Hypocrisie

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Wen man nicht so alles Freunde nennt. Jérôme und Isa­belle zum Bei­spiel, Jéjé et Zaza, pour les inti­mes, unter Freun­den. Jérôme war viele Jahre Kapi­tän auf stra­te­gi­schen Atom-U-Boo­ten. Ultra­ge­heim, nicht mal seine Frau wußte, in wel­chem Gewäs­ser der Erde sich ihr Mann gerade auf­hielt. Am Ende sei­ner Kar­riere fast Admi­ral in Brest. Zu sei­nem gro­ßen Leid­we­sen nur fast. Seine Gat­tin kann ihre Genea­lo­gie zurück­ver­fol­gen bis ins elfte Jahr­hun­dert zu Lud­wig VI, dem Dicken. Uradel irgend­wie. Upper­class. Sagt Jéjé. Jéjé emp­fin­det sich und seine Isa­belle als ein­deu­tig upper­class.

Die haben wir vor gut zwei Wochen gese­hen in Paris. Wir haben uns alle über­schweng­lich gefreut über die­ses Wie­der­se­hen anläß­lich des Laufs Paris-Ver­sailles. Wir waren ein­ge­la­den in Jérô­mes und Isa­bel­les Pari­ser Resi­denz im sieb­zehn­ten Arron­dis­se­ment. Ein auf­wen­dig reno­vier­tes Stadt­haus, Kel­ler, Erd­ge­schoß, zwei Eta­gen. Wirk­lich schön gewor­den, geschmack­voll, die Fuß­bö­den knar­ren ein biß­chen zu hef­tig. Vier Zim­mer als Pri­vat­ho­tel, sie selbst woh­nen unter dem Dach. Zaza beauf­sich­tigt Per­so­nal und Früh­stück, Jéjé plau­dert, gerne auch Eng­lisch mit char­man­tem Akzent und auch ein paar Bro­cken deutsch, beant­wor­tet Anfra­gen von Gäs­ten und die net­ten Bewer­tun­gen auf Tri­pad­vi­sor. Die Über­nach­tung war immer­hin kos­ten­neu­tral. Sonst knapp drei­hun­dert Euro die Nacht. War aber sowieso nichts los im Hotel. Jéjé konnte lei­der nicht mit­lau­fen die 16 km von der Tour Eif­fel bis zum Châ­teau de Ver­sailles, wollte eigent­lich, war sogar ein­ge­schrie­ben, konnte aber nicht, weil er sich zwei Wochen zuvor eine Zehe gebro­chen hatte, links. Immer noch ganz geschwol­len und blau. Auf sei­nem Boot sei er aus­ge­rutscht. Sei­nem Segel­boot, zwölf Meter. Daß er es nicht ver­lei­hen würde, ließ er auch gleich durch­bli­cken, weil wir ja keine Ahnung hät­ten vom Segeln. Und von einem wei­te­ren Besuch in der Bre­ta­gne, wo die Yacht liegt, war auch nicht die Rede. Kein Segel­turn auf dem Atlan­tik. Trotz Platz für sechs in dem Kahn. Zwölf Meter, das ist schon nicht schlecht. Nicht mit uns. Lie­ber nicht.

Vor drei oder vier Jah­ren waren wir mit zwei Kin­dern ein­ge­la­den im Zweit­wohn­sitz in La Tri­nité. La Tri­nité ist das Saint-Tro­pez der Bre­ta­gne. Upper­class-Fran­zo­sen aus Paris haben einen Zweit­wohn­sitz in La Tri­nité oder Saint-Tro­pez. Oder bei­des. Dort nen­nen sie einen Neu­bau ihr Eigen­tum, die Lage zwar nicht wirk­lich traum­haft, ohne den Ozean in Sicht­weite, aber mit beheiz­tem Außen­pool, geräu­mi­gen und vie­len Zim­mern. Trotz­dem zu klein für soviele Men­schen über zehn Tage. Der Kram der Kin­der immer wie­der irgendwo, wo er nicht hin­ge­hörte. Kin­der eben. Das mit dem Früh­stück hat­ten sie aller­dings schnell gelernt, die Kin­der. Wie zuhause. Selbst abräu­men. Anders als zuhause aber nur auf der Spül­ma­schine abstel­len. In der Maschine selbst hat­ten sie nichts ver­lo­ren. Spül­ma­schine kann nur Jéjé selbst. Und dann, Tag vier oder fünf des Auf­ent­halts, fiel ihm beim Ein­räu­men eine der Früh­stücks­scha­len mei­ner Kin­der zu Boden. Brüll­an­fall. Wahr­schein­lich hatte er schlecht geschla­fen. Wie er die Schnauze so voll hätte und immer und über­all und was wir uns denn den­ken wür­den und wer wir denn wären. Gar nicht upper­class. Jéjé der U-Boot-Kapi­tän. Blick tief in die Seele, die Wahr­heit hin­ter der Fas­sade. Zehn Minu­ten Wut­krise. Zehn Minu­ten chrono, gefühlt genug für ein gan­zes Leben. Manch­mal kam ich gegen den Sturm zu Wort und es tat mir leid, wirk­lich leid, und Asche auf mein Haupt und wie konnte das nur pas­sie­ren. Jéjé konnte sich hin­ge­gen nicht brem­sen, wie er die Schnauze so voll hätte und immer und über­all und was ich mir denn den­ken wür­den und wer ich denn wäre und nichts tat ihm leid, nicht ein­mal spä­ter mit Abstand und wie­der umgäng­lich. Zehn Minu­ten chrono, gefühlt genug für ein gan­zes Leben. Ich hätte nur zehn Minu­ten gebraucht, all unse­ren Kram und den mei­ner Kin­der – und immer und über­all – im Leiho­pel zu ver­stauen. Nur war meine Frau gerade Shop­pen mit Zaza. Hätte ihr nicht gefal­len, unver­mit­telt in den Opel ein­stei­gen zu müs­sen. Die Tüten voll Shop­ping abstel­len und weg mit dem Opel. Isa­belle konnte ja auch nichts dafür. Also blie­ben wir.

Unver­meid­lich am ers­ten Glas Cham­pa­gner vor gut zwei Wochen die Frage zum Stand der Rei­se­vor­be­rei­tun­gen zur Hoch­zeit des ers­ten Sohns. In Neu­see­land. Die Hoch­zeit von Jérô­mes und Isa­bel­les Sohn fin­det in Neu­se­land statt. Wir sind ein­ge­la­den. Warum auch immer. Viele der ande­ren Freunde kön­nen lei­der nicht kom­men. Einer muß ja kom­men. Der Sohn ist Inge­nieur, mit Schwer­punkt Boots­bau und Innen­ar­chi­tek­tur, nach Pri­vat­schu­len in Eng­land und schließ­lich eben Neu­see­land. Haupt­sa­che weit weg. Dort hat er seine Liebe gefun­den. Wei­ter weg geht nicht. Auf der Liste mei­ner Reis­ziele für die­ses Leben noch, sagte ich, auf der Liste mei­ner Top fifty also, dar­un­ter Island, Sibi­rien, Kasach­stan und die Krim, sogar Nord­ko­rea, käme Neu­see­land glatt auf Platz ein­hun­dert­vier­und­zwan­zig. Lei­der. Schafe inter­es­sie­ren mich nicht so. Und auch nicht die Ori­gi­nal­schau­plätze der Herr-der-Ringe-Tri­lo­gie. Nicht mal die Hoch­zeit des Soh­nes, mit dem ich über die Dauer ihrer Bekannt­schaft Gele­gen­heit für viel­leicht drei­hun­dert gewech­selte Worte hatte, com­ment ça va à l'école, wie geht's in der Schule, nicht mal diese Hoch­zeit brächte Neu­see­land mehr als drei Bonus­punkte. Ô, Bertrâme, là, tu me deçois, rief er aus, da ent­täuscht du mich aber, und ver­passte mir, das macht er gerne und ich hasse das, eine seine Ohr­feig­chen. Kein Schlag ins Gesicht, aber die Hand an mei­ner Wange. Macht er öfter mal, wie als Scherz, manch­mal reicht ein fal­scher Arti­kel, ô, Bertrâme, mit ö am Ende. Das nächste Mal schlage ich zurück oder trete ihm wie aus Ver­se­hen auf sei­nen fau­len Zeh, oh par­don, désolé, ça va? – Ent­schul­dige, tut mir leid, geht's? Bis­her gab ich aller­dings den Klü­ge­ren und schlug noch nicht zurück.

Jéjé holt sich seine Nie­der­la­gen, wie jeder durch­schnitt­li­che Mensch, gele­gent­lich auch alleine, ganz ohne mein Zutun, nun ja, fast ohne mein Zutun. Wich­tig war Jérôme und Isa­belle bei unse­rem Besuch vor gut zwei Wochen ein über­aus posi­ti­ver Kom­men­tar zum Hotel bei "Trip", wie sie sagen, Tri­pad­vi­sor. Von uns bei­den? Ja, von euch bei­den. Den auto­ma­ti­sier­ten Algorhyt­men von Trip gefiel das nicht. Trip ver­mu­tet Beschiß wegen glei­cher IP-Adresse. Löschte unsere über­aus posi­ti­ven Beur­tei­lun­gen und stufte Jéjés Pri­vat­ho­tel von Platz elf auf Platz 25 herab. Panik im sieb­zehn­ten Arron­dis­se­ment, né faî­tes plus rien, sur­tout né faî­tes plus rien. Unter­nehmt nichts mehr, bitte rein gar nichts mehr. Per Mail, per sms, tele­fo­nisch. Erd­be­ben, Panik, das Hotel stürzt ein. Zu spät. Ich hatte es nicht gut gefun­den von Trip, meine über­aus posi­tive Bewer­tung ein­fach gelöscht zu sehen und sie gleich noch­mal geschrie­ben. Zack, Platz 35. Ich könnte ein­fach so wei­ter­ma­chen. Noch fünf Mal und die kön­nen zuma­chen. Das ist bes­ser als jedes Ohr­feig­chen. Und doch so gut gemeint. Ande­rer­seits fast so wir­kungs­voll wie ein Holz­ham­mer auf Jéjés dickem Zeh. Vrai­ment désolé, cher ami, qu'est-ce je pour­rais faire pour t'aider? – Tut mir ja so leid, teu­rer Freund, was könnte ich nur machen für dich?

Hypo­cri­sie, subst., f.. Heu­che­lei, Schein­hei­lig­keit.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Ignoranz

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Ob ich schon wüßte, daß da, wo frü­her die Citroën-Werk­statt war, in der Nähe des Bahn­hofs, daß da jetzt irgendwo eine Moschee sein müßte, natür­lich nicht in den Räum­lich­kei­ten der Garage selbst, son­dern so ein biß­chen ver­steckt dahin­ter wohl, sie wüßte ja nicht, was auf dem Gelände sonst noch so alles wäre. Sie senkt die Stimme, zu einem Flüs­tern fast, als ob sie mir ein Geheim­nis anver­trauen würde, obwohl da nie­mand ist außer ihr, ihrem Mann und mir, auf mei­ner Ter­rasse. Als ob eine Moschee eine kon­spi­ra­tive Ein­rich­tung wäre.

Isa­belle und Fran­cis haben ein paar Bie­nen­stö­cke bei uns auf­ge­stellt. Seit Jah­ren. Sie leben davon, haben acht­zig Bie­nen­stö­cke über das ganze Dépar­te­ment ver­teilt, bis in die Alpen, wahr­schein­lich ein müh­sa­mes Tun. Zum Sai­son­ende brin­gen sie ein Sor­ti­ment aus ihrer Pro­duk­tion, "mei­nen" Anteil als Gegen­leis­tung für die Über­las­sung der Stand­plätze für die Bie­nen­stö­cke. Zehn Sor­ten haben sie inzwi­schen. Unter ande­rem Laven­del­ho­nig, den ich selbst ein biß­chen zu süß finde, Miel des Alpes, Alpen­ho­nig, Sal­bei- und Wie­sen­ho­nig. Miel de Pro­vence natür­lich auch. Das kau­fen die Tou­ris­ten so gerne. Auf meine Ver­mitt­lung konn­ten sie im Früh­som­mer ein paar Stö­cke im Kas­ta­ni­en­wald um Col­lo­briè­res, einer loka­len Hoch­burg der Ess­kas­ta­ni­en­in­dus­trie, plat­zie­ren.

Sie hätte bis­lang nicht gewußt, daß es, sogar bei uns auf dem Dorf, zuge­ge­ben, ein gro­ßes Dorf, schon Moscheen gäbe, wäre sie nicht letz­ten Frei­tag zufäl­lig an der ehe­ma­li­gen Citroën-Werk­statt vor­bei­ge­kom­men wäre. Das muß nach dem Gebet gewe­sen sein, der ganze Hof der Garage voll, bis auf den Bür­ger­steig, voll mit die­sen Män­nern, bär­tig, im Nacht­hemd, ja, sie sagte Nacht­hemd, che­mise de nuit, in grö­ße­ren und klei­ne­ren Grup­pen. Rich­tig erschro­cken wäre sie ange­sichts so vie­ler Män­ner, die da in aller Öffent­lich­keit ihrem Glau­ben folg­ten, und das bei uns im Dorf! Soweit ist es schon gekom­men. Der Gatte dazu, Fran­cis, sonst ein Mus­ter an Elo­quenz in fach­kun­di­ger Aus­kunft zur Imke­rei, hörte nur zu und war­tete ab. Isa­belle, ver­suchte ich sie zu unter­be­chen, ist doch nichts ein­zu­wen­den, wenn…, gar nicht so ein­fach, zu Wort zu kom­men, Isa­belle hatte sich in Fahrt gere­det. Weil man sie, die Män­ner in ihren Nacht­hem­den, den Kopf­be­de­ckun­gen und den Bär­ten über­haupt nicht ver­ste­hen würde, wer weiß schon, was die da reden, wer weiß schon, was denen am Frei­tag erzählt wird. Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Aber diese Regie­rung unter die­sem Prä­si­den­ten wäre ja viel zu schwach, wohin soll das nur füh­ren mit Frank­reich, wenn die jetzt schon Moscheen haben dürf­ten. – Isa­belle, neuer Ver­such in einer ihrer knap­pen Atem­pau­sen, Got­tes­dienst in aller Öffent­lich­keit ist doch in Ord­nung, das ist also von der Gemeinde abge­seg­net. Das wird schon seine Rich­tig­keit haben, wenn sogar Mon­sieur le Maire (poli­tisch dem Gedan­ken­gut der Le-Pen-Dynas­tie nicht abge­neigt) das nicht ver­hin­dert hat… – Jaja, aber das wäre ja sicher nur die Spitze des Eis­bergs. Woher will man denn wis­sen, was es da noch alles gibt außer Moscheen. Und wer weiß schon, was die da reden, wer weiß schon, was denen am Frei­tag erzählt wird.

Miel de châ­tai­gnier, Kas­ta­ni­en­blü­ten­ho­nig, ist mein ein­deu­ti­ger Favo­rit, kräf­ti­ges Blü­ten­aroma, durch den rela­tiv gerin­gen Glu­ko­se­an­teil eher herb, leicht bit­ter. Erin­nert geschmack­lich an Hus­ten­saft, sagen Igno­ran­ten. Kas­ta­ni­en­ho­nig mit aus­ge­präg­tem Aroma ist schwer zu fin­den. Ist wun­der­bar im Tee, in hei­ßer Zitrone, auf fri­schem Baguette mit But­ter. Meine Frau macht Salat­so­ßen damit. Lässt sich aber auch ein­fach so löf­feln wie Nutella. Fran­cis' und Isa­bel­les Ernte Kas­ta­ni­en­blü­ten­ho­nig fiel wider Erwar­ten üppig aus. Fand gro­ßen Anklang auf den umlie­gen­den Märk­ten. Mit viel Mühe konnte ich mir zwei Kar­tons à zwölf 500-Gramm-Glä­sern reser­vie­ren. Das muß rei­chen bis nächs­tes Jahr. Freund­schafts­preis. Ein Kaf­fee viel­leicht? Non, merci, kei­nen Kaf­fee, wir haben gleich noch ein Ren­dez­vous. Ein Glas Was­ser viel­leicht.

Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Das wer­den ja von ganz alleine immer mehr. Und jetzt auch noch diese Flücht­linge, man weiß ja gar nicht, wo die genau her­kom­men und wer da so kommt. Und ob die wirk­lich alle in Gefahr wären, wagte sie zu bezwei­feln, die meis­ten woll­ten wohl doch nur vom fran­zö­si­schen Sozi­al­sys­tem pro­fi­tie­ren, wenn die mit vier, sechs oder mehr Kin­dern kämen. Kom­men zu uns, essen unser Brot. Und zum Dank dafür brin­gen sie uns auch noch um. Fran­cis, der Imker, ver­suchte nun auch, den Rede­schwall sei­ner Frau zu unter­bre­chen, so schlimm wäre es ja nun auch nicht, nicht mal Frank­reich ging es so schlecht, daß wir nicht zurecht­kom­men könn­ten mit den paar Flücht­lin­gen. In Deutsch­land, Fran­cis spielt mir gegen­über gerne auf Deutsch­land an, mit Angela Mer­köhl, wür­den sie ja mit weit­aus mehr Flücht­lin­gen zurecht­kom­men. Und außer­dem müß­ten sie jetzt mal los zu ihrem Ren­de­vous – Jaja, on y va, aber die Deut­schen wür­den schon noch sehen, was sie davon hät­ten. Noch ginge es ihnen, den Deut­schen also, ja viel bes­ser als uns, aber mit die­sen gan­zen Migran­ten würde sich das nicht mehr lange hal­ten. Wer soll denn das bezah­len? Und die wüß­ten ja auch nicht, Angela Mer­köhl und ihre Regie­rung wüßte ja auch nicht, wen sie da alles ins Land lie­ßen. Und was denen so erzählt wird in den Moscheen. Und was die über­haupt unter­ein­an­der reden. Ver­steht ja kei­ner. Natür­lich gäbe es da ver­mut­lich schwarze Schafe, gelang mir ein­zu­wer­fen, und Fran­cis nickte dazu, aber wohl auch nicht mehr als in der nor­ma­len Bevöl­ke­rung. Natür­lich gäbe es da ein Risiko, aber Men­schen in Not müßte man doch hel­fen, es wären ja auch Kin­der dabei. Die könnte man ja nicht alle im Mit­tel­meer absau­fen las­sen. – Ja, genau, Kin­der, das ist auch so ein Pro­blem, einer kommt, man wüßte gar nicht genau woher und warum und wenn er erst­mal hier ist, kommt die ganze Sipp­schaft nach. Und kei­ner von denen arbei­tet. Alles auf unsere Kos­ten. Die meis­ten wären ohne­hin keine Flücht­linge, die aus Marokko und Alge­rien wären ja nicht im Krieg, die wol­len es nur ein­fach bes­ser haben. – Genau, Isa­belle, so wie ich auch, ich wollte es auch nur ein­fach bes­ser haben, ich bin auch nur wegen der Arbeit hier und der Sonne.

Und des Miel de châ­tai­gnier wegen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


Für Aila, Novem­ber-Aus­gabe des Riviera-Maga­zins, gekürzt auf 4.580 Zei­chen:

Ob ich schon wüßte, daß in der Nähe des Bahn­hofs jetzt irgendwo eine Moschee sein müßte, wohl irgendwo auf dem Gelände der ehe­ma­li­gen Citroën-Werk­statt. Sie senkt die Stimme, zu einem Flüs­tern fast, als ob sie mir ein Geheim­nis anver­trauen würde, obwohl da nie­mand ist außer ihr, ihrem Mann und mir, auf mei­ner Ter­rasse. Als ob eine Moschee eine kon­spi­ra­tive Ein­rich­tung wäre.

Isa­belle und Fran­cis haben ein paar Bie­nen­stö­cke bei uns auf­ge­stellt. Seit Jah­ren. Zum Sai­son­ende brin­gen sie ein Sor­ti­ment aus ihrer Pro­duk­tion, als Gegen­leis­tung für die Stand­plätze. Zehn Sor­ten haben sie inzwi­schen. Natür­lich auch Miel de Pro­vence. Das kau­fen die Tou­ris­ten so gerne. Auf meine Ver­mitt­lung konn­ten sie im Früh­som­mer ein paar Stö­cke bei Col­lo­briè­res plat­zie­ren, einer loka­len Hoch­burg der Maro­nenindus­trie.

Sie hätte bis­lang nicht gewußt, daß es sogar bei uns schon Moscheen gäbe, wäre sie nicht letz­ten Frei­tag zufäl­lig da vor­bei­ge­kom­men. Das muß nach dem Gebet gewe­sen sein, der ganze Hof der Werk­statt voll, bis auf den Bür­ger­steig, voll mit die­sen Män­nern, bär­tig, im Nacht­hemd, ja, sie sagte Nacht­hemd, che­mise de nuit, in Grup­pen. Rich­tig erschro­cken wäre sie ange­sichts so vie­ler Män­ner, die da in aller Öffent­lich­keit ihrem Glau­ben folg­ten, und das bei uns im Dorf! Soweit ist es schon gekom­men. Der Gatte dazu, Fran­cis, sonst ein Mus­ter an Elo­quenz in fach­kun­di­ger Aus­kunft zur Imke­rei, hörte schwei­gend zu. Isa­belle, ver­suchte ich sie zu unter­be­chen, ist doch nichts ein­zu­wen­den, wenn…, ver­geb­lich, Isa­belle hatte sich in Fahrt gere­det. Weil man die Män­ner in Nacht­hem­den, mit Kopf­be­de­ckun­gen und Bär­ten über­haupt nicht ver­stünde, wer weiß schon, was die da reden und was denen am Frei­tag erzählt wird. Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Aber diese Regie­rung unter die­sem Prä­si­den­ten wäre ja viel zu schwach, wohin soll das nur füh­ren mit Frank­reich, wenn die jetzt schon Moscheen haben dürf­ten! – Isa­belle, neuer Ver­such mei­ner­seits, das ist doch wohl von der Gemeinde abge­seg­net. Das wird schon seine Rich­tig­keit haben, wenn sogar Mon­sieur le Maire (poli­tisch dem Gedan­ken­gut der Le-Pen-Dynas­tie nahe) das nicht ver­hin­dert hat. – Jaja, aber das wäre ja sicher nur die Spitze des Eis­bergs.

Miel de châ­tai­gnier, Kas­ta­ni­en­blü­ten­ho­nig, ist mein ein­deu­ti­ger Favo­rit, kräf­ti­ges Blü­ten­aroma, durch den rela­tiv gerin­gen Glu­ko­se­an­teil eher herb, leicht bit­ter. Erin­nert geschmack­lich an Hus­ten­saft, sagen Igno­ran­ten. Mit sei­nem aus­ge­präg­tem Aroma ist Kas­ta­nienblü­tenhonig wun­der­bar im Tee, in hei­ßer Zitrone, auf fri­schem Baguette mit But­ter. Meine Frau macht Salat­so­ßen damit. Lässt sich aber auch ein­fach so löf­feln wie Nutella.

Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Und jetzt auch noch diese Flücht­linge, man weiß ja gar nicht genau, wo die her­kom­men und wer das ist. Und ob die wirk­lich alle in Gefahr wären, bliebe zu bezwei­feln, die meis­ten woll­ten wohl doch nur vom fran­zö­si­schen Sozi­al­sys­tem pro­fi­tie­ren, wenn die mit vier, sechs oder mehr Kin­dern kämen. Kom­men zu uns, essen unser Brot. Und zum Dank dafür brin­gen sie uns auch noch um. Fran­cis, der Imker, ver­suchte nun auch, den Rede­schwall sei­ner Frau zu unter­bre­chen, so schlimm wäre es ja nun auch nicht, nicht mal Frank­reich ginge es so schlecht, daß man nicht zurecht­käme mit den paar Flücht­lin­gen. In Deutsch­land, Fran­cis spielt mir gegen­über gerne auf Deutsch­land an, wür­den sie ja mit weit­aus mehr zurecht­kom­men. Jaja, die wür­den schon noch sehen, was sie davon hät­ten. Noch ginge es denen ja viel bes­ser als uns, aber das würde sich wohl nicht mehr lange hal­ten. Wer soll denn das bezah­len? Angela Mer­köhl wüßte ja auch nicht, wen sie da alles ins Land ließe. Und was denen so erzählt wird in den Moscheen. Und was die über­haupt unter­ein­an­der reden. Ver­steht ja kei­ner. Natür­lich gäbe es da ver­mut­lich schwarze Schafe, gelang mir ein­zu­wer­fen, und Fran­cis nickte dazu, und natür­lich gäbe es da ein Risiko, aber Men­schen in Not müßte man doch hel­fen, es wären ja auch Kin­der dabei. Die könnte man ja nicht alle im Mit­tel­meer absau­fen las­sen. – Ja, genau, Kin­der, das ist auch so ein Pro­blem, einer kommt und wenn er erst­mal hier ist, kommt die ganze Sipp­schaft nach. Und kei­ner von denen arbei­tet. Alles auf unsere Kos­ten. Die meis­ten wären ohne­hin keine Flücht­linge, viele wären ja nicht im Krieg, die wol­len es nur ein­fach bes­ser haben. – Genau, Isa­belle, so wie ich auch, ich wollte es auch nur ein­fach bes­ser haben, ich bin auch nur wegen der Arbeit hier und der Sonne.

Und des Miel de châ­tai­gnier wegen.

Und noch wei­ter gekürzt. Ohne Honig. 3.690 Zei­chen. Fände ich schade.

Ob ich schon wüßte, daß in der Nähe des Bahn­hofs jetzt irgendwo eine Moschee sein müßte, wohl irgendwo auf dem Gelände der ehe­ma­li­gen Citroën-Werk­statt. Sie senkt die Stimme, zu einem Flüs­tern fast, als ob sie mir ein Geheim­nis anver­trauen würde, obwohl da nie­mand ist außer ihr, ihrem Mann und mir, auf mei­ner Ter­rasse. Als ob eine Moschee eine kon­spi­ra­tive Ein­rich­tung wäre.

Sie hätte bis­lang nicht gewußt, daß es sogar bei uns schon Moscheen gäbe, wäre sie nicht letz­ten Frei­tag zufäl­lig da vor­bei­ge­kom­men. Das muß nach dem Gebet gewe­sen sein, der ganze Hof der Werk­statt voll, bis auf den Bür­ger­steig, voll mit die­sen Män­nern, bär­tig, im Nacht­hemd, ja, sie sagte Nacht­hemd, che­mise de nuit, in Grup­pen. Rich­tig erschro­cken wäre sie ange­sichts so vie­ler Män­ner, die da in aller Öffent­lich­keit ihrem Glau­ben folg­ten, und das bei uns im Dorf! Soweit ist es schon gekom­men. Der Gatte dazu, Fran­cis, sonst ein Mus­ter an Elo­quenz in fach­kun­di­ger Aus­kunft zur Imke­rei, hörte schwei­gend zu. Isa­belle, ver­suchte ich sie zu unter­be­chen, ist doch nichts ein­zu­wen­den, wenn…, ver­geb­lich, Isa­belle hatte sich in Fahrt gere­det. Weil man die Män­ner in Nacht­hem­den, mit Kopf­be­de­ckun­gen und Bär­ten über­haupt nicht ver­stünde, wer weiß schon, was die da reden und was denen am Frei­tag erzählt wird. Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Aber diese Regie­rung unter die­sem Prä­si­den­ten wäre ja viel zu schwach, wohin soll das nur füh­ren mit Frank­reich, wenn die jetzt schon Moscheen haben dürf­ten! – Isa­belle, neuer Ver­such mei­ner­seits, das ist doch wohl von der Gemeinde abge­seg­net. Das wird schon seine Rich­tig­keit haben, wenn sogar Mon­sieur le Maire (poli­tisch dem Gedan­ken­gut der Le-Pen-Dynas­tie nahe) das nicht ver­hin­dert hat. – Jaja, aber das wäre ja sicher nur die Spitze des Eis­bergs.

Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Und jetzt auch noch diese Flücht­linge, man weiß ja gar nicht genau, wo die her­kom­men und wer das ist. Und ob die wirk­lich alle in Gefahr wären, bliebe zu bezwei­feln, die meis­ten woll­ten wohl doch nur vom fran­zö­si­schen Sozi­al­sys­tem pro­fi­tie­ren, wenn die mit vier, sechs oder mehr Kin­dern kämen. Kom­men zu uns, essen unser Brot. Und zum Dank dafür brin­gen sie uns auch noch um. Fran­cis, der Imker, ver­suchte nun auch, den Rede­schwall sei­ner Frau zu unter­bre­chen, so schlimm wäre es ja nun auch nicht, nicht mal Frank­reich ginge es so schlecht, daß man nicht zurechtkäme mit den paar Flücht­lin­gen. In Deutsch­land, Fran­cis spielt mir gegen­über gerne auf Deutsch­land an, wür­den sie ja mit weit­aus mehr zurecht­kom­men. Jaja, die wür­den schon noch sehen, was sie davon hät­ten. Noch ginge es denen ja viel bes­ser als uns, aber das würde sich wohl nicht mehr lange hal­ten. Wer soll denn das bezah­len? Angela Mer­köhl wüßte ja auch nicht, wen sie da alles ins Land ließe. Und was denen so erzählt wird in den Moscheen. Und was die über­haupt unter­ein­an­der reden. Ver­steht ja kei­ner. Natür­lich gäbe es da ver­mut­lich schwarze Schafe, gelang mir ein­zu­wer­fen, und Fran­cis nickte dazu, und natür­lich gäbe es da ein Risiko, aber Men­schen in Not müßte man doch hel­fen, es wären ja auch Kin­der dabei. Die könnte man ja nicht alle im Mit­tel­meer absau­fen las­sen. – Ja, genau, Kin­der, das ist auch so ein Pro­blem, einer kommt und wenn er erst­mal hier ist, kommt die ganze Sipp­schaft nach. Und kei­ner von denen arbei­tet. Alles auf unsere Kos­ten. Die meis­ten wären ohne­hin keine Flücht­linge, viele wären ja nicht im Krieg, die wol­len es nur ein­fach bes­ser haben. – Genau, Isa­belle, so wie ich auch, ich wollte es auch nur ein­fach bes­ser haben, ich bin auch nur wegen der Arbeit hier und der Sonne.

Ameisenscheiße

Erwar­tungs­druck, tat­säch­li­cher oder ein­ge­bil­de­ter, weiß man das schon genau? Dem­nächst ver­mut­lich Abend­essen, die essen ja so früh in Deutsch­land. Bestimmt war­ten sie unten schon, dabei hätte ich gerne mal ein paar Minu­ten für mich gehabt. Wir sind in Ulm. Bei Ver­wandt­schaft, sie aus Nord­deutsch­land, er schon immer hier in der Gegend. Schwabe, tech­nisch ori­en­tiert, nach einem Bier weni­ger Nerd als man von einem Inge­nieur erwar­ten würde. Sie selbst, Ver­wandte mei­ner Frau, macht was mit Sozi­al­päd­ago­gik, glaube ich, so einer der Berufe, die ich mir in ihren Inhal­ten nicht so rich­tig vor­stel­len kann, Bera­tung, Gespräch, Reinte­gra­tion von Dro­gen­kran­ken. Sie hat­ten den zehn­ten Hoch­zeits­tag letz­tes Wochen­ende, alles im grü­nen Bereich, manch­mal beklagt sie sich dis­kret über den rudi­men­tä­ren Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­darf ihres Gat­ten. Schwabe eben. Inge­nieur. Das redet nicht so viel. Ich mag die bei­den, sonst wäre ich ja nicht hin­ge­fah­ren. Zwei Kin­der, Töch­ter, beide jün­ger als meine, sie­ben und neun. Mein Sohn glatt außen vor, zu klein die Töch­ter. Diese stän­dig im Wett­streit um die Auf­merk­sam­keit mei­ner Toch­ter. Schril­les Zetern, dis­kre­tes Knei­fen und Schub­sen. Mäd­chen eben. Auf dem Pro­gramm das Ulmer Müns­ter, alle 768 Stu­fen, Maul­ta­schen mit Kar­tof­fel­sa­lat von ges­tern, Kar­tof­fel­sa­lat ist am nächs­ten Tag sowieso noch bes­ser, nicht wahr? Blau­topf in Blau­beu­ren. Ça veut dire quoi, blo­topf, fra­gen die Kin­der. Das Blau soll bei Son­nen­ein­strah­lung am bes­ten zur Gel­tung kom­men. Wirk­lich schön. Ganz unwirk­li­ches, fast kari­bi­sches Lagu­nen­blau. Sech­zehn Grad. Man darf nicht rein­sprin­gen. Kin­der sit­zen auf der Absper­rung und sagen Amei­sen­scheiße. Amei­sen­scheiße ver­hin­dert Gri­mas­sen und sieht auf dem Foto aus wie Lächeln. Spä­ter liegt der Topf im Schat­ten. Und das Blau ist noch viel blauer. Ganz ohne Nach­be­ar­bei­tung. Und viel weni­ger Besu­cher.

blautopf-klein

Le soleil s'éclipse der­rière la… – Die Sonne ver­schwin­det hin­ter… – hin­ter was? Zurück aus dem Urlaub. Seit zwei Wochen. Dienst. Kreiß­saal, halb drei Uhr nachts. Beschrif­tete Erst­ge­bä­rende. Der Urlaub schon längst Geschichte.

Ein Bier viel­leicht schon mal? Ja, gerne, ich komme gleich. Voilà, der Erwar­tungs­druck. Spä­ter, nach Mit­ter­nacht, alko­ho­li­siert. Signi­fi­kant. Lei­der. Eigent­lich hätte ich mich gerne mit dem einen Bier schon mal zufrie­den gege­ben. Dann hatte die Gast­ge­be­rin ihren Rot­wein auf den Tisch gebracht. "Ihren" Rot­wein. Was von Rewe. Ich ver­steh' ja nix von Wein, sagt sie, ich geh' da mehr nach dem Eti­kett. Ganz okay eigent­lich der Wein für Ich ver­steh' ja nix von Wein. Das Eti­kett auch okay. Kann ich da Nein sagen? Erwar­tungs­druck. Zum Wein gibt's Foto­bü­cher. Die Hoch­zeit, die ers­ten drei Jahre des ers­ten Kinds, die ers­ten drei Jahre des zwei­ten Kinds. Zwei­hun­dert Bil­der jeweils, unwi­der­steh­li­ches Son­der­an­ge­bot auch von Rewe, glaube ich, oder Aldi. Nett, so Foto­bü­cher. Wenn man sie nicht jeden Tag anse­hen muß. Man­che Sta­tis­ten mir nicht unbe­kannt, Fami­lie im wei­te­ren Sinn immer­hin, man­che davon waren auch schon bei mir auf der Ter­rasse, man­che sogar im Pool, man­che kenne ich vom Namen, meine Frau bei der Hoch­zeit, me mys­elf im Album zu den ers­ten drei Jah­ren des zwei­ten Kinds. Als Sta­tist. Im Hin­ter­grund noch die Pal­men. Auch Geschichte mitt­ler­weile. Und zwei­hun­dert Bil­der zu einer Hus­ky­tour des Gat­ten in Nord­finn­land. Geburts­tags­ge­schenk zum Fünf­zigs­ten. Hus­kies. Schnee­land­schaft. Mit­kämp­fer, Jacob, knapp sech­zig, und vier junge Frauen unter drei­ßig. Jas­mina zum Bei­spiel, erstaun­lich hübsch. Erstaun­lich hübsch für den Kon­text. Hus­ky­tour, wel­che junge Frau unter drei­ßig zieht sich sowas schon rein? In Nord­finn­land. Und Lisa, die Hun­de­füh­re­rin. Bil­der vor­wie­gend von der Schnee­land­schaft und den Hun­den. Nord­licht. Manch­mal Lisa. Wenig Jas­mina. Was aber hätte eine erstaun­lich hüb­sche Jas­mina schon in der Samm­lung von Fami­li­en­al­ben ver­lo­ren? Begleit­text vom Aben­teu­rer. Mor­gens mußte die Hun­de­scheiße auf­ge­sam­melt wer­den. Nicht so schlimm, sagt der Aben­teu­rer. War ja gefro­ren bei minus 17 Grad. Hun­de­scheiße ist gefro­ren nicht so schlimm. Nicht. So. Schlimm.

Zehn Tage Deutsch­land. Ruhr­ge­biet, Schwa­ben, Baden.

Nur einen ein­zi­gen Tag davon hatte ich vor­wie­gend mit den Kin­dern, abge­se­hen mal vom übli­chen Sit­zen abends mit den Gast­ge­bern. Klet­ter­wald in der Nähe von Frei­burg. Klet­tern in Bäu­men, auf Sei­len, wack­li­gen Brü­cken, Seil­rut­schen, Mut­pro­ben, Tar­zan­sprünge von Baum zu Baum, in zehn bis zwan­zig Metern Höhe. Alles natür­lich gesi­chert, immer zwei Haken am Seil, in der Nähe von Frei­burg sogar mit Helm. Fan­den meine Kin­der albern, was soll uns denn hier auf den Kopf fal­len? Haben sie recht. In Deutsch­land ist eben alles noch ein biß­chen siche­rer. Zum Abschluß Bag­ger­see unter­halb des Kai­ser­stuhls. Wun­der­bar tür­kis­far­be­nes Was­ser, fast klar, viel­leicht zwan­zig Grad, eher frisch. Hier darf man rein­sprin­gen. Sogar die Toch­ter kann das, obwohl sie das gar nicht gerne macht, wenn sie den Grund nicht sieht, so klar und in gerade Bah­nen auf­ge­teilt wie in der piscine.

Spä­ter wie­der sit­zen am Bier. Mit dem Gast­ge­ber und der Gat­tin. Der drit­ten. Das wech­selt immer wie­der mal. Alle fünf bis zehn Jahre. Die aber wird blei­ben, ver­mute ich. Das passt schon. Bio-Ver­käu­fe­rin, erwach­sene, auto­nome Kin­der außer Haus. Und sie kann mit dem Chaos des Gast­ge­bers leben. Mit dem dschun­gel­ar­ti­gen Gelände hin­ter dem Haus. An man­chen Stel­len fin­det man angeb­lich Melo­nen, auch Boh­nen und Salat, sogar Toma­ten soll es irgendwo geben. Mit­ten­drin eine Sitz­gruppe. Die Plat­ten, Natur­sand­stein, krea­tiv ver­legt, ein biß­chen uneben. Jeder Stuhl wackelt. Macht nix. Die Gat­tin kann auch damit leben, daß seine Woh­nung aus­sieht wie eine Bau­stelle. Nichts ist wirk­lich fer­tig. Seit Jah­ren. Jahr­zehn­ten. Nichts funk­tio­niert wirk­lich. Was­ser­hähne mit dem war­men Was­ser auf der fal­schen Seite. Offene Steck­do­sen. Und, sagt die Gat­tin, angeb­lich hat sie vor­her was auf­ge­räumt, nor­ma­ler­weise lägen Klei­dungs­stü­cke über­all herum, Hem­den, Socken, Unter­ho­sen, wo sie ihm eben gerade vom Leib fal­len. Macht dich das nicht wahn­sin­nig? – Noi, i mach des gern. – Häh? Gerne? Das meinst du nicht wirk­lich. – Doch, doch, Wäsche mache ich gerne. Ich lasse jetzt mal den star­ken schwä­bi­schen Akzent der Gat­tin weg. Waschen, auf­hän­gen, bügeln, fal­ten und am Ende ist alles schön ordent­lich im Schrank gesta­pelt. Das schön ordent­lich Gesta­pelte befrie­digt sie. Der Weg dahin macht ihr Freude. Ich erin­nerte mich, daß sie mir das schon mal erzählt hatte. Ihre Schränke sehen tat­säch­lich auch von innen so aus. Und die des Gast­ge­bers auch, übri­gens. Gebü­gelt, gesta­pelt. Obwohl die Woh­nung sonst nicht so aus­sieht, als wäre da kurz vor­her mal jemand durch­ge­gan­gen. Bau­stel­len eben, offene Steck­do­sen, teil­ver­leg­tes Par­kett, Licht­schal­ter mit­ten im Durch­gang auf dem Boden. Die Gat­tin, ursprüng­lich nur Mie­te­rin im Haus, hat ihre eigene Woh­nung oben behal­ten. Da ist alles tip­top. Mal abge­se­hen vom Was­ser­hahn im Bad mit dem Warm auf der fal­schen Seite. Mög­li­cher­weise kann sie den tech­ni­schen und orga­ni­schen Dschun­gel in den Räum­lich­kei­ten ihres Gat­ten nur so, aus siche­rem Rück­zugs­ter­rain, aus­hal­ten.

Von der Mitte des lin­ken Schul­ter­blatts in Tief­blau­grau und schlei­fi­ger Schrift im Bogen bis in den Nacken. Mehr zum rech­ten Ohr hin. Le soleil s'éclipse der­rière la… – das letzte Wort ver­schwin­det unter der Kopf­haube. Wäh­rend der Anlage mei­nes Peri­du­ral­ka­the­ters bin ich immer wie­der ver­sucht, einen Blick unter diese Kopf­haube zu wer­fen, um eben die­ses letzte Wort, der­rière was denn, zu erfah­ren. Bestimmt irgend­was wahn­sin­nig Phi­lo­so­phi­sches, joie viel­leicht oder beauté. Ich hätte mich bücken müs­sen und das hätte irgend­wie blöde aus­ge­se­hen in den Augen der Heb­amme und des Man­nes zur Gebä­ren­den mir genau gegen­über. Mit ste­ri­lem Hand­schuh den Rand der Haube mal eben anhe­ben geht natür­lich auch gar nicht.

Abends fiel die Fami­lie fran­zö­si­scher Freunde mei­ner­seits im Dschun­gel ein. Musi­ker im Orches­ter der Oper von Tou­lon. Künst­ler mit der Men­ta­li­tät dazu. Auf eine Stunde hin oder her kommt es nun wirk­lich nicht an. Fran­zo­sen. Auf einen Tag? Es wurde dann wirk­lich spät, nach neun, die Gast­ge­be­rin müh­sam kom­pen­siert. Unver­kenn­bar unter­zu­ckert. Der Deut­sche sitzt um sie­ben Uhr am Tisch. Und hat Hun­ger. Unsere fran­zö­si­sche Fami­lie hin­ge­gen hatte bis zum Vor­abend nicht ver­in­ner­licht, daß unser Ren­dez­vous für den Mitt­woch Abend geplant war. Seit Wochen geplant. Immer wie­der nach­ge­fragt, bleibt es dabei? Immer wie­der bestä­tigt. Mer­credi soir?Oui, mer­credi soir. Und nicht etwa Don­ners­tag. Für jeudi war Europa-Park geplant. Kein Ver­hand­lungs­spiel­raum mei­ner­seits, weil unser Rück­flug ab Basel für den Abend gebucht war. Mitt­woch Mor­gen befand sich die Fami­lie zwar bereits auf dem Rück­weg einer Nor­we­gen-Reise, aber noch irgendwo nörd­lich von Kopen­ha­gen. Kopen­ha­gen! Sie hat­ten ursprüng­lich geplant, sogar noch einen Abste­cher nach Leip­zig zu machen. Leip­zig! Mitt­woch. In die Stadt von Bach. Johann Sebas­tian. Da woll­ten sie als Musi­ker was besich­ti­gen. Und dann erst wei­ter nach Stutt­gart. Europa-Park ist doch irgendwo in der Nähe von Stutt­gart? Ja, schon, irgendwo in der Nähe. Für jeman­den, der gut fünf­tau­send Kilo­me­ter nach einem Taschen­at­las in drei Wochen fährt, ist der Europa-Park nur einen Kat­zen­sprung von Stutt­gart ent­fernt. So muß­ten sie, ganz über­ra­schend, von jen­seits von Kopen­ha­gen bis fast Frei­burg fah­ren. Drei­zehn Stun­den. Die Kin­der hin­ten ken­nen das. Span­nung dabei bis auf die letz­ten Kilo­me­ter. Haben sie die sms mit der Weg­be­schrei­bung bekom­men, neh­men sie jetzt die rich­tige Abfahrt? Hek­ti­sche Tele­fo­nate ab halb neun, nein, nach der Ampel nicht links, son­dern rechts. Die Gast­ge­be­rin am Rande eines Ner­ven­zu­sam­men­bruchs, hung­rig, i ess jetz. Käs'schbätzle. Machen sie immer, wenn ich zu Besuch bin. Und nur das. Kein Entrée, kein Salat, kein Nach­tisch. Fran­zo­sen haben andere Vor­stel­lun­gen von einem Dîner. Die Käs'schbätzle aber selbst geschabt. Sehr schön mit Zwie­beln. Nicht mal Kaf­fee. Wenn die Käs'schbätzle weg sind, auf'gesse, ist das Dîner zu Ende. Ein Bier viel­leicht noch. Um zehn mußte ihnen der Gast­ge­ber die Woh­nung im Dorf zei­gen. Zoig dene doch mol die Zim­mer. Damit war der Abend offi­zi­ell zu Ende. I muss jetz' schlofa. Und weg. Un peu rus­tique fan­den die Musi­ker das alles. Das Dorf, die Woh­nung, den Gar­ten. Das Dîner. Rus­tique. Stimmt schon. Wel­ten pral­len auf­ein­an­der.

Ein paar Tage frü­her ganz am Anfang mei­nes Urlaubs, waren wir in Bochum. Das Ruhr­ge­biet zeigte sich von sei­ner schöns­ten Seite. Sonne und Grün. Es gibt einen Stau­see, viel­be­such­tes Nah­erho­lungs­ge­biet, die Was­ser­qua­li­tät reicht noch immer nicht zum Schwim­men. Frü­her, also Ende des zwei­ten Jahr­tau­sends gab es zwei Wege um die­sen Stau­see, einen für die Fuß­gän­ger, einen für die Rad­fah­rer. Rich­tig schön war damals, früh mor­gens, vor der Arbeit noch, also deut­lich vor sie­ben, Früh­ne­bel über dem Was­ser, Hasen und Rehe auf den Wie­sen, per Inli­ner um den See zu fah­ren. Knapp 10 km. Meist fast alleine. Das gehört zu den Din­gen, die mir wirk­lich feh­len in Frank­reich. Der Stau­see, der Früh­ne­bel, das Inli­nen um den See. Spä­ter am Tag war man schon weni­ger alleine. Und ent­we­der wurde man von Fuß­gän­gern blo­ckiert oder von Rad­fah­rern weg­ge­klin­gelt. Eher aggres­si­ves Ambi­ente. Mitt­ler­weile gibt es einen drit­ten Weg, fast durch­ge­hend, für die Inli­ner. Dort waren wir mit Freun­den und ihrem Sohn. Ein­mal um den See. Sehr anstren­gend. Für mich. Den Kin­dern war keine Anstren­gung anzu­mer­ken. Wahr­schein­lich liegt es an man­geln­der Übung mei­ner­seits. Oder an mei­ner Aus­rüs­tung, zwan­zig Jahre alt. Was ist denn mit dir los, frag­ten die Freunde am Ende, so kaputt, wie du aus­siehst. Ob ich nicht mal mein Herz unter­su­chen las­sen wollte. Keine Lip­pen­zya­nose aller­dings, muß­ten sie zuge­ben, kein Hin­weis auf ein aku­tes, lebens­be­droh­li­ches Pro­blem. Kaputt eben. Die Räder dre­hen sich nicht mehr rich­tig an mei­nen Schu­hen. Rutscht ihr doch erst­mal zehn Kilo­me­ter auf abge­brauch­ten Rädern! Zuhause woll­ten sie trotz­dem mei­nen Blut­druck mes­sen. Nor­mal der Blut­druck. Der Freund, auch vom Fach, wollte mich abhö­ren. Eine Klap­pen­in­suf­fi­zi­enz viel­leicht oder eine Stenose. Viel­leicht eine Aor­tenisth­muss­tenose. Wieso aus­ge­rech­net Aor­tenisth­muss­tenose? Ist das nicht was Ange­bo­re­nes? Egal, Aor­tenisth­muss­tenose am eige­nen Ste­tho­skop hätte dem Kol­le­gen beson­ders gut gefal­len. Er hat aber nichts gehört, der Kol­lege. Keine Stenose, keine Insuf­fi­zi­enz. Weil da nichts ist. Ich habe nichts am Her­zen. Kaputte Räder, das ist alles.

So eine Péri­du­rale dau­ert viel­leicht zehn Minu­ten vom Des­in­fi­zie­ren des Bereichs unten am Rücken bis zum Ver­band. Nach dem Ver­band kommt die Haube ab – Le soleil s'éclipse der­rière la… lune. La lune! Ent­täu­schend, ich hatte mir was Kom­ple­xe­res erhofft, was Über­ra­schen­de­res, was Phi­lo­so­phi­sches, mehr jeden­falls als ein­fach nur den Mond. Aber was soll man schon erwar­ten bei einem Tat­too? Was kann man schon bei einem Publi­kum erwar­ten, wel­ches sich mit Schrift­zü­gen ver­sieht? Die Sonne ver­schwin­det also hin­ter dem Mond. Son­nen­fins­ter­nis auf dem Rücken einer Erst­ge­bä­ren­den. Voilà, was sonst?

Im Schwä­bi­schen bei einem Bru­der und sei­ner Frau. Unsere Eltern zum Gril­len. Das reicht denen. In der Kürze liegt die Würze. Ein­mal Gril­len mit dem Sohn aus Frank­reich pro Jahr reicht. Die Schwä­ge­rin hat zur gro­ßen Freude der Toch­ter zwei Hunde. Einer davon hat es mit dem Frau­chen dazu auf den vier­ten Platz der deut­schen Meis­ter­schaft gebracht in Agi­lity und Obedience. Wenn der zuviel rennt mit mei­ner Toch­ter, kommt er ins Schnau­fen und muß Pause machen. For­dert die Schwä­ge­rin. Bestimmt Aor­tenisth­muss­tenose. Und die Toch­ter war­tet brav, bis der Hund nicht mehr hechelt. Dür­fen wir jetzt wie­der spie­len?

Zwi­schen­durch tou­ris­ti­sche Ein­la­gen. Fern­seh­turm in Stutt­gart, Auf­zug sechs Sekun­den mit ange­trun­ke­nem Fahr­stuhl­füh­rer. Ohne Hund. Spa­zier­gang im Schön­buch, mit Hund. Die Kin­der ken­nen Wald, wie er wirk­lich ist, nur von Besu­chen in Deutsch­land. Schwim­men in einem Bag­ger­see im Neckar­tal. Zu spät aller­dings für Früh­ne­bel und Rehe. Des Bru­ders Elek­tro-Spiel­zeug beschleu­nigt zwar in drei Komma neun Sekun­den von Null auf Hun­dert, der Navi aber braucht google zum Den­ken. Ohne Funk­netz gerät der Wagen direkt in eine google-Wüste. Der Natur­park Schön­buch macht google-Wüste auf den Touch­screen. Weg der Bag­ger­see. Zu spät am See zum Schwim­men unter Früh­ne­bel. Zu trüb das Was­ser außer­dem und zuviele Schwäne und Enten sagt die Toch­ter. Trop chou, zu süß, zwar, die Canar­deaux, die klei­nen Ent­chen, aber zuviele. Und stel­len­weise schwimmt Scheiße in klei­nen Inseln. Enten­scheiße.

Ein paar Minu­ten nach dem Ste­chen die Erfolgs­kon­trolle. Fast halb vier. Ça va mieux? Geht's bes­ser? – Ça va. Es geht. – Est-ce que ça va mieux? Ist es denn bes­ser jetzt? – Ça va. Es geht. – Was eigent­lich ist unklar an mei­ner Frage? Geht's bes­ser ist eine klas­si­sche Ja-Nein-Frage. Aus mei­ner Sicht. Oui oder Non, allen­falls noch un peu mieux, ein biß­chen bes­ser, wären zuläs­sige Ant­wor­ten mit einer Péri­du­rale neu im Rücken und Wehen im Bauch. Ça va, es geht, passt da nicht wirk­lich als Ant­wort. Ich muß es anders ver­su­chen: Est-ce que vous avez moins mal? Haben Sie weni­ger Schmer­zen? – Beau­coup moins, merci, doc­teur! Viel weni­ger, danke, Herr Dok­tor! Na also, geht doch. Ich ver­mute fun­da­men­tale Men­ta­li­täts­un­ter­schiede. Meine Gene­tik gereicht mir nicht zum Fran­zo­sen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Zombies

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Letz­ten Frei­tag nach dem Dienst ähnelte mein Zustand dem eines Zom­bies. Untot. Intel­lek­tu­el­les Zwerg­ha­sen-Niveau, geeig­net maxi­mal zur Bewäl­ti­gung von Klein­bau­stel­len. Klein­bau­stel­len sind Bau­stel­len im und ums Haus, deren Bewäl­ti­gung weni­ger als einen hal­ben Tag bean­spru­chen. Vor­aus­sicht­lich. Zwi­schen den aktu­el­len Klein­bau­stel­len hatte ich immer­hin Zeit, mit mei­nem Sohn zu Mit­tag zu essen. Mein Mit­tag­essen war das Früh­stück mei­nes Sohns. Hast du was vor heute Abend? Er hat oft was vor abends. Heute Abend Bar-à-Thym in Tou­lon. Mit Fla­vie, Mar­got und Tho­mas. Die Bar muß so eine Art In-Kneipe sein im Upper­class-Vier­tel, nicht weit vom Stadt­strand, mit Live-Musik manch­mal, hält sich schon seit ein paar Jah­ren. Und das trotz Tages­zei­tungs-fähi­gen Pro­tests der Anwoh­ner. Obwohl das bei Var matin, der regio­na­len Tages­zei­tung, noch gar nichts hei­ßen mag, die brin­gen jedes Thema auf die Titel­seite. Heute, Mon­tag, hat es eine Schild­kröte auf Seite eins geschafft. Beim Eier­le­gen am Strand. Vor Le Lavan­dou oder Fréjus, glaube ich. Innen noch eine wei­tere Dop­pel­seite dazu. Eine Bio­lo­gin, Sido­nie, kommt zu Wort, nor­ma­ler­weise schwimmt diese Sorte Schild­krö­ten zur Eiab­lage nach Grie­chen­land, wahr­schein­lich ist der Kli­ma­wan­del schuld. Zu Wort kom­men auch Anwoh­ner, Madame und Mon­sieur Jouan­neau, mit Bild, er im Karo­hemd, ganz ver­zau­bert von soviel Natur­wun­der vor der eige­nen Haus­tür.

In die umstrit­tene Kneipe ging schon der große Bru­der gerne mit sei­nen Copains. Jetzt, wo die Copains weg sind aus der Gegend, geht er nur noch ganz sel­ten in die Stadt. Dafür der jün­gere Bru­der um so öfter. Erst Bar-à-Thym und dann Über­nach­ten bei uns zuhause. Aha, Über­nach­ten bei uns, sehr inter­es­sant! Das ist mal was Neues. Über­nach­ten mit Fla­vie, Mar­got und Tho­mas. An wel­che Zim­mer er denn da dächte. Obwohl, so genau will ich das eigent­lich gar nicht wis­sen, wie die­ses Über­nach­ten wirk­lich aus­se­hen soll, auch die Mäd­chen sind immer­hin voll­jäh­rig. Ich wün­sche mir nur, daß es nicht so spät würde und bitte so leise wie mög­lich, immer­hin hätte ich ja Dienst gehabt und wäre bis zwei Uhr nachts unter­wegs gewe­sen. Mit zudem unan­ge­nehm kräf­te­rau­ben­der Zwi­schen­mensch­lich­keit zum Per­so­nal der Ambu­lanz. Mor­gen früh würde ich gerne ein biß­chen Rad­fah­ren. Früh. Heute würde ich also gerne früh schla­fen gehen. Und das Châ­teau, das wüßte er ja, sei sehr hell­hö­rig. Des­we­gen leise, bitte. So leise wie mög­lich. Non-non-non, pas de pro­blè­mes, sagt der Sohn, das käme ihnen allen ent­ge­gen, am nächs­ten Mor­gen woll­ten sie früh raus, so früh wie mög­lich eben, nach einem Abend in der Bar, weil sie ins Hin­ter­land fah­ren woll­ten, Cas­cade de Sil­lans. Ob es da über­haupt noch genug Was­ser gibt für den Was­ser­fall und das Becken dar­un­ter ange­sichts der anhal­ten­den Tro­cken­heit, frage ich mich, sage es aber nicht laut, denn, wenn man da erst­mal einen Zwei­fel säht, kippt womög­lich das ganze Pro­jekt. Früh ins Bett, so früh wie mög­lich, trotz Bar-à-Thym.

Es muß so gegen Mit­ter­nacht gewe­sen sein, ich hatte gerade was im kindle zu Ende gele­sen, Bov Bjerg, "shoo­ting star" bei ama­zon, Die Moder­ni­sie­rung mei­ner Mut­ter, kleine Geschich­ten, mir gefällt der Stil. Kaum war das Licht aus, ging die Fête los. Face­book-Fête wohl, kommt alle zu mir, nur mein Vater ist zuhause, egal, der wird nichts sagen. Etwas kurz­fris­tig, des­we­gen nur die zwan­zig bes­ten Freunde. Kichernde, krei­schende Mäd­chen, bol­lernde Jungs-Bässe, laut­star­kes Plan­schen am Pool. Immer­hin nur wenig Musik. Kichernde, krei­schende Mäd­chen, bol­lernde Jungs-Bässe, laut­star­kes Plan­schen am Pool rei­chen aber. Ab und an geht einer auf Toi­lette. Oder pol­tert durchs Trep­pen­haus. An Schlaf nicht zu den­ken. Däm­mern wie untot. Ich gebe mich trotz­dem cool, ich muß ja nicht immer alles ver­bie­ten, halte still, lange kann es ja nicht mehr dau­ern, sie wol­len ja früh raus mor­gen, so früh wie mög­lich, die Cas­ca­des von Sil­lans. sms 4:47 Uhr, dann doch, lass' es doch bitte ein Ende haben nun, lie­ber Sohn. Keine Reak­tion. Muß ich jetzt wirk­lich auf­ste­hen, mich anzie­hen, den uncoo­len Alten spie­len? Und die gan­zen Jun­gen gucken mich ange­wi­dert an? Viel­leicht erst noch ein Ver­such mit dem Tele­fon? Mess­a­ge­rie. Zwei­ter Ver­such. Wie­der Mess­a­ge­rie. Beim drit­ten Mal ant­wor­tet er dann doch. Täte ihm leid, sagt er, so wäre das nicht vor­ge­se­hen gewe­sen.

Halb sechs end­lich Ruhe. Da däm­mert es schon. Die geplante Tour über den Faron auf sie­ben Uhr kann ich mir abschmin­ken. Das wird noch ein zwei­ter Zom­bie-Tag. Gut für Klein­bau­stel­len nied­ri­gen intel­lek­tu­el­len Anspruchs.

8:29 Uhr. An einem Sams­tag Mor­gen ist das ein guter Moment, mit der Trenn­scheibe Beton zu sägen. Schon lange pro­kras­ti­nierte Klein­bau­stelle. Lei­der auf der Süd­seite des Châ­teaus. Oben schla­fen die Mäd­chen und die Jungs. Tut mir wirk­lich leid. Wirk­lich. Dau­ert eine Stunde höchs­tens. Aller­höchs­tens. Ihr woll­tet doch ohne­hin früh auf­ste­hen, so früh wie mög­lich eben nach einem net­ten Abend im Bar-à-Thym, ihr woll­tet doch an die Cas­cade von Sil­lans, oder? Kurz nach zehn drei Zom­bies am Früh­stücks­tisch, unge­duscht knab­bern sie was von Kellogg's oder Nestlé, mein Sohn in Sport­hose, nack­ter Ober­kör­per, die Mäd­chen nicht mehr so hübsch und schlecht fri­siert. Zom­bies. Tut ihm schreck­lich leid für ges­tern Abend, sagt der Sohn. Schreck­lich. Mar­got ist déso­lée. Vrai­ment. Fla­vie sagt gar nichts, stumme Küß­chen. Schmoll' doch. Tho­mas und die ande­ren sind offen­bar doch noch nach Hause gefah­ren. Die Ande­ren, wel­che Ande­ren? Soviel Geräusch? Zu viert? Wow!

Die Cas­cade fällt aus. Nicht mal Strand geht mehr. Auch Zom­bies müs­sen mal was schla­fen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Insel im Sturm

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Vor ein paar Tagen bin ich extra früh auf­ge­stan­den, um noch ein biß­chen Rad zu fah­ren, also, eben mehr als ein biß­chen nur, mehr als die zehn Kilo­me­ter plat­tes Land zum Kran­ken­haus. Wegen der Hitze geht das nur früh mor­gens. Und ab und zu muß, um in Form zu kom­men, schon auch mal ein biß­chen Stei­gung sein. Um Tou­lon haben wir drei Berge, Mont Caume, Faron und Coudon. Ambi­tio­nierte Ama­teure fah­ren die drei mal eben an einem guten Vor­mit­tag ab. Ambi­tio­nierte Ama­teure fah­ren übri­gens ohne Unter­wä­sche. Zumin­dest die aus mei­nem Umfeld. Sagen die. Ich weiß aber nicht, was das bringt. Soweit bin ich noch nicht. Ich fahre auch nur einen der Berge zur Zeit. Wobei ich den Mont Caume noch nie in Angriff genom­men habe. Mein Lieb­lings­berg ist der Faron, weil die Straße von einem zum ande­ren Ende eine Ein­bahn­straße ist. Kein Gegen­ver­kehr. 520 Höhen­me­ter. Der Coudon ist ein biß­chen höher, 650 Meter, oben ist was Mili­tä­ri­sches, man darf nicht ganz rauf. Mor­gens fährt man immer­hin ange­nehm im Schat­ten. Lei­der Sack­gasse. Poten­ti­ell also mit Gegen­ver­kehr. So früh kommt da natür­lich kei­ner run­ter. Aber erstaun­lich viele fah­ren rauf. Beim Run­ter­fah­ren auf der schma­len Straße macht poten­ti­el­ler Gegen­ver­kehr Angst. Da war ich also vor ein paar Tagen. Auf dem Coudon. Abfahrt zuhause 6:04 Uhr. Oben um 7:21 Uhr. Das ist nicht wirk­lich schnell. Weiß ich. Wurde dann auch ein biß­chen knapp fürs Kran­ken­haus. Zumal ich dann ja auch noch duschen mußte. Defi­ni­tiv.

8:25 Uhr. Toben­der Chir­urg in der Umkleide vor der Dusche. David B. Ich habe ihn, trotz lau­fen­der Dusche, schon von wei­tem gehört, ihn und einen mei­ner Kol­le­gen, frag' doch Bertram, wenn dir was nicht passt. Aber der duscht gerade. Drei Sekun­den spä­ter stand er brül­lend in der Umkleide, rief nach mir, Bertram, rüt­telte an der Tür zur Dusche. Kann ich nicht gut haben, auch wenn ich spät dran bin. David B. ist all­ge­mein als connard klas­si­fi­ziert. Arro­gant und, lei­der, in sei­nen hand­werk­li­chen Fähig­kei­ten nicht gerade begabt. Arro­gant ginge ja noch durch, wenn er wenigs­tens gut wäre, also hand­werk­li­ches Geschick bewiese, nett oder zumin­dest kom­pe­tent wäre zu Pati­en­ten und so. Ist er aber nicht. Nicht mal nett zu Pati­en­ten. Und immer, oft, geht irgend­was dane­ben. Häu­fig muß er mehr­fach ope­rie­ren, weil es im ers­ten Ver­such beim bes­ten Wil­len nicht reicht. Des­we­gen steht er häu­fig alleine da. Und muß schreien, weil ihm kei­ner hilft. Kei­ner wollte seine Pati­en­tin mit kaput­ter Hüfte für die­sen Mor­gen neu­lich betäu­ben. Die Labor­werte stimm­ten nicht. Zu anämisch. Waren sich die Anäs­the­sis­ten offen­bar einig. Gibt es auch ganz sel­ten, diese Einig­keit unter den Anäs­the­sis­ten. Gegen David B. leich­ter mal. Die Frau hätte bes­ser vor­be­rei­tet sein müs­sen, wenn man sie halb­wegs unbe­scha­det durch die OP brin­gen wollte. David B. hätte sich um eine kleine Trans­fu­sion küm­mern müs­sen. War ihm nicht so wich­tig. Chir­ur­gen wird oft unter­stellt, es ginge ihnen nur um ihre Ope­ra­tion. Ist lei­der häu­fig was dran. David B. gehört ganz klar zu die­ser Sorte. Damit ist meine Pati­en­tin lei­der mal bar­rée, mit die­sem Chir­ur­gen. Schlechte Kar­ten. Unter der Dusche kann ich dir sowieso nicht hel­fen, laisse-moi tran­quille, con­nard, laisse-moi trois minu­tes!

Gut drei Stun­den spä­ter war die Pati­en­tin soweit. So rich­tig schlimm wurde es schließ­lich nicht. Wir hat­ten genug Blut auf Lager, das Blut­bad zu kom­pen­sie­ren.

Spä­ter, im Dienst, mußte ich lange war­ten auf die Über­nahme einer Pati­en­tin aus den Urgen­ces, der Ambu­lanz. Das kann ganz lange dau­ern und man weiß gar nicht warum. Hätte ich hin­ge­hen kön­nen und mal ein biß­chen Druck machen. Kol­le­gen von mir machen das gerne, Druck machen in den Urgen­ces. Frü­her, wäh­rend mei­ner ers­ten Monate in die­sem Kran­ken­haus, stürmte auch ich gele­gent­lich brül­lend die Urgen­ces. Blitz­an­griff. Wut­an­fall, wenn wie­der ein Uralt-Pati­ent mit einer Aldi­tüte voll Medi­ka­men­ten auf die Sta­tion kam ohne aktu­elle Blut­ana­lyse, EKG und Rönt­gen­auf­nahme. Blut­ana­lyse, EKG und Rönt­gen­auf­nahme sind ganz klar Auf­gabe der Urgen­ces. So war das frü­her in Deutsch­land und das ist eigent­lich auch so in Frank­reich. Nor­ma­le­ment. Ins­be­son­dere bei Alten mit einer gan­zen Aldi­tüte voll Medi­ka­men­ten ist das hilf­reich und nett. Damit der Anäs­the­sist sich früh­zei­tig eine Vor­stel­lung vom Zustand des Pati­en­ten im Gan­zen machen kann. Da hat wie­der einer geschla­fen, wenn das nicht gemacht ist. Oder keine Lust gehabt. Brül­len in den Urgen­ces, vor Publi­kum, Schwes­tern, Ärz­ten, Pati­en­ten, Ange­hö­ri­gen. Egal. Wut. So geht das gar nicht, so kann ich nicht arbei­ten. Das nächste Mal kriegt ihr den Pati­en­ten zurück, bis das ver­dammte EKG geschrie­ben ist. Bor­del à cul de pompe à merde! Das gilt als über­aus häß­li­cher Fluch. Bringt aber nichts. Im Gegen­teil. Die gucken alle nur gelang­weilt. Das ken­nen sie schon. Der zustän­dige Kol­lege ist gerade im Ein­satz auf der Straße. Und die Schwes­ter dazu unauf­find­bar. Oder, bes­ser noch, kei­ner weiß, wer die Schwes­ter dazu ist. Oder war. Ist immer so. Der zustän­dige Kol­lege ist immer gerade im Ein­satz auf der Straße und kei­ner will wis­sen, wer die Schwes­ter dazu ist. Und wenn man sei­nen Auf­tritt als Sturm­bann­füh­rer – Ach­tung, schnell, schnell, der böse Deut­sche im Film sagt immer und unsyn­chro­ni­siert Ach­tung, schnell, schnell – hatte, geht es extra lang­sam wei­ter.

Kein Brül­len mehr also. Hof­fen auf Wun­der. Zum Hof­fen auf ein Wun­der las ich den drit­ten Krimi von Chris­tine Cazon, "Stür­mi­sche Côte d'Azur". Sonst sind Kri­mis nicht so mein Ding, ganz ehr­lich, die von Chris­tine Cazon lese ich gerne, schon weil sie in der Gegend spie­len. In Can­nes. Lebens­nah. Über Hof­fen und Lesen muß ich irgend­wann ein­ge­schla­fen sein. Bei gut 63%. Mein kindle spricht nicht von Sei­ten, er spricht von Pro­zen­ten. Eigent­lich abar­tig im Zusam­men­hang mit Büchern. Ein­ge­schla­fen nach einer Szene Zwei­sam­keit im Forst­haus auf der Insel im Sturm. Der Kom­mis­sar und Alice, die kna­ckige Kell­ne­rin, leicht alko­ho­li­siert. Wor­auf war­ten die bei­den noch? Statt­des­sen schickt der Kom­mis­sar die Kell­ne­rin ins Bett, alleine! Natür­lich, in Wirk­lich­keit, wäre das anders, wis­sen wir. Rausch der Sinne. Die ganze Nacht. Bis in die Mor­gen­däm­me­rung. Statt­des­sen Aspi­rin? Quatsch. So spröde kann der Kom­mis­sar gar nicht sein. Fran­zose. Auf der Insel. Da muß der Fran­zose in echt nicht lange über­le­gen. Das aber kann man ver­mut­lich der Laven­del-Frak­tion der Lese­rin­nen nicht zumu­ten.

Mein kindle schlug irgend­wann mit­ten in der Nacht auf dem Boden neben mei­nem Bett auf. Davon war ich wach­ge­wor­den. Wenig spä­ter hatte meine Pati­en­tin auch den Weg in meine Abtei­lung gefun­den. Papier­kram, The­ra­pie­plan. Eine Stunde spä­ter war ich wie­der im Bett. Konnte aber bis zur Dank­sa­gung hin­ten im Krimi nicht mehr ein­schla­fen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Sommerloch

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Bei Zeit Online ges­tern ein Arti­kel über eine Petra Hinz von der SPD. Bun­de­tags­ab­ge­ord­nete aus Essen. Hat sich einen wun­der­ba­ren aka­de­mi­schen Hin­ter­grund zurecht­ge­ba­selt. Jura. Alles gelo­gen. Hat nicht mal Abitur. Nun ist sie den Job los. Das ist die Gefahr im jour­na­lis­ti­schen Som­mer. Wahr­schein­lich wer­den da Prak­ti­kan­ten auf die Sei­ten des Bun­des­tags ange­setzt. Schau' doch mal, was du da so fin­dest. Unge­reimt­hei­ten im Bun­des­tag sind fast so gut wie ein Kom­men­tar zum Dik­ta­tor in der Tür­kei oder amok­lau­fende Migran­ten.

Mir will für den Blog auch nichts rech­tes ein­fal­len. Ein Test viel­leicht zu fran­zö­si­schen Sprach­kennt­nis­sen. Es geht um das Geschlecht der Worte im Fran­zö­si­schen. Nicht immer ein­deu­tig, manch­mal anders als man erwar­ten würde. Den Klas­si­ker kennt jeder: Le soleil, männ­lich für die Sonne, weib­lich. Und la lune, weib­lich, für den Mond, männ­lich.

20 Fra­gen. Viel Spaß dabei!

Bonne journée

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04:51 Uhr am Mon­tag. Die Schwes­ter lässt über eine Hilfs­kraft aus­rich­ten, daß es Mon­sieur Z. in Zim­mer zwei nicht so gut ginge, ich möge doch bitte mal kom­men. Eigent­lich sollte ich da noch im Wochen­ende sein um 04:51 Uhr. Lan­ges Wochen­ende sogar nach dem Dienst am Don­ners­tag. Kaum aber saß ich am Frei­tag Mor­gen im Auto, die Schranke zum Park­platz gerade aus dem Rück­spie­gel ver­schwun­den, der Him­mel groß und blau über mir, ein gan­zer Tag für mich alleine, ein lan­ges Wochen­ende, über­mor­gen mit der Fami­lie an den Lac de Sainte Croix, kam der Anruf.

Mein Tele­fon kannte die Num­mer nicht, aber ich hätte die Num­mer erken­nen müs­sen. Bloß nicht ran­ge­hen. Bes­ser noch das Tele­fon im Kran­ken­haus ver­ges­sen. Ver­wal­tung, Affai­res médi­ca­les. Das kann nichts Gutes bedeu­ten. Madame P. teilte mir mit, daß der Kol­lege für den Sonn­tag krank sei. Schlag­ar­tig war meine Laune unter den Gefrier­punkt gefal­len. Klar, auf was das hin­aus­läuft. Ob ich nicht den Dienst über­neh­men könnte, fragte sie, sachant – wis­send! Woher soll ich das wis­sen? -, daß der eine Kol­lege, der in Frage käme, gerade einen Todes­fall in der Fami­lie gehabt hätte, die andere Kol­le­gin zur Fort­bil­dung in Paris weile. Und Pas­ca­line, die dritte Kol­le­gin? Nein, die hätte sie nicht gefragt und würde sie auch nicht fra­gen, die wäre ja ohne­hin so krank. Ich könne sie ja selbst fra­gen. Und appel­lierte an mei­nen Team­geist, esprit d'équipe, sagte sie. Ärgerte mich, die­ser Appell an mei­nen Team­geist, weil sie genau weiß, daß jeder in mei­ner Abtei­lung in ers­ter Linie an sich selbst denkt. Fran­zo­sen eben. Einer für alle, alle für einen gibt es nur in net­ten Legen­den von frü­her. Ich ärgerte mich auch, daß diese Kol­le­gin so geschont wer­den soll. Ist gut zehn Jahre jün­ger als ich, arbei­tet nur zu 80 Pro­zent, vier Tage pro Woche, macht einen ein­zi­gen Dienst pro Monat. Wenn über­haupt. Und so krank kann sie auch wie­der nicht sein, wenn man ihren Erzäh­lun­gen aus ihrer Frei­zeit Glau­ben schenkt. Kommt eben von einer Insel und hat die Süd­see-Men­ta­li­tät bei­be­hal­ten. Team­geist?

Warum sie das dann als Frage for­mu­liert hätte, ob ich den Dienst über­neh­men könne, mit der Andeu­tung von Optio­nen mei­ner­seits, die ich ja wohl nicht hätte, abge­se­hen von einer Wun­der­hei­lung des Kol­le­gen. Na ja, esprit d'équipe, wie­der­holte Madame P., Team­geist, als ob der Begriff an sich eine schlüs­sige Erklä­rung beinhalte. Sie müßte ande­rer­seits ver­ste­hen, daß die­ses Wochen­ende unser ein­zi­ges gemein­sa­mes wäre für den gan­zen Monat, für meine Frau und mich, und ich würde mir schon eine krea­ti­vere Lösung wün­schen, ob denn nicht jemand vom gro­ßen Kran­ken­haus nebenan ein­sprin­gen könnte, wo wir doch ohne­hin zusam­men­ar­bei­ten sol­len auf Wunsch des gemein­sa­men Direk­tors. Nein, nein, so ein­fach, von einem auf den ande­ren Tag, ginge das natür­lich nicht. Sie würde sich es ja schon ein biß­chen leicht machen, meinte ich und fühlte über­bor­dern­den Zorn auf­schäu­men, bei admi­nis­tra­ti­ven Fra­gen wäre es offen­bar nicht so weit her mit ihrem esprit d'équipe. Schade fände ich das, wo das Pro­jekt der Zusam­men­ar­beit mit dem gro­ßen Kran­ken­haus so neu nun auch nicht wie­der wäre. Ganz erstaunt inner­lich, daß meine Sätze trotz aller Wut immer noch funk­tio­nier­ten, daß ich, ohne ins Stot­tern zu gera­ten, immer noch pas­sende Worte fand in Madame P.s Spra­che, redete ich mich immer wei­ter in Rage. Ärger­lich sei, ergänzte ich, daß ich nun aus­ba­den solle, daß das Pro­jekt der Zusam­men­ar­beit auf admi­nis­tra­ti­vem Niveau offen­sicht­lich nicht voran käme, qu'on a laissé traî­ner depuis des mois, sagte ich wört­lich. Ich ärgerte mich wirk­lich, so oft wird es Akti­vi­tä­ten in der gan­zen Fami­lie nicht mehr geben, wenn der Große erst­mal in Neu­see­land ist. Viel­leicht könne sie ja doch noch mal ein biß­chen nach­den­ken, viel­leicht doch – bei allem Ver­ständ­nis für die Krank­heit – die arme Pas­ca­line fra­gen oder ihren Direc­teur. Schwei­gen am ande­ren Ende. Bin ich in ein Funk­loch gera­ten? – Âllo?Vous me voyez sans voix. Madame P., Affai­res médi­ca­les, gab sich ganz sprach­los ange­sichts so her­ber Kri­tik, wünschte mir einen schö­nen Tag und legte auf. Wow.

Diplo­ma­tie liegt mir nicht so. Egal. War ohne­hin nichts zu gewin­nen.

Am Ende konnte der kranke Kol­lege doch immer­hin den Tag über arbei­ten, bis halb sie­ben immer­hin. Und wir konn­ten an den See fah­ren. Pick­nick auf den Kies­bän­ken im Ver­don ober­halb des Stau­sees. Weit genug jen­seits einer Kette von Bojen mit Ver­bots­schil­dern an den Ufern, die vor ein paar Jah­ren instal­liert wur­den. Damit "nicht zuviele" Tou­ris­ten soweit den Fluß hin­auf­pad­deln, sagt der Boots­ver­lei­her. Pas trop. Ita­lie­ni­sche Tou­ris­ten, Hol­län­der, Deut­sche und Eng­län­der las­sen sich von sowas beein­dru­cken. Ein­hei­mi­sche natür­lich weni­ger. Wer soll das schon über­wa­chen? Zum Abschluß des Aus­flugs ein Bier für die Gro­ßen, Eis für die Klei­nen im Restau­rant eines Cam­ping­plat­zes hoch über dem See. Gehört auch dazu. Seit gut zwan­zig Jah­ren. Immer wie­der schön.

04:57 Uhr. Zim­mer zwei. Der Blut­druck ist in Ord­nung, die Puls­fre­quenz, der Sauer­stoff im Blut. Die Daten auf dem Moni­tor über Mon­sieur Z.s Bett geben kei­nen Anlaß zur Beun­ru­hi­gung. Ja, täte ihr irgend­wie leid, sagt Amé­lie, die Schwes­ter, jetzt wäre wie­der alles gut. – Na, muß dir ja nicht leid tun, ist doch schön, wenn wie­der alles gut ist!

Bonne jour­née!


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Muttertag

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Gar­ten, wenn da einer ist ums Haus, ist natür­lich schön, auch weil er die Nach­barn auf Distanz hält, so wie der Pool, auch schön. Die Arbeit daran, an Gar­ten und Pool, damit sie auch so schön blei­ben, würde ich aller­dings gerne dele­gie­ren kön­nen. Für Per­so­nal aber reicht das Bud­get defi­ni­tiv nicht.

Wir hat­ten mal einen Gärt­ner, Fabien, der nur die Pal­men beschnei­den sollte. Die wach­sen hier wie Unkraut und brei­ten sich offen­bar über ihre Wur­zeln aus. Wo sie sich mal einen Weg gebahnt haben, kriegt man sie nicht wie­der weg. Wenn sie mal groß sind und in Grup­pen ste­hen, sieht es nett aus. Man muß aller­dings alle Jahre wie­der die alten Blät­ter unten abschnei­den, damit es nett und wie Pal­men aus­sieht. Ist ein unan­ge­neh­mer Job, weil die Blatt­stiele dor­nen­be­wehrt sind. Fabien sollte sams­tags kom­men, gerne regel­mä­ßig, für 12 Euro die Stunde. Oder 15, weiß ich nicht mehr genau. Kam mit einer Art Jeep und einem klei­nem Anhän­ger dran. Den Anhän­ger brau­chen Sie nicht, sagte ich ihm gleich, das Grün­zeug kann da wei­ter hin­ten zum Ver­bren­nen im Herbst abge­legt wer­den. Hat ihm gar nicht gefal­len, am liebs­ten wäre er wohl direkt wie­der ver­schwun­den, konnte man ihm anse­hen. Er ver­suchte dann noch, mich dar­auf­hin­zu­wei­sen, daß das Ver­bren­nen von Grün­ab­fäl­len seit 2011 ver­bo­ten wäre – nor­ma­le­ment. Weiß ich, erwi­derte ich, ich hatte davon gele­sen in der Wochen­schrift der Gemeinde, wenn ich aber alle meine Grün­ab­fälle ein­mal durch die Stadt fah­ren wollte, wäre ich Wochen damit beschäf­tigt. Ums Ver­bren­nen würde ich mich dann schon selbst küm­mern, da könne er beru­higt sein.

Und, wozu sind wir denn in Frank­reich? Nor­ma­le­ment fin­det immer Anwen­dung, wenn es eine Regel gibt oder ein Gesetz und man auch davon weiß. Oder wis­sen könnte. Wenn das Gesetz oder die Regel aber wirk­lich unan­ge­nehme Kon­se­quen­zen in der Umset­zung hat, hält man sich erst mal nicht daran, so wenig wie alle ande­ren eben, und stellt sich dumm, wenn man doch erwischt wird. Nor­ma­le­ment beschreibt die Option auf die indi­vi­du­elle Aus­nahme. Das funk­tio­niert meis­tens, weil die Ein­hal­tung von Regeln und Geset­zen mit wirk­lich unan­ge­neh­men Kon­se­quen­zen nur spo­ra­disch kon­trol­liert wird. In Deutsch­land gibt es auch viele Regeln und Gesetze. Viel­leicht noch mehr als in Frank­reich. Wie die zum Baum umsä­gen viel­leicht, um im Gar­ten zu blei­ben. Ver­bo­ten von Februar bis Okto­ber. Ansons­ten geneh­mi­gungs- und mel­de­pflich­tig. In Deutsch­land aber gibt es mei­nes Wis­sens kein nor­ma­le­ment. Oder ganz wenig. Wenn Sie einen Baum über 15 Meter ohne Geneh­mi­gung umsä­gen, und zudem viel­leicht auch noch im April, krie­gen Sie Ärger. Und das ganz sicher. In Frank­reich ist das Nor­ma­le­ment all­ge­gen­wär­tig. Und gilt ganz klar auch für das herbst­li­che Ver­bren­nen von Grün­zeug.

Zu Mit­tag fuhr Fabien nach Hause, kam um zwei wie­der, ohne Anhän­ger dann und ließ sich einen Scheck für drei Stun­den geben. Für den Nach­mit­tag hatte er lei­der, ganz über­ra­schend, andere Ver­pflich­tun­gen. Mut­ter­tag mit maman oder so. Mut­ter­tag! Den Sams­tag dar­auf hatte er einen gärt­ne­ri­schen Not­fall! Was auch immer das sein mag. Dann lag er arbeits­un­fä­hig dar­nie­der. Lum­bago. Fabien hatte sich wohl vor­ge­stellt, sein Anhän­ger­chen mit dem Grün­zeug von einer oder zwei Pal­men voll­zu­pa­cken und damit zur kom­mu­na­len Déchet­te­rie – Wert­stoff­hof – zu fah­ren. Sams­tag Vor­mit­tag! Sams­tag Vor­mit­tag sind sie alle dort mit ihren Anhän­ger­chen. Bug­sie­ren sie im Rück­wärts­gang an den Con­tai­ner, machen sie sonst nicht so oft, sieht man, fin­den ihre Arbeits­hand­schuhe, lösen die Spann­gurte und lee­ren den Anhän­ger Zweig um Zweig. Grün­zeug-Schlange bis weit auf die Straße. Sehe ich manch­mal. Die Hob­by­gärt­ner in Grup­pen plau­dernd zwi­schen ihren Fahr­zeu­gen. Coo­ler Job.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Claire

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Die Kas­sie­re­rin wünscht mir einen schö­nen Tag. Danke, Ihnen auch, Méla­nie. Méla­nie ist Kasse 3 bei Déc­a­th­lon. Kas­sie­re­rin­nen mögen das, wenn man sie auch mal als Mensch wahr­nimmt. Wahr­schein­lich sind sie des­we­gen auch meist beschrif­tet. Méla­nie ent­lockt das ein Lächeln. Immer­hin. Mein Tag würde bestimmt schö­ner wer­den als ihrer, sagt sie. Klar, es ist Fei­er­tag und Méla­nie hat ihren lan­gen Tag heute. Sie muß blei­ben bis 16:15 Uhr. Zu spät für Strand. Muß ich sie jetzt bedau­ern? Ich könnte sie pro­blem­los über­trump­fen. Mein Tag ist erst mor­gen früh gegen neun zu Ende. Will sie aber ver­mut­lich nicht wis­sen. Bön cou­rage, Méla­nie.

Viel frü­her schon hatte ich Clau­dia am Tele­fon, Vier­tel vor acht. Das mag ich nicht so gerne, mein Dienst fängt erst um halb neun an. Clau­dia ist Heb­amme. Und Elsäs­se­rin. Aus einem Dorf nicht weit von Col­mar. Das Elsaß ist eine Region, die im Laufe der letz­ten Jahr­hun­derte den ver­schie­dens­ten natio­nalen Ein­flüs­sen unter­wor­fen war. Schweiz, Deutsch­land, Frank­reich. Alle woll­ten was von ihnen und scho­ben sie hin und her. Das zeich­net so einen Men­schen­schlag bis in die Gene­tik. Sie tra­gen die Ver­an­la­gun­gen dreier Natio­nen in sich. Im Schlech­ten und ver­mut­lich auch im Guten. Clau­dia lächelt sel­ten. Sie ist gene­tisch mehr auf der unan­ge­neh­men Seite gelan­det. Auf der dunk­len Seite. Der mit der Gründ­lich­keit der Deut­schen, der Uner­bitt­lich­keit der Schwei­zer und der Anma­ßung der Fran­zo­sen. Clau­dia will mich zum Stand der Dinge im Kreiß­saal infor­mie­ren. Als ob mich das inter­es­sie­ren würde. Schon gleich gar nicht um Vier­tel vor acht. Clau­dia lässt sich in ihren Aus­füh­run­gen nur schwer unter­bre­chen. Da kommt die Uner­bitt­lich­keit so ein biß­chen durch. Okay, ich mag Clau­dia nicht so gerne. Viel­leicht ein­fach nur per­sön­li­che Vor­be­halte. Isa­belle oder Lae­ti­tia wären mir lie­ber gewe­sen. Als Heb­am­men für den Tag.

Eine Stunde spä­ter, Vier­tel vor neun. Der Ortho­päde hat einen kaput­ten Ober­schen­kel zu ope­rie­ren. Teil­pro­these. Doc­teur B. zieht die Kom­mu­ni­ka­tion per sms dem per­sön­li­chen Gespräch vor. Finde ich etwas merk­wür­dig. Wann er ope­rie­ren könne. Zehn Uhr, schreibe ich ihm. Das passt zum Fei­er­tag und läßt mir noch ein paar kleine Spiel­räume. Déc­a­th­lon eben. Die haben auch kei­nen Fei­er­tag. Frü­her, im Kran­ken­haus des nord­öst­li­chen Ruhr­ge­biets, war eine Zeit­an­gabe der Zeit­punkt für den Beginn des Ein­griffs. Zehn Uhr hieß "Schnitt" um zehn Uhr. Alles fer­tig für den Auf­tritt des Chir­ur­gen. Schla­fen­der Pati­ent, ver­klei­dete Schwes­tern und Assis­ten­ten, das OP-Feld ste­ril. Das erfor­dert einen Vor­lauf von einer guten hal­ben Stunde. In Süd­frank­reich heißt zehn Uhr, man sollte es gegen zehn Uhr nicht mehr weit bis zum Park­platz haben. Nach einer Runde Kaf­fee der Anruf auf der Sta­tion: bringt uns doch mal bitte die Teil­pro­these. Schnitt gegen elf. Bis Frau C. aus dem Auf­wach­raum wie­der auf dem Weg in ihre Sta­tion ist, wird es pro­blem­los halb zwei Uhr nach­mit­tags. Dann könnte ich noch­mal ver­schwin­den.

Zuhause gibt es mas­sen­weise Bau­stel­len, die auf mich war­ten. Ganz aktu­ell der Pool. Pool? Alle haben hier einen Pool. Viel­leicht nicht alle hier, aber die meis­ten aus dem Kran­ken­haus­um­feld. Ver­mut­lich sogar der Bran­car­dier – der Prit­schen­schie­ber, der die Pati­en­ten in ihren Bet­ten von Sta­tion in den OP und wie­der zurück schiebt. Weil der jeman­den kennt, der Bag­ger und Last­wa­gen fährt, weiß, wo man den Aus­hub unauf­fäl­lig depo­nie­ren kann und sich das Becken eben selbst mau­ert, pas de pro­blème. Das Grund­stück mit dem Haus drauf aus der Fami­lie und sowieso deut­lich grö­ßer als die Hand­tuch­par­zel­len in Deutsch­land. Das Was­ser im Pool ganz legal und kos­ten­güns­tig direkt aus dem Canal de Pro­vence. Ein biß­chen Rich­tung Saint-Anto­nin-du-Var viel­leicht, tiefs­tes Hin­ter­land, aber egal. Auch dort gibt es schöne Anwe­sen mit Aus­sicht. Natür­lich ahnt auch der Prit­schen­schie­ber nicht von Anfang an, wie­viel Auf­wand so ein Pool wirk­lich mit sich bringt.

Ich hatte vori­gen Sams­tag Syl­vain da. Syl­vain ist der Spe­zia­list für alles, was die piscine betrifft, den Pool. Syl­vain ist der pisci­niste. Er hat mir nicht nur ein paar Rohre neu geklebt, son­dern auch den Fil­ter mit neuem Sand befüllt. Den alten Sand hat er, neben­bei bemerkt, nicht, wie ich mir das gewünscht hätte, mit­ge­nom­men und irgendwo unauf­fäl­lig ent­sorgt, son­dern nicht wirk­lich dis­kret im Umfeld des Pools ver­teilt. Mit Abstri­chen muß man auch beim Spe­zia­lis­ten leben. Ich habe noch kei­nen Hand­wer­ker ohne Abstri­che erlebt. Mit vier­hun­dert Euro recht güns­tig ande­rer­seits. Sonst zahle ich jedem Hand­wer­ker Son­der­ta­rife. Auf­schläge. Aus­län­der-Auf­schlag, Dok­tor-Auf­schlag, wenn sie das durch indirs­kre­tes Fra­gen her­aus­fin­den. Und Alt­bau-Auf­schlag. Der Auf­schlag für das Haus eben. Es gibt eine Post­karte davon, frü­hes zwan­zigs­tes Jahr­hun­dert ver­mute ich, "Châ­teau Mon­fleury". Das sage ich kei­nem Hand­wer­ker, sonst gäbe es sofort einen signi­fi­kan­ten Post­kar­ten-Auf­schlag. Und wenn Hand­wer­ker zum Kos­ten­vor­anschlag schon vor dem Bau ste­hen und sagen, Sie haben's aber schön hier, weiß ich, daß sich dafür bereits der Grund­preis ver­dop­peln wird. Allein für das Sie haben's aber schön hier. Da kann ich mir den Mund fus­se­lig reden davon, daß wir gekauft hät­ten vor der Explo­sion der Preise hier in der Gegend, daß wir trotz­dem noch die nächs­ten zehn Jahre daran zu zah­len hät­ten, und nein, das ist nicht unser Zweit­wohn­sitz, wir leben und arbei­ten hier dafür und ja, bringt vor allem Arbeit. Und Kos­ten. Will er gar nicht wis­sen, der Hand­wer­ker, die Tarife ste­hen. Schließ­lich wird noch die Mehr­wert­steuer auf­ge­schla­gen zu den Zuschlä­gen, obwohl, lei­der, das mit der Rech­nung dazu ein biß­chen dau­ern wird, ganz bestimmt aber, nur wäre die Sekre­tä­rin gerade krank oder der Com­pu­ter kaputt. Und Bezah­lung in bar wäre auch schön. Man kann's ja mal ver­su­chen, viel­leicht bin ich dop­pel­ten Aus­län­der­zu­schlag wert.

Zu allem Über­fluß stehe ich schließ­lich doch selbst im Tech­nik­häus­chen an Fil­ter und Pumpe und muß noch was nach­ar­bei­ten. Syl­va­ins Rohre trop­fen, am Fei­er­tag gibt es keine Hand­wer­ker, aber was glau­ben Sie denn. Samedi peut-être, Sams­tag viel­leicht. Genau das, was es eigent­lich zu ver­mei­den galt. Wie gesagt, ich habe noch kei­nen Hand­wer­ker ohne Abstri­che erlebt. Okay, ich weiß, das ist Jam­mern auf hohem Niveau, ich weiß. Wie das Jam­mern des Lam­bor­ghini-Fah­rers über alberne 110-Schil­der und die Brems­schwel­len allent­hal­ben. Geht eigent­lich nicht, kommt nicht gut an. Außer­dem ist hier Frank­reich, Süd­frank­reich, Côte d'Azur fast, das ganze Jahr Som­mer, Laven­del, Meer, Strand, fri­scher Fisch direkt vor der Tür, all die Kli­schees in echt und jeden Tag von Neuem, was wol­len Sie denn, das ist der Traum eines jeden Deut­schen, da will man sich doch wohl nicht ernst­haft bekla­gen!

Wahr­schein­lich bin ich unter all die­sen Diens­ten und nächt­li­chen Péri­du­ra­les, dem Alt­bau und trop­fen­den Roh­ren gereift für die Insel. Oder für's Klos­ter. Oder eine Hütte ganz weit oben. Ein paar Tage wür­den wohl schon rei­chen. Sieht momen­tan lei­der nicht danach aus. Jedes zweite Wochen­ende im Kran­ken­haus. Der Mai wird schlimm und das ist erst der Anfang vom Som­mer. Jeder der Kol­le­gen wird mal Urlaub haben, ich selbst ab Mitte August. Mitte August! Das ist noch lange hin. Wenn man zu denen gehört, die kei­nen Urlaub haben, zahlt man mit Sub­stanz an Kör­per, Seele und Geist. Und wenn ich mich nach ein paar Tagen Insel, Klos­ter oder Hütte frage, was mache ich hier eigent­lich den gan­zen Tag, kann's wei­ter­ge­hen.

Mit einer Péri­du­rale zum Bei­spiel. Jetzt, 21:54 Uhr. Das geht noch. Für Clai­res Erst­ge­bä­rende. Claire ist eine der Heb­am­men heute Nacht. Stammt aus Mar­seille. Lächelt deut­lich leich­ter mal als Clau­dia.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Hirschjagd

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Ich kenne Saint-Tro­pez. So, wie man als Tou­rist Saint-Tro­pez eben kennt. Ich war auch mal dort im Hoch­som­mer, Som­mer­fe­rien, spä­ter Vor­mit­tag. Gehört zu unse­ren ers­ten Frank­rei­cher­fah­run­gen in Fami­lie über­haupt. 1996. Der Zweite gerade mal sechs Monate alt. Im Auto keine Kli­ma­an­lage. Im süd­öst­li­chen Ruhr­ge­biet wünschte man sich defi­ni­tiv nur an drei Tagen im Jahr eine Kli­ma­an­lage. Damals zumin­dest, vor dem Kli­ma­wan­del. Es gibt nur eine ein­zige Zufahrts­straße nach Saint-Tro­pez. Im Som­mer ist da immer Stau. In bei­den Rich­tun­gen. VIPs kom­men des­we­gen mit dem Hub­schrau­ber oder der Jacht. Wir haben es damals nicht ganz geschafft bis Saint-Tro­pez. Wir haben auf­ge­ge­ben. Ein Kaf­fee, um sagen zu kön­nen, wir hat­ten einen Kaf­fee in Saint-Tro­pez, an der ers­ten Park­mög­lich­keit hin­ter dem Orts­schild. Nach bestimmt zwei Stun­den Stau unter Tro­pen­hitze und unwil­li­gen Kin­dern hin­ten. Saint-Tro­pez im Som­mer ist so wie die Zufahrt zum Bau­markt an einem ver­reg­ne­ten Sams­tag­nach­mit­tag. Dann doch lie­ber mit trop­fen­dem Was­ser­hahn leben. Oder die Abreise vom Strand um halb sechs. Stau­wahr­schein­lich­keit hun­dert Pro­zent. Auch an den unwahr­schein­lichs­ten Stre­cken­ab­schnit­ten. Das macht man zwei, drei Mal mit, dann hat man das Prin­zip begrif­fen. Fran­zo­sen machen immer alles gleich­zei­tig. Kino, Ein­kau­fen, Strand. Syn­chron. Alle. Und die Tou­ris­ten machen immer mit. Alle, egal wel­cher Her­kunft. Ega­lité. Im Stau sind wir alle gleich. Fran­zö­si­sche Tou­ris­ten stim­men sich unter­ein­an­der ab. Allez, jetzt! Die müs­sen eine App dafür auf ihrem iphone haben. Oder einen sieb­ten Sinn für die per­fekte Stau­kon­stel­la­tion. Gene­ti­sche Ver­an­la­gung.

Mitte Mai kom­men Freunde von frü­her nach Can­nes. Sie haben drei Tage Aida gewon­nen, von Mal­lorca aus. Ein Tag Can­nes. Frei­gang von 07:00 bis 17:00 Uhr. Wir wol­len uns auf ein Bier oder so tref­fen, Can­nes ist doch nicht weit von dir. Can­nes Mitte Mai ist wohl so wie Saint-Tro­pez im Hoch­som­mer. Film­fest­spiele. Es ist alles abge­sperrt, es gibt chao­ti­sche Umlei­tun­gen, alles ist ver­stopft und dau­ert ewig. Sagt eine bekannte Kri­mi­au­torin mit Wahl­hei­mat Can­nes. Und emp­fiehlt den Zug. Zug aber kann auch schief­ge­hen. Ver­spä­tet, ver­passt, Streik. Anreise bis neun Uhr, denke ich, sollte auch mit dem Auto gut gehen. Selbst nach Can­nes. Selbst zum Höhe­punkt des Fes­ti­vals hin. Da schläft der Tou­rist noch oder steht schon in der Schlange am Früh­stücks­buf­fet. Brad Pitt und seine Freunde bewe­gen sich noch nicht öffent­lich, nur die Pend­ler sind auf der Straße unter­wegs. Letz­tere kenne ich von zuhause. Die sind immer da. Jeden Mor­gen, jeden Abend. Mit oder ohne App, mit oder oder ohne sieb­ten Sinn.

Ich selbst kenne Can­nes nicht mehr als von einem teu­ren Kaf­fee am Strand. Oder auch nur vom Durch­fah­ren. Keine prä­gende Erin­ne­rung jeden­falls. Ein­hei­mi­sche behaup­ten, es gäbe nichts zu sehen in Can­nes. Außer der Shop­ping-Meile – Bou­le­vard de la Croi­sette – mit Pal­men, dem Carl­ton und teu­ren Läden. Das muß man aber wol­len sowas, Shop­pen und so. Das Sel­fie mit Ange­lina Jolie kann man ohne­hin ver­ges­sen. Alter­na­tiv kann man durch die Alt­stadt schlen­dern auf einen Hügel mit Kir­che und Museum. Das Museum zeich­net sich durch einen Turm aus. Der Turm besticht durch die Aus­sicht, die er über die Stadt, das Meer und die Inseln bie­tet. Auf der Insel soll es ein ganz gutes Restau­rant geben.

Oder Pick­nick am Strand irgendwo. Wenn da nicht abge­sperrt ist.

Bis 16:38 Uhr muß ich zurück vor der Schule sein, nor­ma­ler­weise. Das werde ich pri­mär auf 17:30 Uhr modi­fi­zie­ren, Kin­der solange aux étu­des. Für den schlimms­ten Fall, ich schaffe es nicht­mal bis 17:30 Uhr, kommt der Joker ins Spiel, mein Zweit­ge­bo­re­ner. Wich­tig wäre, daß der sein Tele­fon bei sich hätte. Gela­dene Bat­te­rie. Ein­ge­schal­tet. Und er ant­wor­ten würde. Jede Etappe – Tele­fon dabei, Bat­te­rie gela­den, ein­ge­schal­tet – eine ernst­zu­neh­mende Risi­ko­quelle. Von Plan B ist es nicht mehr weit bis Plan C.

Oder doch Zug.

Oder ganz weg blei­ben. Sicher­heits­hal­ber. Lie­ber Kol­lege, geht lei­der nicht, ich muß arbei­ten. Kurz nach den Atten­ta­ten in Paris hat­ten wir Oper in Tou­lon. Lan­des­weit Plan Vigi­pi­rate, alerte atten­tat – Atten­tats­war­nung. Per­so­nen­kon­trolle am Ein­gang. Machen Sie mal bitte Ihren Man­tel auf. Metall­de­tek­tor. Zwei Kon­trol­leure. Ganz klar über­for­dert. Schlange ein­mal über den Platz. Kein Poli­zist zu sehen. Top-Kon­stel­la­tion für Ter­ro­ris­ten, sagte ich zu mei­ner Frau, besser könn­ten sich die Ziele gar nicht prä­sen­tie­ren. Bes­ser als in jeder engen Kon­zert­halle. Das ist wie Hirsch­jagd für Erich Hon­ecker. Eine Maschi­nen­pis­tole auf der Frei­treppe, ein paar Maga­zine, und die ganze Reihe ein­fach ummä­hen. Ein Kum­pel würde sich die vor­neh­men, die weg­lau­fen. Meine Frau hatte keine Beden­ken. Ich solle nicht immer so nega­tiv sein.

Tou­lon ist sicher nicht so pla­ka­tiv wie Paris oder Can­nes. Can­nes hat sicher deut­lich mehr Poten­tial. Aus ter­ro­ris­ti­scher Sicht. Die Poli­zei wird sich dort sicher um Pro­mi­nenz und Publi­kum küm­mern. Kol­la­te­ral viel­leicht den einen oder ande­ren Stau pro­du­zie­ren.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr