Ameisenscheiße

Erwar­tungs­druck, tat­säch­li­cher oder ein­ge­bil­de­ter, weiß man das schon genau? Dem­nächst ver­mut­lich Abend­essen, die essen ja so früh in Deutsch­land. Bestimmt war­ten sie unten schon, dabei hätte ich gerne mal ein paar Minu­ten für mich gehabt. Wir sind in Ulm. Bei Ver­wandt­schaft, sie aus Nord­deutsch­land, er schon immer hier in der Gegend. Schwabe, tech­nisch ori­en­tiert, nach einem Bier weni­ger Nerd als man von einem Inge­nieur erwar­ten würde. Sie selbst, Ver­wandte mei­ner Frau, macht was mit Sozi­al­päd­ago­gik, glaube ich, so einer der Berufe, die ich mir in ihren Inhal­ten nicht so rich­tig vor­stel­len kann, Bera­tung, Gespräch, Reinte­gra­tion von Dro­gen­kran­ken. Sie hat­ten den zehn­ten Hoch­zeits­tag letz­tes Wochen­ende, alles im grü­nen Bereich, manch­mal beklagt sie sich dis­kret über den rudi­men­tä­ren Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­darf ihres Gat­ten. Schwabe eben. Inge­nieur. Das redet nicht so viel. Ich mag die bei­den, sonst wäre ich ja nicht hin­ge­fah­ren. Zwei Kin­der, Töch­ter, beide jün­ger als meine, sie­ben und neun. Mein Sohn glatt außen vor, zu klein die Töch­ter. Diese stän­dig im Wett­streit um die Auf­merk­sam­keit mei­ner Toch­ter. Schril­les Zetern, dis­kre­tes Knei­fen und Schub­sen. Mäd­chen eben. Auf dem Pro­gramm das Ulmer Müns­ter, alle 768 Stu­fen, Maul­ta­schen mit Kar­tof­fel­sa­lat von ges­tern, Kar­tof­fel­sa­lat ist am nächs­ten Tag sowieso noch bes­ser, nicht wahr? Blau­topf in Blau­beu­ren. Ça veut dire quoi, blo­topf, fra­gen die Kin­der. Das Blau soll bei Son­nen­ein­strah­lung am bes­ten zur Gel­tung kom­men. Wirk­lich schön. Ganz unwirk­li­ches, fast kari­bi­sches Lagu­nen­blau. Sech­zehn Grad. Man darf nicht rein­sprin­gen. Kin­der sit­zen auf der Absper­rung und sagen Amei­sen­scheiße. Amei­sen­scheiße ver­hin­dert Gri­mas­sen und sieht auf dem Foto aus wie Lächeln. Spä­ter liegt der Topf im Schat­ten. Und das Blau ist noch viel blauer. Ganz ohne Nach­be­ar­bei­tung. Und viel weni­ger Besu­cher.

blautopf-klein

Le soleil s'éclipse der­rière la… – Die Sonne ver­schwin­det hin­ter… – hin­ter was? Zurück aus dem Urlaub. Seit zwei Wochen. Dienst. Kreiß­saal, halb drei Uhr nachts. Beschrif­tete Erst­ge­bä­rende. Der Urlaub schon längst Geschichte.

Ein Bier viel­leicht schon mal? Ja, gerne, ich komme gleich. Voilà, der Erwar­tungs­druck. Spä­ter, nach Mit­ter­nacht, alko­ho­li­siert. Signi­fi­kant. Lei­der. Eigent­lich hätte ich mich gerne mit dem einen Bier schon mal zufrie­den gege­ben. Dann hatte die Gast­ge­be­rin ihren Rot­wein auf den Tisch gebracht. "Ihren" Rot­wein. Was von Rewe. Ich ver­steh' ja nix von Wein, sagt sie, ich geh' da mehr nach dem Eti­kett. Ganz okay eigent­lich der Wein für Ich ver­steh' ja nix von Wein. Das Eti­kett auch okay. Kann ich da Nein sagen? Erwar­tungs­druck. Zum Wein gibt's Foto­bü­cher. Die Hoch­zeit, die ers­ten drei Jahre des ers­ten Kinds, die ers­ten drei Jahre des zwei­ten Kinds. Zwei­hun­dert Bil­der jeweils, unwi­der­steh­li­ches Son­der­an­ge­bot auch von Rewe, glaube ich, oder Aldi. Nett, so Foto­bü­cher. Wenn man sie nicht jeden Tag anse­hen muß. Man­che Sta­tis­ten mir nicht unbe­kannt, Fami­lie im wei­te­ren Sinn immer­hin, man­che davon waren auch schon bei mir auf der Ter­rasse, man­che sogar im Pool, man­che kenne ich vom Namen, meine Frau bei der Hoch­zeit, me mys­elf im Album zu den ers­ten drei Jah­ren des zwei­ten Kinds. Als Sta­tist. Im Hin­ter­grund noch die Pal­men. Auch Geschichte mitt­ler­weile. Und zwei­hun­dert Bil­der zu einer Hus­ky­tour des Gat­ten in Nord­finn­land. Geburts­tags­ge­schenk zum Fünf­zigs­ten. Hus­kies. Schnee­land­schaft. Mit­kämp­fer, Jacob, knapp sech­zig, und vier junge Frauen unter drei­ßig. Jas­mina zum Bei­spiel, erstaun­lich hübsch. Erstaun­lich hübsch für den Kon­text. Hus­ky­tour, wel­che junge Frau unter drei­ßig zieht sich sowas schon rein? In Nord­finn­land. Und Lisa, die Hun­de­füh­re­rin. Bil­der vor­wie­gend von der Schnee­land­schaft und den Hun­den. Nord­licht. Manch­mal Lisa. Wenig Jas­mina. Was aber hätte eine erstaun­lich hüb­sche Jas­mina schon in der Samm­lung von Fami­li­en­al­ben ver­lo­ren? Begleit­text vom Aben­teu­rer. Mor­gens mußte die Hun­de­scheiße auf­ge­sam­melt wer­den. Nicht so schlimm, sagt der Aben­teu­rer. War ja gefro­ren bei minus 17 Grad. Hun­de­scheiße ist gefro­ren nicht so schlimm. Nicht. So. Schlimm.

Zehn Tage Deutsch­land. Ruhr­ge­biet, Schwa­ben, Baden.

Nur einen ein­zi­gen Tag davon hatte ich vor­wie­gend mit den Kin­dern, abge­se­hen mal vom übli­chen Sit­zen abends mit den Gast­ge­bern. Klet­ter­wald in der Nähe von Frei­burg. Klet­tern in Bäu­men, auf Sei­len, wack­li­gen Brü­cken, Seil­rut­schen, Mut­pro­ben, Tar­zan­sprünge von Baum zu Baum, in zehn bis zwan­zig Metern Höhe. Alles natür­lich gesi­chert, immer zwei Haken am Seil, in der Nähe von Frei­burg sogar mit Helm. Fan­den meine Kin­der albern, was soll uns denn hier auf den Kopf fal­len? Haben sie recht. In Deutsch­land ist eben alles noch ein biß­chen siche­rer. Zum Abschluß Bag­ger­see unter­halb des Kai­ser­stuhls. Wun­der­bar tür­kis­far­be­nes Was­ser, fast klar, viel­leicht zwan­zig Grad, eher frisch. Hier darf man rein­sprin­gen. Sogar die Toch­ter kann das, obwohl sie das gar nicht gerne macht, wenn sie den Grund nicht sieht, so klar und in gerade Bah­nen auf­ge­teilt wie in der piscine.

Spä­ter wie­der sit­zen am Bier. Mit dem Gast­ge­ber und der Gat­tin. Der drit­ten. Das wech­selt immer wie­der mal. Alle fünf bis zehn Jahre. Die aber wird blei­ben, ver­mute ich. Das passt schon. Bio-Ver­käu­fe­rin, erwach­sene, auto­nome Kin­der außer Haus. Und sie kann mit dem Chaos des Gast­ge­bers leben. Mit dem dschun­gel­ar­ti­gen Gelände hin­ter dem Haus. An man­chen Stel­len fin­det man angeb­lich Melo­nen, auch Boh­nen und Salat, sogar Toma­ten soll es irgendwo geben. Mit­ten­drin eine Sitz­gruppe. Die Plat­ten, Natur­sand­stein, krea­tiv ver­legt, ein biß­chen uneben. Jeder Stuhl wackelt. Macht nix. Die Gat­tin kann auch damit leben, daß seine Woh­nung aus­sieht wie eine Bau­stelle. Nichts ist wirk­lich fer­tig. Seit Jah­ren. Jahr­zehn­ten. Nichts funk­tio­niert wirk­lich. Was­ser­hähne mit dem war­men Was­ser auf der fal­schen Seite. Offene Steck­do­sen. Und, sagt die Gat­tin, angeb­lich hat sie vor­her was auf­ge­räumt, nor­ma­ler­weise lägen Klei­dungs­stü­cke über­all herum, Hem­den, Socken, Unter­ho­sen, wo sie ihm eben gerade vom Leib fal­len. Macht dich das nicht wahn­sin­nig? – Noi, i mach des gern. – Häh? Gerne? Das meinst du nicht wirk­lich. – Doch, doch, Wäsche mache ich gerne. Ich lasse jetzt mal den star­ken schwä­bi­schen Akzent der Gat­tin weg. Waschen, auf­hän­gen, bügeln, fal­ten und am Ende ist alles schön ordent­lich im Schrank gesta­pelt. Das schön ordent­lich Gesta­pelte befrie­digt sie. Der Weg dahin macht ihr Freude. Ich erin­nerte mich, daß sie mir das schon mal erzählt hatte. Ihre Schränke sehen tat­säch­lich auch von innen so aus. Und die des Gast­ge­bers auch, übri­gens. Gebü­gelt, gesta­pelt. Obwohl die Woh­nung sonst nicht so aus­sieht, als wäre da kurz vor­her mal jemand durch­ge­gan­gen. Bau­stel­len eben, offene Steck­do­sen, teil­ver­leg­tes Par­kett, Licht­schal­ter mit­ten im Durch­gang auf dem Boden. Die Gat­tin, ursprüng­lich nur Mie­te­rin im Haus, hat ihre eigene Woh­nung oben behal­ten. Da ist alles tip­top. Mal abge­se­hen vom Was­ser­hahn im Bad mit dem Warm auf der fal­schen Seite. Mög­li­cher­weise kann sie den tech­ni­schen und orga­ni­schen Dschun­gel in den Räum­lich­kei­ten ihres Gat­ten nur so, aus siche­rem Rück­zugs­ter­rain, aus­hal­ten.

Von der Mitte des lin­ken Schul­ter­blatts in Tief­blau­grau und schlei­fi­ger Schrift im Bogen bis in den Nacken. Mehr zum rech­ten Ohr hin. Le soleil s'éclipse der­rière la… – das letzte Wort ver­schwin­det unter der Kopf­haube. Wäh­rend der Anlage mei­nes Peri­du­ral­ka­the­ters bin ich immer wie­der ver­sucht, einen Blick unter diese Kopf­haube zu wer­fen, um eben die­ses letzte Wort, der­rière was denn, zu erfah­ren. Bestimmt irgend­was wahn­sin­nig Phi­lo­so­phi­sches, joie viel­leicht oder beauté. Ich hätte mich bücken müs­sen und das hätte irgend­wie blöde aus­ge­se­hen in den Augen der Heb­amme und des Man­nes zur Gebä­ren­den mir genau gegen­über. Mit ste­ri­lem Hand­schuh den Rand der Haube mal eben anhe­ben geht natür­lich auch gar nicht.

Abends fiel die Fami­lie fran­zö­si­scher Freunde mei­ner­seits im Dschun­gel ein. Musi­ker im Orches­ter der Oper von Tou­lon. Künst­ler mit der Men­ta­li­tät dazu. Auf eine Stunde hin oder her kommt es nun wirk­lich nicht an. Fran­zo­sen. Auf einen Tag? Es wurde dann wirk­lich spät, nach neun, die Gast­ge­be­rin müh­sam kom­pen­siert. Unver­kenn­bar unter­zu­ckert. Der Deut­sche sitzt um sie­ben Uhr am Tisch. Und hat Hun­ger. Unsere fran­zö­si­sche Fami­lie hin­ge­gen hatte bis zum Vor­abend nicht ver­in­ner­licht, daß unser Ren­dez­vous für den Mitt­woch Abend geplant war. Seit Wochen geplant. Immer wie­der nach­ge­fragt, bleibt es dabei? Immer wie­der bestä­tigt. Mer­credi soir?Oui, mer­credi soir. Und nicht etwa Don­ners­tag. Für jeudi war Europa-Park geplant. Kein Ver­hand­lungs­spiel­raum mei­ner­seits, weil unser Rück­flug ab Basel für den Abend gebucht war. Mitt­woch Mor­gen befand sich die Fami­lie zwar bereits auf dem Rück­weg einer Nor­we­gen-Reise, aber noch irgendwo nörd­lich von Kopen­ha­gen. Kopen­ha­gen! Sie hat­ten ursprüng­lich geplant, sogar noch einen Abste­cher nach Leip­zig zu machen. Leip­zig! Mitt­woch. In die Stadt von Bach. Johann Sebas­tian. Da woll­ten sie als Musi­ker was besich­ti­gen. Und dann erst wei­ter nach Stutt­gart. Europa-Park ist doch irgendwo in der Nähe von Stutt­gart? Ja, schon, irgendwo in der Nähe. Für jeman­den, der gut fünf­tau­send Kilo­me­ter nach einem Taschen­at­las in drei Wochen fährt, ist der Europa-Park nur einen Kat­zen­sprung von Stutt­gart ent­fernt. So muß­ten sie, ganz über­ra­schend, von jen­seits von Kopen­ha­gen bis fast Frei­burg fah­ren. Drei­zehn Stun­den. Die Kin­der hin­ten ken­nen das. Span­nung dabei bis auf die letz­ten Kilo­me­ter. Haben sie die sms mit der Weg­be­schrei­bung bekom­men, neh­men sie jetzt die rich­tige Abfahrt? Hek­ti­sche Tele­fo­nate ab halb neun, nein, nach der Ampel nicht links, son­dern rechts. Die Gast­ge­be­rin am Rande eines Ner­ven­zu­sam­men­bruchs, hung­rig, i ess jetz. Käs'schbätzle. Machen sie immer, wenn ich zu Besuch bin. Und nur das. Kein Entrée, kein Salat, kein Nach­tisch. Fran­zo­sen haben andere Vor­stel­lun­gen von einem Dîner. Die Käs'schbätzle aber selbst geschabt. Sehr schön mit Zwie­beln. Nicht mal Kaf­fee. Wenn die Käs'schbätzle weg sind, auf'gesse, ist das Dîner zu Ende. Ein Bier viel­leicht noch. Um zehn mußte ihnen der Gast­ge­ber die Woh­nung im Dorf zei­gen. Zoig dene doch mol die Zim­mer. Damit war der Abend offi­zi­ell zu Ende. I muss jetz' schlofa. Und weg. Un peu rus­tique fan­den die Musi­ker das alles. Das Dorf, die Woh­nung, den Gar­ten. Das Dîner. Rus­tique. Stimmt schon. Wel­ten pral­len auf­ein­an­der.

Ein paar Tage frü­her ganz am Anfang mei­nes Urlaubs, waren wir in Bochum. Das Ruhr­ge­biet zeigte sich von sei­ner schöns­ten Seite. Sonne und Grün. Es gibt einen Stau­see, viel­be­such­tes Nah­erho­lungs­ge­biet, die Was­ser­qua­li­tät reicht noch immer nicht zum Schwim­men. Frü­her, also Ende des zwei­ten Jahr­tau­sends gab es zwei Wege um die­sen Stau­see, einen für die Fuß­gän­ger, einen für die Rad­fah­rer. Rich­tig schön war damals, früh mor­gens, vor der Arbeit noch, also deut­lich vor sie­ben, Früh­ne­bel über dem Was­ser, Hasen und Rehe auf den Wie­sen, per Inli­ner um den See zu fah­ren. Knapp 10 km. Meist fast alleine. Das gehört zu den Din­gen, die mir wirk­lich feh­len in Frank­reich. Der Stau­see, der Früh­ne­bel, das Inli­nen um den See. Spä­ter am Tag war man schon weni­ger alleine. Und ent­we­der wurde man von Fuß­gän­gern blo­ckiert oder von Rad­fah­rern weg­ge­klin­gelt. Eher aggres­si­ves Ambi­ente. Mitt­ler­weile gibt es einen drit­ten Weg, fast durch­ge­hend, für die Inli­ner. Dort waren wir mit Freun­den und ihrem Sohn. Ein­mal um den See. Sehr anstren­gend. Für mich. Den Kin­dern war keine Anstren­gung anzu­mer­ken. Wahr­schein­lich liegt es an man­geln­der Übung mei­ner­seits. Oder an mei­ner Aus­rüs­tung, zwan­zig Jahre alt. Was ist denn mit dir los, frag­ten die Freunde am Ende, so kaputt, wie du aus­siehst. Ob ich nicht mal mein Herz unter­su­chen las­sen wollte. Keine Lip­pen­zya­nose aller­dings, muß­ten sie zuge­ben, kein Hin­weis auf ein aku­tes, lebens­be­droh­li­ches Pro­blem. Kaputt eben. Die Räder dre­hen sich nicht mehr rich­tig an mei­nen Schu­hen. Rutscht ihr doch erst­mal zehn Kilo­me­ter auf abge­brauch­ten Rädern! Zuhause woll­ten sie trotz­dem mei­nen Blut­druck mes­sen. Nor­mal der Blut­druck. Der Freund, auch vom Fach, wollte mich abhö­ren. Eine Klap­pen­in­suf­fi­zi­enz viel­leicht oder eine Stenose. Viel­leicht eine Aor­tenisth­muss­tenose. Wieso aus­ge­rech­net Aor­tenisth­muss­tenose? Ist das nicht was Ange­bo­re­nes? Egal, Aor­tenisth­muss­tenose am eige­nen Ste­tho­skop hätte dem Kol­le­gen beson­ders gut gefal­len. Er hat aber nichts gehört, der Kol­lege. Keine Stenose, keine Insuf­fi­zi­enz. Weil da nichts ist. Ich habe nichts am Her­zen. Kaputte Räder, das ist alles.

So eine Péri­du­rale dau­ert viel­leicht zehn Minu­ten vom Des­in­fi­zie­ren des Bereichs unten am Rücken bis zum Ver­band. Nach dem Ver­band kommt die Haube ab – Le soleil s'éclipse der­rière la… lune. La lune! Ent­täu­schend, ich hatte mir was Kom­ple­xe­res erhofft, was Über­ra­schen­de­res, was Phi­lo­so­phi­sches, mehr jeden­falls als ein­fach nur den Mond. Aber was soll man schon erwar­ten bei einem Tat­too? Was kann man schon bei einem Publi­kum erwar­ten, wel­ches sich mit Schrift­zü­gen ver­sieht? Die Sonne ver­schwin­det also hin­ter dem Mond. Son­nen­fins­ter­nis auf dem Rücken einer Erst­ge­bä­ren­den. Voilà, was sonst?

Im Schwä­bi­schen bei einem Bru­der und sei­ner Frau. Unsere Eltern zum Gril­len. Das reicht denen. In der Kürze liegt die Würze. Ein­mal Gril­len mit dem Sohn aus Frank­reich pro Jahr reicht. Die Schwä­ge­rin hat zur gro­ßen Freude der Toch­ter zwei Hunde. Einer davon hat es mit dem Frau­chen dazu auf den vier­ten Platz der deut­schen Meis­ter­schaft gebracht in Agi­lity und Obedience. Wenn der zuviel rennt mit mei­ner Toch­ter, kommt er ins Schnau­fen und muß Pause machen. For­dert die Schwä­ge­rin. Bestimmt Aor­tenisth­muss­tenose. Und die Toch­ter war­tet brav, bis der Hund nicht mehr hechelt. Dür­fen wir jetzt wie­der spie­len?

Zwi­schen­durch tou­ris­ti­sche Ein­la­gen. Fern­seh­turm in Stutt­gart, Auf­zug sechs Sekun­den mit ange­trun­ke­nem Fahr­stuhl­füh­rer. Ohne Hund. Spa­zier­gang im Schön­buch, mit Hund. Die Kin­der ken­nen Wald, wie er wirk­lich ist, nur von Besu­chen in Deutsch­land. Schwim­men in einem Bag­ger­see im Neckar­tal. Zu spät aller­dings für Früh­ne­bel und Rehe. Des Bru­ders Elek­tro-Spiel­zeug beschleu­nigt zwar in drei Komma neun Sekun­den von Null auf Hun­dert, der Navi aber braucht google zum Den­ken. Ohne Funk­netz gerät der Wagen direkt in eine google-Wüste. Der Natur­park Schön­buch macht google-Wüste auf den Touch­screen. Weg der Bag­ger­see. Zu spät am See zum Schwim­men unter Früh­ne­bel. Zu trüb das Was­ser außer­dem und zuviele Schwäne und Enten sagt die Toch­ter. Trop chou, zu süß, zwar, die Canar­deaux, die klei­nen Ent­chen, aber zuviele. Und stel­len­weise schwimmt Scheiße in klei­nen Inseln. Enten­scheiße.

Ein paar Minu­ten nach dem Ste­chen die Erfolgs­kon­trolle. Fast halb vier. Ça va mieux? Geht's bes­ser? – Ça va. Es geht. – Est-ce que ça va mieux? Ist es denn bes­ser jetzt? – Ça va. Es geht. – Was eigent­lich ist unklar an mei­ner Frage? Geht's bes­ser ist eine klas­si­sche Ja-Nein-Frage. Aus mei­ner Sicht. Oui oder Non, allen­falls noch un peu mieux, ein biß­chen bes­ser, wären zuläs­sige Ant­wor­ten mit einer Péri­du­rale neu im Rücken und Wehen im Bauch. Ça va, es geht, passt da nicht wirk­lich als Ant­wort. Ich muß es anders ver­su­chen: Est-ce que vous avez moins mal? Haben Sie weni­ger Schmer­zen? – Beau­coup moins, merci, doc­teur! Viel weni­ger, danke, Herr Dok­tor! Na also, geht doch. Ich ver­mute fun­da­men­tale Men­ta­li­täts­un­ter­schiede. Meine Gene­tik gereicht mir nicht zum Fran­zo­sen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Parthenogenese

Erstaun­lich fand ich vor allem, daß ein VIP wie Til Schwei­ger selbst seine Posts bei Face­book ver­wal­tet. Sogar selbst schreibt. Oder, natür­lich, auch denk­bar, jeman­den hat, der die­ses Image ver­mit­teln soll. Es geht um Nähe zum Publi­kum. Ich bin einer von euch. Am 3. Januar hatte ihn wohl jemand mit ver­hal­te­nem Kom­men­tar zu sei­nem jüngs­ten Auf­tritt im "Tat­ort" ver­är­gert. Viel­leicht waren Herr Schwei­ger oder sein Schrei­ber auch unter Alko­hol. Oder ande­ren Dro­gen. Oder Alko­hol, Dro­gen, Ärger. Alles mensch­lich. Publi­kums­nähe. Im Post viel Weih­rauch und viel Aggres­sion. Viel­leicht ist der ja immer so. Was weiß ich. Egal. Ich habe nur wenige Filme mit Til Schwei­ger gese­hen. Kno­ckin' on Heaven's Door. Das ist viele Jahre her.

Letz­tes Wochen­ende also ein Auf­tritt im "Tat­ort". Muß wohl stark an eine kali­for­ni­sche Insze­nie­rung erin­nert haben. Orga­ni­sierte Kri­mi­na­li­tät, ent­führte Toch­ter. Pan­zer­faust. Und das in Ham­burg. War wohl nicht jeder­manns Geschmack. Ver­hal­ten posi­tive Rezep­tion. Ärger. Face­book. Bei Face­book darf ohne­hin jeder alles ver­öf­fent­li­chen. Pos­ten heißt das da wohl. Wenn die Redak­teu­rin des ZEIT Maga­zins sich nicht online über die vie­len Aus­ru­fe­zei­chen in Til Schwei­gers Post gewun­dert hätte, wäre mir die­ser Post nicht auf­ge­fal­len. Ich habe ers­tens kein Konto bei Face­book und gehöre zwei­tens nicht zu Tils Freun­den. Es ist rich­tig: Es wim­melt da nur so von Aus­ru­fe­zei­chen. Kom­pa­nie­weise grup­piert. Auch viele Punkte. Auch kom­pa­nie­weise. Sogar Vokale in nor­ma­len Wor­ten – "viiiieel". Das wirkt schon etwas puber­tär. Oder, wie gesagt, Alko­hol, Dro­gen, Ärger. Anna Kem­per, die Redak­teu­rin bei der ZEIT, stört sich ein biß­chen am Inhalt des Posts, ganz sub­til läßt sie Aver­sio­nen gegen den Schau­spie­ler durch­schim­mern. Vor allem aber nimmt sie ihm den ekla­tan­ten Miß­brauch des Aus­ru­fe­zei­chens übel, befürch­tet gar die ernst­hafte Beschä­di­gung der welt­wei­ten Vor­räte.

Liebe Frau Kem­per!

Ich möchte Sie dar­auf hin­wei­sen, daß Aus­ru­fe­zei­chen, ebenso wie die meis­ten bekann­ten Schrift­zei­chen, bio­lo­gi­schem Hin­ter­grund ent­stam­men. Die Bestände ver­fü­gen, solange das Bio­top selbst nicht ernst­haf­ten Scha­den nimmt, über ein dra­ma­ti­sches Rege­ne­ra­ti­ons­po­ten­tial. Bedro­hung erfährt das Aus­ru­fe­zei­chen viel­mehr durch den evo­lu­ti­ven, aggres­si­ven Vor­sprung von­sei­ten rela­tiv neu auf­tre­ten­der typo­gra­phi­scher Phä­no­mene.

In einer außer­halb der aka­de­mi­schen Fach­ge­sell­schaf­ten lei­der nur wenig beach­te­ten Arbeit zu Nomen­kla­tur und Paläo­ge­ne­tik von Emo­ti­cons und Smi­leys konnte die Arbeits­gruppe um Mar­vin D. Riley vom St.-Quentin-Institute for App­lied Typo­gra­phic Sci­en­ces im neu­see­län­di­schen Wel­ling­ton das Aus­ru­fe­zei­chen zusam­men mit wei­te­ren Satz­zei­chen anhand des gewon­nen DNA-Mate­ri­als als wahr­schein­li­chen Urkeim sämt­li­cher aktu­el­ler gra­phi­scher Text­ele­mente iden­ti­fi­zie­ren. Ursprüng­lich war das Vor­kom­men von Aus­ru­fe­zei­chen nach Erkennt­nis­sen der Arbeits­gruppe auf einige wenige gene­tisch homo­gene Popu­la­tio­nen welt­weit beschränkt. Ihre Ver­meh­rung fand und fin­det geschlecht­lich vor­wie­gend inner­halb der gege­be­nen Popu­la­tio­nen statt. So wie beim Men­schen und der Kopf­laus. Zum Bei­spiel. Paläo­ge­ne­tisch las­sen sich dabei nur einige wenige Phä­no­mene des Aus­tauschs von Erb­ma­te­rial zwi­schen den Grup­pen fest­stel­len. Abge­se­hen von eini­gen weni­gen lebens­fä­hi­gen Muta­tio­nen wie Fra­ge­zei­chen, Strich­punkt und vor­wie­gend im süd­west­eu­ro­päi­schen und süd­ame­ri­ka­ni­schen Sprach­raum behei­ma­te­ten Varia­tio­nen wie "¡" sowie "¿" konn­ten keine wei­te­ren rele­van­ten Ent­wick­lun­gen nach­ge­wie­sen wer­den. Riley stellt ein­drück­lich die inzes­tuöse Gen­kon­stel­la­tio­nen ver­schie­de­ner Popu­la­tio­nen dar. Diese sei jedoch ohne wei­tere Rele­vanz. Wobei vor allem das Aus­ru­fe­zei­chen neu­zeit­lich eine Ten­denz zu prä­gnan­ter Fer­ti­li­tät auf­weist. Das erklärt auch die Tat­sa­che, daß Aus­ru­fe­zei­chen ganz sel­ten nur paar­weise anzu­tref­fen sind. Meis­tens wer­den dann gleich drei oder mehr dar­aus. Oder, wie im Falle des Face­book-Posts von Herrn Schwei­ger, gleich ganze Rudel. Die Befürch­tung, daß das Aus­ru­fe­zei­chen durch Miß­brauch zur Neige gehen könnte, ist somit völ­lig unbe­grün­det. Im Gegen­teil.

Erst durch mut­wil­lige Ver­kreu­zung ande­rer sekun­dä­rer typo­gra­phi­scher Ele­mente wie Klam­mern, Minus­zei­chen und Dop­pel­punk­ten gewann die Evo­lu­tion gra­phi­scher Text­ele­mente an Dyna­mik. Gene­tisch unter­schei­den sich die genann­ten Zei­chen dabei nur durch erstaun­lich wenige Gen­se­quen­zen vom Aus­ru­fe­zei­chen. Als Weg­be­rei­ter gel­ten das Smi­ley des Wer­be­gra­fi­kers Har­vey Ball (1963) und die legen­däre Code­page 437 von IBM (1981) mit dem wei­ßen (☺︎) und schwar­zen (☻) Smi­ley. Der Durch­bruch zu evo­lu­tio­nä­rem Wild­wuchs gelang mit Scott E. Fahl­mann von der Car­ne­gie Mel­lon Uni­ver­sity, Pitts­burgh, Penn­syl­va­nia, USA. 1982. Sein Vor­schlag der Zei­chen­kom­bi­na­tio­nen 🙂 (Dop­pel­punkt, Minus, Klam­mer zu) und 🙁 (Dop­pel­punkt, Minus, Klam­mer auf) sollte rhe­to­risch weni­ger begab­ten Wis­sen­schaft­lern ermög­li­chen, einen Bei­trag ein­deu­tig als scherz­haft bezie­hungs­weise seriös zu klas­si­fi­zie­ren. Um Miß­ver­ständ­nisse zu ver­mei­den.

Mitt­ler­weile haben Emo­ti­cons und Emo­jis, in Japan auch Kao­mo­jis, als typo­gra­phi­sche Ele­mente eine rasante Evo­lu­tion durch­lau­fen und sind allent­hal­ben und viel­ge­stal­tig in bei­nahe jeder Text­form anzu­tref­fen, ins­be­son­dere jedoch im Rah­men der Tele­kom­mu­ni­ka­tion und im Bereich sozia­ler Medien. Die­ses Umfeld scheint die kom­pakte Dar­stel­lung auch kom­pli­zier­ter Sach­ver­halte bei gleich­zei­ti­ger Reduk­tion ortho­gra­phi­scher Ansprü­che zu erzwin­gen. Sie ermög­li­chen auch ten­den­zi­ell apha­si­schen, dys­gra­phi­schen und leg­asthe­ni­schen Teil­neh­mern die Illu­sion emo­tio­na­ler Tiefe im Schrift­ge­brauch. Fort­ge­schrit­te­nen Nut­zern reicht die Kom­bi­na­tion von zwei, drei Zei­chen für die Dar­stel­lung kom­ple­xer Inhalte. Eine beson­dere Gefahr sei dabei dem Umstand zuzu­mes­sen, daß sich eine Viel­zahl der Emo­ti­cons auch ohne gegen­ge­schlecht­li­chen Part­ner zu ver­meh­ren in der Lage zu sein scheint. Par­the­no­ge­nese. Mut­ter- und Toch­ter­ge­nera­tion ver­fü­gen über iden­ti­sches Gen­ma­te­rial. Sinn­be­frei­tes, ubi­qui­tä­res Auf­tre­ten sei die Folge. Schreibt Mar­vin D. Riley.

Die neu­see­län­di­sche Arbeits­gruppe schließt aus den gesam­mel­ten Befun­den, daß der Fort­be­stand des Aus­ru­fe­zei­chens nicht etwa durch Miß­brauch, son­dern durch evo­lu­tive Domi­nanz der Emo­ti­cons gefähr­det sei. Die kon­se­quente Umset­zung der Dar­win­schen Lehre. Als Wis­sen­schaft­lern sei ihnen eine per­sön­li­che Wer­tung nicht gestat­tet. Emo­ti­cons hät­ten eben ihre gene­ti­sche Berech­ti­gung. Nicht mehr und nicht weni­ger als zum Besi­piel Kopf­laus und HIV-Virus.

Vor dem Hin­ter­grund die­ser Arbeit muß man anneh­men, daß wir Herrn Schwei­ger für sei­nen Post dank­bar sein soll­ten. Oder Luna. Weil sie ganz offen­sicht­lich ihrem Papa die sichere Beherr­schung der Emo­ti­con-Sei­ten auf sei­nem Tele­fon noch nicht nahe­brin­gen konnte.

p.s.:

Lesens­wert zum Thema Ruf­zei­chen-Infla­tion und Smi­ley-Hypo­k­ri­sie der Arti­kel von Cosima Schmitt in ZEIT ONLINE vom 17. Januar 2016. Und die­ser zu Emo­jis aus der ZEIT vom 7. Mai 2015. Gründ­lich recher­chier­ter Hin­ter­grund.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Mexique

Mexique 001

Wir sind gleich für Sie da.

Eine weib­li­che Stimme unter­malt von Digi­tal­mu­sik. Ansa­gen im Minu­ten­takt. Ich befinde mich in einer War­te­schleife der Deut­schen Post. Die Sen­dungs­ver­fol­gung bei DHL. Mein Schwie­ger­va­ter war­tet auf den Weih­nacht­s­ka­len­der mit Bil­dern sei­ner Enkel. Kriegt er jedes Jahr. Zwölf Bil­der in Groß­for­mat. Indi­vi­du­elle Maß­an­fer­ti­gung in Hand­ar­beit. Jeder Tag hand­ge­malt. Unter Berück­sich­ti­gung der Fei­er­tage in Schles­wig-Hol­stein. Und nun ist Weih­nach­ten seit fast einer Woche vor­bei und vom Kalen­der keine Spur. Nicht bei den Nach­barn, nicht mal ein Benach­rich­ti­gungs­schein Abho­lung nicht vor mor­gen Nach­mit­tag ab 15 Uhr oder so. Bei colis​simo​.fr heißt es seit dem 19. Dezem­ber "Votre colis a quitté le pays d'origine". Der Kalen­der hat Frank­reich ver­las­sen. Ab jetzt ist DHL zustän­dig. Wer sonst?

Nut­zen Sie jeder­zeit ein­fach und bequem alle Ser­vices online – unter deut​sche​post​.de.

Zur Abwechs­lung eine männ­li­che Stimme. So rich­tig gerne spricht man im Call­cen­ter bei der Deut­schen Post also nicht mit dem Kun­den. Ver­su­chen Sie Ihr Glück doch lie­ber online. Selbst schuld, wenn Sie seit geschla­ge­nen zwan­zig Minu­ten Com­pu­ter­mu­sik hören müs­sen. Habe ich natür­lich vorab gemacht. Ich habe den Online-Ser­vice der Sen­dungs­ver­fol­gung genutzt. Meine fran­zö­si­sche Paket­num­mer ist da lei­der unbe­kannt. Kann ja eigent­lich nicht sein. In Deutsch­land gehen keine Pakete ver­lo­ren. Nicht in Deutsch­land. Ich würde mein Leid nun so gerne einem Kun­den­be­ra­ter kla­gen. Viel­leicht hat ein mensch­li­cher Ansprech­part­ner Zugang zu mehr Infor­ma­tio­nen.

Der nächste freie Kun­den­be­ra­ter ist bereits für sie reser­viert.

Das ist schön. Lange kann es ja nun nicht mehr dau­ern. Meine Eltern haben auch einen Kalen­der zu Weih­nach­ten bekom­men. Auch mit groß­for­ma­ti­gen Fotos der Enkel. Auch eine indi­vi­du­elle Maß­an­fer­ti­gung in Hand­ar­beit. Jeder Tag hand­ge­malt. Unter Berück­sich­ti­gung der Fei­er­tage in Baden-Würt­tem­berg. colis​simo​.fr wußte drei Tage spä­ter zu ver­mel­den: "Votre colis est livré". Das Paket ist zuge­stellt. Bei Por­to­kos­ten von knapp fünf­und­zwan­zig Euro hätte ich auch nichts ande­res erwar­tet. Ich würde zu gerne wis­sen, was die Deut­sche Post solange mit dem Kalen­der an den Schwie­ger­va­ter macht.

Bitte haben Sie einen Augen­blick Geduld.

Habe ich. Was bleibt mir Ande­res übrig. Viel­leicht hätte ich doch der Anre­gung mei­ner Frau fol­gen sol­len und mein Glück im loka­len Ser­vice-Cen­ter der Post ver­su­chen. Womög­lich wäre ich da schnel­ler zum Ziel gekom­men. Immer­hin pro­fi­tiert die lokale Agen­tur der Post von einer groß­zü­gi­gen vor­weih­nacht­li­chen Zuwen­dung unse­rer­seits. Für den Post-Kalen­der. Jedes Jahr Anfang Dezem­ber klin­gelt die Zustel­le­rin. Meine Toch­ter hat sich die Ver­sion mit Pfer­de­bil­dern aus­ge­sucht. Feu­er­wehr und Müll­ab­fuhr machen auch die Runde. Bie­ten aber keine Aus­wahl. Pro­fi­tie­ren trotz­dem von einer groß­zü­gi­gen Zuwen­dung. Vor ein paar Jah­ren geriet mit­ten im Hoch­som­mer die Wiese nebenan in Brand. Die ursäch­li­che Betei­li­gung eines deut­lich min­der­jäh­ri­gen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen war nicht sicher aus­zu­schlie­ßen. Die Feu­er­wehr war mit zwei Lösch­zü­gen vor­ge­fah­ren, noch bevor die anlie­gen­den Hecken ernst­haft Feuer fan­gen konn­ten. Seit­dem groß­zü­gig.

Einen kur­zen Moment noch.

Kurz ist gelo­gen. Das höre ich nun bestimmt schon zum drit­ten Mal. Meine Toch­ter fühlt sich durch das Gedu­del aus mei­nem Tele­fon gestört. Redest du immer noch mit der Post?

Wir ver­bin­den Sie schnellst­mög­lich.

Die Tele­fon-Infor­ma­ti­ker bei der Deut­schen Post haben sich wirk­lich Mühe gege­ben. Mit vari­ie­ren­den Aus­sa­gen vom Band gelingt es ihnen, den Ein­druck zu erwe­cken, man würde in der Schlange vor­rü­cken. Über dem Schal­ter eine Anzeige. 453. Nur noch drei­zehn Kun­den bis zu mei­ner Num­mer.

In weni­gen Augen­bli­cken sind wir für Sie da.

Schade nur, daß die Augen­bli­cke bei DHL so lang sind.

Guten Tag, mein Name ist Michael, was kann ich für Sie tun? Der ist echt. Michael hört sich mein Anlie­gen an. Fragt mich nach mei­ner Paket­num­mer. Tippt sie in sei­nen Com­pu­ter. Täte ihm leid, aber diese Num­mer sei dem Sys­tem unbe­kannt. Auch in einem zwei­ten Ver­such kein Resul­tat. Ich solle doch mal beim fran­zö­si­schen Anbie­ter nach­for­schen. Oder meine Num­mer ein­fach in ein paar Tagen noch­mal selbst ins Sys­tem ein­ge­ben. Tol­ler Vor­schlag! Michael gibt sich zurück­hal­tend. Hat angeb­lich kei­nen Zugang zu wei­te­ren Infor­ma­tio­nen den Ver­bleib mei­nes Kalen­ders betref­fend. Ich finde Michael insuf­fi­zi­ent. Ich finde, er könnte sich etwas mehr Mühe geben. Mehr Empa­thie zei­gen zumin­dest. Das kann doch nicht sein, daß der Kalen­der in Deutsch­land ein­fach ver­schwin­det! Michael hat wohl keine Vor­stel­lung davon, wie­viel Arbeit die­ser Kalen­der gemacht hat! Ich kann meine Ent­täu­schung nicht ver­heh­len. Er bedankt sich trotz­dem für mei­nen Anruf und wünscht mir einen schö­nen Tag.

Veuil­lez pati­en­ter, nous vous met­tons en con­tact avec un con­seil­ler cli­en­tèle.

Die Hot­line bei colis​simo​.fr. Auch Musik. Auch die Aus­sicht auf den Kon­takt mit einem Bera­ter. Aber keine glaub­hafte Insze­nie­rung von Bewe­gung in der Wart­schlange. War­ten und Hof­fen. Knappe zehn Minu­ten. Die Stimme, weib­lich, fin­det mein Paket. Sie weiß zu bestä­ti­gen, daß der Kalen­der für den Schwie­ger­va­ter Frank­reich ver­las­sen hat. Von der Post in mei­nem Dorf wurde er nach Mar­seille gebracht. Was an sich schon unge­wöhn­lich sei, denn Pakete nach Deutsch­land wür­den über Lyon abge­wi­ckelt wer­den. Nor­ma­le­ment. Sagt die Stimme. Warum mein Kalen­der für den Schwie­ger­va­ter in Deutsch­land nun aber nach Mexiko geflo­gen wor­den wäre, ver­stünde sie auch nicht. Täte ihr aber leid. Mexiko? Oui, au Mexi­que. Mein Nach­for­schungs­auf­trag bekommt eine Num­mer. Wenn ich inner­halb von 40 (vier­zig!) Tagen nichts erfah­ren würde, keine Mail, kein Brief, kein Anruf, solle ich mich wie­der mel­den. Mit der Num­mer. Die Gebüh­ren für einen neuen Ver­sand en Allema­gne wür­den mir in jedem Fall erstat­tet wer­den.

Cor­reos de México, Track & Trace, 22. Dezem­ber 2015, 09:42:00 h: En trán­sito hacia destino. Mexiko. Tat­säch­lich. Da ist der Kalen­der. In Mexiko. Auf dem Weg zum Ziel.

30.12.2015, 19:43 Uhr: Die Sen­dung ist im Ziel­land ein­ge­trof­fen. Nächs­ter Schritt: Die Sen­dung wird zum Zustell-Depot trans­por­tiert. Schreibt DHL. Der Kalen­der ist zurück aus Mexiko!

Wäre Michael nicht so schwer zu errei­chen, würde ich ihn noch­mal anru­fen.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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