sind abwechselnd englisch und chinesisch beschriftet. 莫斯科 (Moskau) da unten im Dunkeln.
Bestimmt sitzt Ihr und die in letzter Zeit so zahlreichen Neu-Abonennten meines Blogs da unten irgendwo. Mit dem Tolstoi-Zitat habe ich vermutlich den einen oder anderen Deutschkurs der dortigen Volkshochschule angelockt. Oder einen Online-Kurs. Dabei seid Ihr, die Ihr Euch angemeldet habt, bestimmt nur die Spitze des Eisbergs. Die Klassenbesten. Die sich auch nicht von den Rechenaufgaben meines Captcha-Plugins verwirren lassen. XII – acht = ?. Roboter schaffen sowas nicht, denke ich. Ihr seid zweifellos – несомненно – echte Menschen. Mit echten Adressen bei mail.ru, kobka-2018@mail.ru und skorobogat.eva@mail.ru zum Beispiel. Dabei ist bekannt, daß sich die meisten Leser sich nicht die Mühe machen mit einer Anmeldung. Viele, die meisten eben, klicken das mal an, weil sie gerade nichts Besseres zu tun haben. Oder weil die Lehrerin ihres Deutschkurses das empfohlen hat. Fühlen sich aber nicht angesprochen. Verstehe ich. Loriot ist vielleicht sehr spezieller deutscher Humor. Ich kann auch nicht jeden Blog aushalten. Trotzdem, russische Volkshochschulschüler sind brave Schüler. Wenn Eure Lehrerin sagt, schaut Euch das mal an, schaut Ihr Euch das mal an. Über tausend in ein paar Tagen. Das schaffen andere Texte nicht.
Prag links und Berlin, Hamburg. Im Hintergrund, auch links natürlich, am Horizont, München und sogar Basel. Ob man wirklich alle diese Städte sehen könnte aus über zehn Kilometer Höhe? Groningen rechts. Niederlande. Bin ich vor vielen Jahren mal durch gekommen auf dem Weg an die Nordsee. Manche IP-Adressen verortet das WordPress-Plugin nach Holland. Das kann ich verstehen. Das sind die Leser, die auch im Kurzurlaub an der Nordsee nicht auf mich verzichten wollen. Außerdem sprechen alle Holländer fließend deutsch.
Rechts immer mehr deutsche Städte: Gütersloh, Koblenz (科布倫茨), Aachen. Gütersloh! 居特斯洛. Wieso gerade Gütersloh? Warum nicht Unna? Oder Moers? Egal. Die Ankunft in London in weniger als einer Stunde.
In Koblenz und Köln habe ich ein paar Abonnenten. Zeigt mir der Plugin. Haben für meine Ohren normale Namen. Bei gängigen Anbietern. "Ladyatott" gehört da schon zu den Exoten – nichts für ungut, Ladyatott. Abonnenten kriegen eine Mail, wenn ein neuer Beitrag auf meiner Seite erscheint. Ganz Russland wird nun von automatischen Mails überschwemmt. mail.ru muß sowas sein wie yahoo oder web.de. Ausschließlich kyrillische Zeichen allerdings. Weniger bunt. Man kann sich da ein Postfach holen, alleinerzieher war noch frei. Oben ein Suchfeld. найти – finden. Ein Tolstoi-Zitat im Text und schon wird man im Quelltext-Fundus des Russen-google registriert. Sichert mir ein Millionenpublikum. 居特斯洛 im Text bringt vermutlich den Zugang zu ehrgeizigen Schülern zahlloser Deutschkurse der Volksrepublik China.
Schöne Grüße nach Novosibirsk. Und Shizuishan.
Все счастливые семьи похожи друг на друга, каждая несчастливая семья несчастлива по-своему. Tolstoi. Im Original. Anna Karenina. Die ersten Zeilen. Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich. Ich kann nur diesen einen Satz russisch. Winter 1983. Auf dem Weg von Rumänien nach Polen. Nachts um eins mußte ich im ersten Bahnhof auf der sowjetischen Seite aussteigen. Hatte kein Visum. Man hatte mir gesagt, im betreffenden Zug bräuchte man kein Visum, weil der abgeschlossen einfach durch die Sowjetunion durchfahren würde bis Polen. Habe ich geglaubt. Auch glauben wollen. Ziemlich blauäugig.
Hermann?
Ich heiße nicht Hermann. Könnte aber sein. Meinen Eltern waren alle möglichen denkwürdigen Vornamen für ihre Söhne zuzutrauen. Egal. Hermann sitzt in seinem Sessel und macht nichts. Sitzt da und guckt. Denkt vielleicht was. Im Hintergrund wirkt die Gattin in der Küche, die Tür halb geschlossen, trippelt von rechts nach links.
Ja?
Was machst du da?
Wie meint sie das? Ich sitze da und mache nichts. Denke vielleicht was. Obwohl, denken? Ich habe Bilder vom letzten Ski-Urlaub vor Augen, Vorstellungen von der bevorstehenden Reise nach Neuseeland. Sowas. Ist das denken? Muß ich jetzt darüber reden?
Nichts.
Nichts? Wieso nichts?
Muß ich denn immer was machen? Die ganze Zeit mache ich irgendwas. Arbeiten, Hausaufgaben, Müllrausbringen. Einmal muß auch Pause sein dürfen. Sitzen ohne machen.
Ich mache nichts.
Gar nichts?
Nein.
In zehn Tagen fliegen wir nach Neuseeland. Wir treffen den Erstgeborenen und feiern die Hochzeit von Isabelles und Jéjés Sohn. Wir werden Vulkane sehen, in heißen Quellen am Strand baden, den einen oder anderen Originalschauplatz aus Herr der Ringe besichtigen. Dreitausend Kilometer fahren von Auckland im Norden nach Queenstown im Süden. Die Landschaft wird unglaublich schön sein. Sagen alle, die schon mal dort waren. Ziemlich viel Schafe, ein paar Spuren von Ureinwohnern. Kiwis. Wir werden Bilder davon machen. Mit Landschaft und Schafen. Meine Frau wird Selfies machen. Ich werde lächeln.
Überhaupt nichts?
Nein, ich sitze hier.
Du sitzt da?
Ja.
Aber irgendwas machst du doch?
Nein.
Denkst du irgendwas?
Ich hatte zur Sicherheit doch ein paar Stangen Zigaretten – Kent, die weißen von Kent – mitgenommen. Und ein paar Pfund Bohnenkaffee von Aldi. Gegen Kent, die weißen von Kent, und Kaffeebohnen konnte man im spätsozialistischen Rumänien alles bekommen, was es eigentlich nicht gab. Mädchen würden ihre Unschuld dafür hergeben, hieß es. Mit ein paar Nylonstrümpfen als Zugabe. Ich hatte nie Nylonstrümpfe dabei. Schon weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß die Mädchen, die mich interessierten, für ein paar Schachteln Zigaretten und Nylonstrümpfe zu haben wären. Und die Mädchen, die vielleicht für ein paar Schachteln Zigaretten und Nylonstrümpfe zu haben gewesen wären, interessierten mich nicht.
Nichts besonderes.
Es könnte ja nicht schaden, wenn du mal etwas spazieren gingest.
Nein, nein.
Letztes Jahr reisten unsere Musikerfreunde während der gleichen zwei Wochen Februarferien nach Indien. Zur Einstimmung und Vorbereitung hatten sie sich zu Weihnachten prächtige Bildbände geschenkt und ein paar Reiseführer. Leider wäre die Reise beinahe schon in Paris zu Ende gewesen. Ohne Visa darf man nicht in den Flieger. Sie hatten versäumt, ihre schönen Reiseführer auch zu lesen. Die Kapitel "Praktische Hinweise". Musiker eben. So etwas würde meiner Frau und mir nie passieren. Dachte ich damals noch. Mir vielleicht, nicht meiner Frau.
Ich bringe dir deinen Mantel.
Nein, danke.
Aber es ist zu kalt ohne Mantel.
Im Zug nach Posen bekam die erstbeste Uniform zur Sicherheit ein paar Schachteln Kent. Das war der rumänische Schaffner. Unnötige Verschwendung, dachte ich mir dann. Mein Rückfahr-Ticket erster Klasse Schlafwagen für umgerechnet sechzehn Mark war ohnehin in Ordnung. Zu spät. Mein Abteil war erstaunlich sauber. Und erstaunlich warm. Die Fenster konnte man nicht öffnen. Na also, dachte ich. Stimmt ja wohl mit dem abgeschlossenen Zug durch die Sowjetunion. Nicht wirklich viel später hielt der Zug im Nirgendwo. Ringsum nur Schnee im Mondschein. Wahrscheinlich war das die Grenze zur Ukraine.
Ich gehe ja nicht spazieren.
Aber eben wolltest du doch noch?
Nein, du wolltest, daß ich spazieren gehe.
Ich? Mir ist es doch völlig egal, ob du spazieren gehst.
Die nächsten Uniformen waren sowjetische. Wollten meine Papiere sehen. Ich hatte keine außer meinem Paß, dem Schlafwagenticket und einer selbstgefälschten rumänischen Ausreiseerlaubnis. Personalausweis, Führerschein? Wollten sie nicht. Meine Kaffeebohnen und meine Kent winkten sie routiniert ab. Überzeugte Patrioten. Ich mußte erkennen, daß meine exotische Zigarettenmarke nur in Rumänien Wunder bewirken konnte. Auch meine Camel zum Eigenbedarf konnten das fehlende Transitvisum leider nicht ersetzen.
Gut.
Ich meine nur, es könnte dir nicht schaden, wenn du mal spazieren gehen würdest.
Nein, schaden könnte es nicht.
Meine Frau kann es nur ganz schlecht aushalten, wenn sie alleine "im Haus was machen muß" – Wäsche, wischen, kochen. Als ob ich nie was im Haus machen würde – Wäsche, wischen, kochen. Wenn sie wischt, werde ich meistens dazu angehalten, die Asche aus dem Kamin zu holen oder mich wenigstens um das Mittagessen zu kümmern. Wenigstens. Und wann ich denn mal wieder was schreiben würde in meinem Blog. Mir fällt eben nichts mehr ein. Demenz würde nicht unbedingt zur Krankheit gehören, meint sie. Bradyphrenie aber, erwidere ich. Das Denken geht noch, aber langsamer.
Also, was willst du denn nun?
Ich möchte hier sitzen.
Du kannst einen ja wahnsinnig machen.
Ach.
Im nächsten Bahnhof mußte ich aussteigen. Und saß dann in Was-weiß-ich-wo jenseits der rumänischen Grenze. Den Namen der Station habe ich vergessen, wenn ich ihn überhaupt mal kannte. Wahrscheinlich Cherepkivtsi. Mußte auf den Zug zurück nach Suceava warten. Die riesige Bahnhofshalle war warm, fast zu warm. Ich mußte eine neue Fahrkarte kaufen gegen schöne Dollars zum offiziellen Kurs. Bekam gegen meinen Zwanzig-Dollar-Schein keine Rubel, sondern nur ein paar rumänische Münzen und eine speckige zehn-Lei-Note zurück. Rubel als Wechselgeld würde ich ja ohnehin nicht ausführen dürfen. Lehrgeld. Bis zur Abfahrt meines Zugs zurück hatte ich noch gut drei Stunden zu warten.
Erst willst du spazieren gehen, dann wieder nicht. Dann soll ich deinen Mantel holen, dann wieder nicht. Was denn nun?
Ich möchte hier sitzen.
Und jetzt möchtest du plötzlich da sitzen.
Gar nicht plötzlich. Ich wollte immer nur hier sitzen.
Was willst du eigentlich in Neuseeland, wollte ich von meinem Erstgeborenen wissen. Da gibt's doch nichts außer Schafen, Hobbits und Bungee-Springer. Mein Sohn widersprach ganz entschieden. Die Natur! Ok, das sagen sie alle. Und vor allem, Neuseeland wäre ja auf der Südhalbkugel. Wenn ihr es hier kalt und unangenehm habt, habe ich den schönsten Sommer, warm und Sonne. Südhalbkugel stimmt. Auckland im Norden ist vom Äquator so weit entfernt wie zum Beispiel Tunis. Queenstown im Süden wie Lyon. Der Sommer dort hat jedoch nichts mit dem Sommer von Tunis oder Lyon gemeinsam. Klimamäßig. Eher Dublin oder Helsinki. Unter 25 Grad. Regen jeden zweiten Tag. Von wegen Sommer. Ich glaube, mein Sohn wollte einfach nur ganz weit weg.
Sitzen?
Ich möchte hier sitzen und mich entspannen.
Wenn du dich wirklich entspannen wolltest, würdest du nicht dauernd auf mich einreden.
Ich sag’ ja nichts mehr.
Die Wartezeit störte mich nicht weiter, ich saß ja schön im Warmen und hatte was zu lesen dabei. Anna Karenina. Und kam ins Gespräch mit gelangeweiltem uniformiertem Personal, soweit mein noch sehr kompakter rumänischer Wortschatz das eben zuließ. Wir plauderten über Rumänien, Ceaușescu, das erbärmliche Leben im rumänischen Sozialismus, meine Familie in Deutschland. Und natürlich über Tolstoi.
Jetzt hättest du doch mal Zeit, irgendwas zu tun, was dir Spaß macht.
Ja.
Liest du was?
Die Athmosphäre war nett. Entspannt. Lew Nikolajewitsch Tolstoi gehört zu den größten Schriftstellern aller Zeiten. Wir waren uns einig. Wahrscheinlich war ich der erste Kapitalist, der seit dem Krieg in diesem Grenzbahnhof ausgestiegen war. Einer der Beamten schrieb mir die ersten Zeilen auf russisch in mein Buch. Glaubte ich zumindest. Hat er mir zumindest als den Originaltext verkauft. Aber, wie gesagt, ich war ja blauäugig. Das war dem Personal sicher auch aufgefallen. Will ohne Visum durch die Sowjetunion! Blauäugiger geht ja wohl gar nicht!
Im Moment nicht.
Dann lies doch mal was.
Nachher. Nachher vielleicht.
Hol dir doch die Illustrierten.
Ich möchte erst noch etwas hier sitzen.
Vor ein paar Tagen ist meiner Frau beim Studium der praktischen Seiten des Reiseführers siedendheiß aufgefallen, daß wir für Neuseeland internationale Führerscheine benötigen. Zu unseren deutschen Führerscheinkarten stellt uns das niemand aus. Nicht mal das Konsulat in Marseille kann helfen. Wenn Sie keinen Wohnsitz in Deutschland mehr haben, müssen Sie Ihren deutschen Führerschein gegen einen französischen eintauschen. Und sich dann dazu einen internationalen holen. Geschätzter zeitlicher Aufwand drei Monate. Alternativ dazu reichen auch autorisierte Übersetzungen. In Neuseeland autorisierte Übersetzungen. Die man vor Ort wahrscheinlich innerhalb von ein paar Stunden haben könnte. Man würde Touristen ja nicht mit läppischen Formalitäten vergraulen. Die haben ja nichts außer Schafen, Hobbits und Touristen. Meine Frau wollte es jedoch nicht darauf ankommen lassen.
Soll ich sie dir holen?
Nein, nein, vielen Dank.
Will der Herr sich auch noch bedienen lassen, was? Ich renne den ganzen Tag hin und her. Du könntest wohl einmal aufstehen und dir die Illustrierten holen.
Ich möchte jetzt nicht lesen.
Mal möchtest du lesen, mal nicht.
Der Oberaufseherin im Bahnhof, erkenntlich an mehr Pelz an der Mütze, Sternen auf den Schultern und klischeekonformem Aufseherauftreten, gefiel die offensichtliche Fraternisierung ihres Personals mit dem Eindringling aus kapitalistischem Ausland nicht. Sie verbannte mich in eine immer noch große, aber zugige Vorhalle. Unbeheizt. Kontinentalwinter. Meine rudimentären Russischkenntnisse sind hart erkauft.
Ich möchte einfach hier sitzen.
Du kannst doch tun, was dir Spaß macht.
Das tue ich ja.
Dann quengel doch nicht dauernd so rum. Hermann? … Bist du taub?
Nein, nein.
Все счастливые семьи похожи друг на друга, каждая несчастливая семья несчастлива по-своему – Nieder mit der kommunistischen Partei Rumäniens und dem eingebildeten Schusterlehrling an ihrer Spitze! Hätte auch sein können. 1983 gab es google noch nicht. In diesem Fall hätten im Rahmen einer vorstellbaren Auseinandersetzung mit rumänischen Grenzbeamten meine Kaffeebohnen von Aldi und die exotischen Zigaretten zum schlagenden Argument werden können. Hat aber keiner kontrolliert. Der rumänische Zollbeamte interessierte sich nicht für fremdsprachliche Literatur.
Du tust eben nicht, was dir Spaß macht. Stattdessen sitzt du da.
Ich sitze hier, weil es mir Spaß macht.
Sei doch nicht gleich so aggressiv.
Ich bin doch nicht aggressiv.
Warum schreist du mich dann so an?
ICHSCHREIEDICHNICHTAN!
32 (zweiunddreißig) Stunden dauert die Reise nach Auckland. Vielleicht fällt mir unterwegs was für den Blog ein.
Lauer Frühsommer-Abend. Ich sitze mit meinem Erstgeborenen auf der Terrasse bei einem Glas Wein. Der Rest der Familie ist in der Küche beschäftigt. Dezente Geräuschkulisse, die Tochter erzählt was aus der Reitstunde. Das Leben fühlt sich geradezu entspannt an. Alles ist gut. Plötzlich steht da ein Kollege aus dem Krankenhaus auf der Terrasse. Mit einem selbstgemachten Kuchen in der Hand. Sieht ziemlich improvisiert aus der Kuchen. Gelb. Zitrone vermutlich. Mit einer Zeichnung im Gelben. Und einer Kerze drauf. Ich kann nicht erkennen, was die Zeichnung darstellen soll.
Im SPIEGEL, dessen Printausgabe wir lange abonniert hatten und der uns immer erst Dienstag oder Mittwoch, je nach zentraleuropäischer Feiertagskonstellation auch erst mal Samstag erreichte statt damals eigentlich Montag, in einer der letzten Ausgaben unseres Abonnements, Heft 34 von 2012, ging es um den "Triumph der Unauffälligen – Warum Introvertierte zu oft unterschätzt werden". Ich fühlte mich angesprochen, obwohl ich mir bezüglich der Inhaltsschwere des Artikels keine besonderen Hoffnungen machte. Sommerlochthema. Und: Wer hat mich schon mal unterschätzt? Wann oder wo habe ich triumphiert? Der Artikel fing an mit anderen Introvertierten. Einstein. Schopenhauer. Immerhin. Es gibt sogar Schauspieler, die als introvertiert gelten. Ich bin in guter Gesellschaft. Vielleicht kommt das ja noch mit dem Triumph. Dazu gab es im SPIEGEL einen Test. Eigentlich sehr verdächtig. Psychotests sind mehr das Niveau von Fernsehzeitschriften, von Brigitte, Bunte und Stern. So wegweisend wie Horoskope. Sagt ein Professor aus Berlin bei SPIEGELONLINE. Hätte ich aber auch so vermutet.
Wo kann ich das mal hinstellen? Gefällt mir nicht, dass der da steht mit seinem gelben Kuchen. Was will der hier? Hat den jemand eingeladen? War der nicht überhaupt krankgeschrieben? Und was soll das mit dieser Kerze? Wie nur werde ich den wieder los? Am besten mit seinem Kuchen. Bloß nicht hinstellen! Meinem Sohn fällt auch nichts ein dazu. Grinst nur. Schulterzucken. Er scheint das komisch zu finden.
Der Test des SPIEGEL bestand aus gut dreißig Aussagen, die man als für sich zutreffend ankreuzen konnte. Ich habe diesen Test absolviert. Das Ergebnis war eindeutig. Aussage 3 zum Beispiel: "Meine Gedanken werden mir selbst leichter deutlich, wenn ich sie anderen gegenüber äußere". Erstmal losreden, vielleicht verstehe ich dann, was ich da denke. Nein, ist nicht für mich. Ich kenne solche Leute. Und Leute, die manchmal so sind. Sind oft die selben wie die aus Aussage 7: "Menschen, die schnell reden, strengen mich an". Stimmt. Wer kann Menschen, die ohne Unterlass reden und nicht eine Sekunde zuhören können, schon lange aushalten? Oder Aussage 17: "Ich denke nicht viel darüber nach, was in anderen vorgeht". Kann ich auch nicht ankreuzen. Bei Menschen, die mir nahestehen, ist mir schon wichtig, wie es ihnen geht. Sogar bei Patienten passiert mir das hin und wieder. – Ich habe zielsicher alle fünfzehn Antworten für die Introvertierten als für mich zutreffend empfunden. Für die Autoren des Tests hätte eine Überzahl von drei Aussagen für die Zuordnung gereicht. Immerhin konnte ich zwei Extro-Punkte verbuchen, die mich vermutlich vor einem Status als Autist bewahren. Aussage 5: "Ich handle lieber zügig und 'aus dem Bauch heraus', als lange nachzudenken". Internisten denken gerne mal lange nach und auch Psychiater geben sich eher bedächtig. In der Anästhesie kann man sich langes Nachdenken oft nicht erlauben. Und Aussage 19: "Neue Orte und Umgebungen finde ich anregend". Ist auch zutreffend, solange das nicht zu viele andere Menschen auch finden, Aussage 9: "wenn ich kann, meide ich große Menschenmengen".
Plötzlich ist die ganz Terrasse voll mit Menschen. Alle haben so einen gelben Kuchen in der Hand. Alle mit Kerze. Alle mit Zeichnung in rot. Die Zeichnungen sind Smileys, erkenne ich mit einem Mal. Rote Smileys auf gelbem Grund. Wie wahnsinnig witzig! Und ich soll Humor beweisen, wo ich doch Smileys als unerträglich überflüssig empfinde in ihrer Allgegenwärtigkeit. Bestimmt sind das alles Freunde, denke ich mir, die sich einen Scherz mit mir erlauben. Musik dazu, ziemlich laut. Sie singen "Joyeux anniversaire". Und meinen mich. Überraschungsfete. Jetzt verstehe ich den Hinweis meiner Frau: lass' dich doch einfach mal überraschen. Seigneur Dieu! Bleibt mir denn nichts erspart? Ein Ticket auf die Äußeren Hebriden wäre eine schöne Überraschung gewesen.
Auch bei der ZEIT stößt man immer wieder auf psychologische Inhalte. Psychologie im allgemeinen ist journalistisch ergiebige Thematik. Extroversion gehört zu den Big Five im persönlichkeitspsychologischen Standardmodell. Anfang April schrieb ein Lars Fischer über die Resultate einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe, die den Einfluss der Persönlichkeitsstruktur auf die Toleranz gegenüber mangelhafter Grammatik und Rechtschreibung untersuchte. Menschen, die sich an fehlerhafter oder "unkonventioneller" Rechtschreibung stören, sind wahrscheinlich eher introvertiert. Nicht, dass ich mir meiner orthographischen Kenntnisse felsenfest sicher wäre, aber ich gebe mir Mühe. Mich stören falsch geschriebene Worte. Unter "unkonventionell" versteht die Arbeitsgruppe vermutlich sowas wie Emoticons. Mag ich nicht so. An Fehlern in der Grammatik stören sich eher Menschen tendenziell geringerer Verträglichkeit. Die Verträglichkeit gehört auch zu den Big Five. So richtig gut finde ich falsche Sätze allerdings auch nicht.
Es kommt noch schlimmer, mit einem Mal habe ich ein Mikrofon in der Hand. Ich soll was singen. No me mirès màs. Ein Titel von Kendji, der seit Monaten zehn Mal am Tag im Radio läuft. Karaōke. Der Erdboden soll mich verschlucken, bitte, jetzt! Das schaffst du, Papounet, sagt die Tochter. Sagt sie immerhin auf deutsch. Sonst spricht sie lieber französisch.
05:50 Uhr. Der Wecker. Es hätte wirklich schlimm kommen können.
ich war ja besten Willens, ehrlich, Ihnen doch frühzeitig zu antworten, letzten Donnerstag noch, wohl wissend, daß sich über das Wochenende keine Zeitfenster mehr auftun würden. Aber einerseits wollte ich vorher Ihren Duval – "Mörderische Côte d'Azur" – fertig gelesen haben und andererseits hatte ich schließlich doch noch zu tun in diesem Dienst. Geburtshilfe. Epiduralkatheter. Drei davon, der erste gegen elf, dann noch zwei zwischen Auflösung und Epilog. Am Ende war es halb zwei Uhr nachts, definitiv nicht mehr der Zeitpunkt, was zu schreiben. Höchstens ein kleines Sortiment Emoticons, Erschöpfung zum Beispiel zum Ausdruck bringend. Oder Anerkennung, netter Krimi! Außerdem hatte ich ein ungutes Gefühl zum Geburtsverlauf für zumindet eine der Damen. Fünf Uhr spätestens, war meine Prognose, bekäme die kleine Dicke mit Hohlkreuz aus Saal drei ihren Kaiserschnitt. Am besten also schnell noch was schlafen bis dahin. Manchmal kommt es schlimmer als man denkt. Donnerstag Nacht kam es schlimmer. Erst die aus Saal zwei, weil es dem Baby nicht mehr so gut ging. Die Herztöne. Zu schnell das kleine Herz im Basisrhythmus, zwischendurch zu langsam. Klare Indikation. 03:20 Uhr. Mit dem Gynäkologen von Donnerstag Nacht, Gilles, dem Chef de service, dauert Kaiserschnitt eine knappe Stunde. Einschließlich An- und Abtransport der Dame. Das geht. Andere sind weniger schnell. Danach war auch die kleine Dicke mit Hohlkreuz aus Saal drei soweit. Ganz gut, meine Prognose. Schwacher Trost. Stillstand seit gut zwei Stunden. Auch eine klare Indikation zum Kaiserschnitt. Den Rest des Tages komme ich nach solchen Nächten nicht über den Allgemeinzustand eines Zombies hinaus. Intellektuell gefühlt auf einem Niveau knapp über dem einer Katze zum Beispiel. Reicht für Intermarché, Wäsche falten und Mülleimer rausbringen. Schon Autofahren dabei äußerst risikobehaftet. Am Montag vor den Ferien erst hatte ich das erlebt. Beim Abholen der Kinder von der Schule. Den Kleinwagen vor mir einfach nicht gesehen. Oder schon nach links abgebogen vermutet. Nicht gesehen, daß er stattdessen auf halber Strecke stehen geblieben war. Es war knapp, kein gravierender Schaden. Der Stoßfänger des Kleinwagens einmal über die Länge meiner Fahrerseite geschrammt. Wie auch immer, kein Zeitfenster am Freitag. Katzen oder so schreiben nicht.
Léon, der Kommissar, ist ein netter Typ. Daß die Mutter seiner Kinder Distanz zu ihm schafft, weil er eben diese Kinder glatt zu vergessen neigt, kann man ihr nicht übel nehmen. Neugierig bleibt man am Ende natürlich zur weiteren Entwicklung mit Annie. Abgeschoben ins Hinterland, ist zu befürchten, daß da außer gelegentlichen Intermezzi nichts mehr passieren wird.
Nach dem Epilog kommen in meiner kindle-Ausgabe noch ein paar Seiten Autorin, Katzen, Verlag, Urheberrechte. Und dann kontextuelle Lese-Empfehlungen von Amazon. Der zweite Duval natürlich und, das fand ich wirklich überraschend, eine ganze Sammlung weiterer Südfrankreichkrimis von deutschen Autoren. Eine Seite wie eine bunte Briefmarkensammlung. Es gibt "Provenzalische Geheimnisse" und "Provenzalische Intrige" – warum eigentlich "z" und nicht "ç"? – von Sophie Bonnet, eine "Tödliche Camargue" von Cay Rademacher, "Ein Hauch von Tod und Thymian" von Ignaz Hold. Und so weiter. Vorne drauf durchweg bunte Postkarten-Provence. In jedem Dorf der Provence haben Deutsche ihren Zweitwohnsitz und schreiben Krimis. Ob die alle von ihren Commissaires leben können? Auf der entsprechenden Seite bei Amazon findet man noch viel mehr. Der Frankreichkrimi wird in industriellem Maßstab betrieben. Weitere Autoren, andere französische Regionen. Manche schreiben unter ihrem richtigen Namen, Sabine Grimkowski verwendet ein Pseudonym. Sophie Bonnet ist das Pseudonym "einer erfolgreichen deutschen Autorin". Warum eigentlich Pseudonym? Ist es peinlich, Krimis zu schreiben? Quatsch. Heike Koschyk schreibt eben noch eine andere Kategorie Krimis. Es geht auch um die "Atmosphäre". Sagt sie in einem Interview mit dem NDR. Wahrscheinlich eine Marketing-Empfehlung des Verlags. Vermutlich gar nicht so abwegig. Manch germanischer Klarname, Torsten oder Annegret zum Beispiel, vermag nur wenig frankophilen oder gar mediterranen Flair zu vermitteln. Sophie und Christine machen sich da auf dem Cover besser.
Gerade zurück aus einer guten Woche Urlaub in der Bretagne kaufte sich meine Frau letztes Jahr "Un été à Pont-Aven". Jean-Luc Bannalec. Das klingt echt bretonisch. Ein Krimi passend zu gerade selbst gelebten Eindrücken. Sie war dann ein wenig enttäuscht, als sie der Tatsache gewahr wurde, daß es sich dabei um den ins Französische übersetzten Bestseller "Bretonische Verhältnisse" handelte. Und der Autor eigentlich ein Deutscher in Frankfurt ist. Das meint Heike Koschyk – oder ihr Verlag – wohl mit atmosphärischer Wirkung. "Un été à Pont-Aven" von Jörg Bong hätte meine Frau wohl nicht erworden. Vielleicht nicht einmal "Bretonische Verhältnisse".
Mit dem Pseudonym verhält es sich wohl so wie mit Kinderfilmen und Katzenbildern bei Facebook und Youtube. Bringt mehr Aufmerksamkeit.
Worte sind wie Laub, wo sie im Übermaß sind, findet man selten Früchte darunter. Anton Kner
Für meinen Schwiegervater stellt sein Faxgerät das Maximum an telekommunikativer Hochtechnologie im Haushalt dar. Es gibt kein Internet bei ihm. Keinen Computer. Von einem Handy ganz zu schweigen. Aus Überzeugung. Und der Angst vor erratischer Dysfunktion und damit verbundenen kryptischen Fehlermeldungen. Erratisch dysfunktionelle Kommunikationstechnologie kennt er nur aus seinem Umfeld. Du hast kein was? Kein Netz? Nimm doch das Telefon! Briefe schreibt er auf einer mechanischen Triumph-Adler aus den achtziger Jahren. Meine Frau wünschte, ihn nichtsdestotrotz an meinen Texten aus dem Blog teilhaben zu lassen. Ein Online-Buchdrucker in Berlin gewährt ab 3 (drei) Exemplaren 10 (zehn) Prozent Rabatt. Konnte der Schwabe in mir nicht widerstehen. Narkoseprimat steht vorne drauf als Bezug auf einen Beitrag aus 2015 und mein Name. Dazu das Bild einer Mimosenblüte. Paßt zu Südfrankreich. Taschenbuchformat. Mein Schwiegervater bekam sein Exemplar, meine Eltern eins und die Redakteurin des Upper-Class-Magazins in Nizza. Die restlichen bis auf ein Exemplar gingen später auch nach Schleswig-Holstein. Dort gibt es im Umfeld meines Schwiegervaters noch mehr Senioren, die kein Internet haben.
Er liest jeden Tag darin. Sagt er. Meine Eltern auch. Sagen sie. Sie lesen das wohl so, wie man den Sinnspruch aus einem Kalender liest.
Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und trotzdem den Mund halten. Oscar Wilde
Vor kurzem empfahl mir amazon – warum auch immer – "How to be German in 50 easy steps" von Adam Fletcher. Als Taschenbuch kompakte 144 Seiten. Das Ebook für 3,99 €. Deutsche aus der Sicht eines eingewanderten Engländers. Leipzig oder Berlin, glaube ich. Fünfzig Kapitel. Es fängt an mit Hausschuhen. Deutsche haben Angst vor dem kalten Fußboden. Deutsche versichern alles und bleiben an roten Ampeln stehen. Auch drei Uhr nachts, ganz alleine. Deutsche bringen immer Kartoffelsalat in Tupperdosen mit und sehen "Tatort", ohne zu wissen, warum eigentlich. Sie beziehen ihr Weltbild aus SPIEGEL-ONLINE und verzichten auf diplomatische Verbrämung ihrer Wahrheiten. Das kann man ganz angenehm über ein paar Kapitel lesen. Der Deutsche ist im Tenor immer irgendwie hölzern, eher uncharmant und vorwiegend psychorigide. Ab vier Kapiteln wird das anstrengend.
Wie ein Kalender mit Sinnsprüchen für jeden Tag. Ein Sinnspruch pro Tag reicht. Oder der Narkoseprimat. Ein paar Kapitel pro Tag reichen.
Meine Eltern schlugen vor, die Veröffentlichtung über einen Verlag zu versuchen. Warum auch immer. Weil man vielleicht ein Buch gedruckt haben muß im Leben und einen Baum gepflanzt. Ich habe einen Orangenbaum. Das reicht. Mein Vater würde sich auch um das Marketing kümmern wollen. Mußte ich dankend ablehnen, besser nicht. Nicht nur, aber auch wegen der Spaßkomponente, die ich mir erhalten möchte. Manchmal gerate ich gefühlt schon unter Druck, wenn mir wieder zwei Wochen nichts eingefallen ist. Wenn ich mehr als eine Woche nichts schreibe, guckt außer meiner Frau keiner mehr. Dieser Druck reicht mir schon. Die Spaßkompentene leidet dann. Verlage haben in erster Linie Ansprüche. Und denken zuallerletzt an meinen Spaß. Ein Schulfreund meiner Frau lebt vom Krimischreiben. Nicht schlecht mutmaßlich. Muß aber auch Leseabende in irgendwelchen Gemeindezentren mitmachen und Signierstunden in Buchhandlungen bestreiten. Leseabende! Signierstunden! In Osnabrück. Zum Beispiel. Oder Oer-Erkenschwick. Das muß man wollen, um es gut zu finden.
Nichts bewahrt uns so gründlich vor Illusionen wie jeden Morgen ein Blick in den Spiegel. Aldous Huxley
Ich muß nicht davon leben. Es geht nicht um Geld. Eine Frage auch des Potentials. Des Potentials und der Illusionen wegen, die nicht gerechtfertigt wären. Der Druck bei einem Verlag macht ein Buch nicht zum Bestseller. Marketing ist mühselig. Wenn die "Zeit" mehr von mir wollte, würde ich auch für die "Zeit" schreiben. Meine Inhalte reichen nicht für die Zeit. Reichen auch nicht für eine auflagenstarke Trilogie. Wenn ich den Massengeschmack so zu treffen wüßte wie Joanne K. Rowling oder Suzanne Collins, würde ich sieben Bände Harry Potter schreiben oder ein paar Trilogien. Mein Verlag würde sich um die Übersetzungen ins Finnische und Rumänische kümmern und die Filmrechte nach Hollywood verkaufen. Zur Première würde meine Agentin ein paar Suites in Cannes buchen. Einschließlich Anreise für Familienangehörige. Ich würde später Kapitel meiner Wahl lesen und Bücher signieren. Dann doch. In der Stadthalle von Waldenbuch meinetwegen. Na ja, auch Schwäbisch Hall. Vielleicht sogar Castrop-Rauxel.
"Endokrine Erkrankung des Magen-Darm-Traktes, bedingt durch das Auftreten von bestimmten Pankreastumoren, pankreatischen Gastrinomen. … Leitsymprom ist die charakteristische Trias: exzessive Magenhypersekretion, rezidivierende Ulzera des Magens und gastrinproduzierende Pankreastumoren. … Therapie nur chirurgisch möglich: subtotale Pankreasresektion, Gastrektomie."
Das steht so, leicht gekürzt, in meinem Pschyrembel von 1982. Zum Zollinger-Ellison-Syndrom. Schön gereiftes Medizinerdeutsch. Inhaltlich nicht mehr ganz zeitgemäß. In den Richtlinien zum Probeauftrag heißt es zwar "Unique Content! Der Text darf keinesfalls kopiert oder abgeschrieben sein". Ein bißchen umgeschrieben, in Normaldeutsch gebracht und inhaltlich korrigiert, und sie würden nicht merken, daß es abgeschrieben ist. 1982. Das ist mehr als dreißig Jahre her. Sollen sie erstmal die Quelle finden.
Pardon?
Der Herr in Uniform hatte was gesagt. Ich habe nicht verstanden. Unwilliges Handzeichen in meine Richtung. Irgendwo in Richtung des Transportbands mit meinem Laptop, dem Rucksack und dem Gürtel in Plastikwannen. Stimmt was nicht mit meinem Gürtel? Er könnte ceinture gesagt haben. Er hat sicher nicht Bonjour gesagt. Die Sicherheitskontrolle vor den Gates ist nicht das Umfeld für überflüssige Kommunikation. Eher Handzeichen, Einwortsätze. Wenn überhaupt.
Chaussures!
Er meint meine Schuhe! Ich muß meine Schuhe ausziehen. Wegen der Rasierklingen in den Absätzen! Wie konnte ich das nur vergessen?
Die uniformierten Herrschaften, eine Frau, ein Mann, beide Musterbeispiele robuster Fehlernährung, die jenseits des Metalldetektors warten, mich dabei allerdings nur als die Anzeige über mir wahrnehmen, als rotes oder grünes Licht, sind auch nicht zum Quatschen da. Ich scheine grün zu sein. Und werde im gleichen Bruchteil einer Sekunde unsichtbar. Vermutlich besser so. Mein Bonjour verhallt auch hier ohne erkennbare Reaktion.
Halb sechs ist andererseits nun wirklich nicht die Zeit, zu lächeln oder an einen guten Tag zu denken. Das erste Lächeln ist zum Dienstschluß gegen halb eins zu erwarten. Oder zum diskreten Hinweis auf ein entdecktes Sextoy in der Durchleuchtung. Das Lächeln immer und ausschließlich unter Kollegen, versteht sich. Wiederholtes publikumsgerichtetes Lächeln hat eine handfeste Abreibung in der Umkleide zur Folge. Der Besuch eines Benimmkurses in Eigeninitiative ist ein zwingender Grund für eine fristlose Kündigung.
Möglicherweise ist es eine Zollinger-Ellison-Selbsthilfegruppe, die hier geschlossen Anstellung gefunden hat. Allesamt in akuter Entladung ihres Gastrinoms. Dazu die Tageszeit. Das kann ich verstehen. Zur Péridurale um halb vier kriegen Schwangere und Hebammen auch nur ganz selten ein echtes Lächeln von mir. Geht auch ohne Magengeschwür nicht gut.
Robert M. Zollinger, ein amerikanischer Chirurg schweizerischen Ursprungs, und sein Kollege Edwin H. Ellison beschrieben das Krankheitsbild 1955. Häufig bösartige Tumoren – Gastrinome – meistens in der Bauchspeicheldrüse oder dem Dünndarm, verursachen eine starke Überproduktion von Magensäure. Die viele Säure führt zu chronischem Durchfall, Fettstuhl, Übelkeit, Erbrechen, macht Magen- und Zwölffingerdarm-Geschwüre. Bauchschmerzen. Meist zwischen den Mahlzeiten, oft nachts eben. Na also! Kein Wunder, daß die sich morgens um halb sechs so griesgrämig geben.
In einem Online-Portal für Medizinjobs war ich auf das Angebot gestoßen: Freiberufliche Medizinautoren (m/w) in Homeoffice. Homeoffice könnte mir sehr gut gefallen. Ich sitze im Schatten mit Blick auf Palmen und schreibe medizinische Populärwissenschaft. Super! Ein Online-Dienstleister vergoldet meine Worte großzügig. Auch der Rest der Ausschreibung paßt genau zu mir: ich habe Medizin studiert, schon länger her, aber immerhin, ich kann medizinische Sachverhalte leicht verständlich erklären, sofern ich sie selbst verstanden habe, verfüge über fundierte Kenntnisse der deutschen Rechtschreibung und Grammatik und ich schreibe gerne eigene Inhalte und habe "bevorzugt" bereits erste journalistische Erfahrungen. Letzteres vielleicht nicht, aber ich habe schon in ZEITONLINE veröffentlicht und ich betreibe einen Blog. Das zählt bestimmt auch. Auf meine Mail mit Hinweis auf den Blog kommt umgehend eine Antwort: "Ihr Profil könnte gut zu unseren Anforderungen passen, daher ist Ihre Bewerbung in der näheren Auswahl". Das ist natürlich eine Quatschblase, das ist die Standardantwort. Keiner von denen wird sich in meinem Blog ein Bild von "meinem Profil" gemacht haben.
Für das wirkliche Profil wünschen sie sich eine Probearbeit, abzuliefern als Word-Datei innerhalb einer Woche, "direkt an die Chefredakteurin", Virginia M.. Ich darf wählen zwischen einem Text zu Systemischem Lupus Erythematodes und Zollinger-Ellison-Syndrom. Ein Text zu Definition, Synonymen, Ursachen, Symptomen (ausformulierte Sätze, kein Aufzählungsstil, die einzelnen Symptome im Text fettgedruckt hervorheben), Diagnose, Differentialdiagnose, Therapie. Und all das in vierhundert Worten! Für das Zollinger-Ellison-Syndrom mag das ja noch angehen. Bei komplexeren Exotika wie dem Guillain-Barré-Syndom, nur um ein Beispiel zu nennen, wird das schon knapp. Es gibt noch Hinweise zu häufigen Fehlern. Zahlreiche Hinweise, vor allem: "Unique Content! Der Text darf keinesfalls kopiert oder abgeschrieben sein". Frage ich mich schon: Was kann es in der Medizin noch geben, was nicht schon tausend Mal immer wieder ähnlich geschrieben und abgeschrieben worden ist?
Abschließend drei Zeilen zum Honorar: Nach "erfolgreicher" Probearbeit zahlen sie – zu Beginn – ein Honorar von 1,30 Cent. Je Wort. Eins. Komma. Drei. Null. Cent. Dies sei "stufenweise steigerungsfähig" auf bis zu 4,0 Cent. Je Wort. Vier. Komma. Null. "Je nach Qualität der gelieferten Texte". Okay. Vergolden sieht anders aus. Vierhundert kompakt ausgefeilte Worte, fundiert, verständlich und nicht abgeschrieben! Macht 5,20 Euro, steigerungsfähig bis 16. Sechzehn! Wahrscheinlich inklusive Mehrwertsteuer. Und dafür ohne Urheberrechte. Für 5,20 Euro die Stunde würde man sich ohnehin keinen Anwalt zur Wahrung der Urheberrechte leisten können.
Vermutlich hatte der Redakteur bei der ZEIT solche Angebote vor Augen. Oft wäre das Schreiben sehr frustierend, schrieb er in einer Mail. Wenn man auf das Schreiben zum Broterwerb angewiesen sei.
In der Homeoffice wäre das, auch im Schatten mit Blick auf Palmen, Grund genug für ein Magengeschwür. 5,20 Euro. Und wovon soll ich meine nächste Tankfüllung bezahlen? Nicht unbedingt Zollinger-Ellison-Syndrom, Magengeschwür aber sicher. Was mir seinerseits immerhin das Profil für die Securité im Flughafen von Marseille verschaffen könnte. Vermutlich auch nicht mehr als 5,20 Euro die Stunde.