Le Faron

2015-02-02 IMG_5408 (Faron) noch kleiner

Zum letz­ten Geburts­tag hat mir meine Frau ein GPS-Gerät fürs Fahr­rad geschenkt. Man kann Stre­cken pro­gram­mie­ren und weiß immer, wo man ist. Das Gerät zeigt auch an, wie schnell man ist, wie die Stei­gung ist, die Höhe über dem Mee­res­spie­gel, den Luft­druck, die Him­mels­rich­tun­gen. Den Kalo­ri­en­ver­brauch, die Puls­fre­quenz. Das mit der Puls­fre­quenz ist eigent­lich so über­flüs­sig wie der Luft­druck. Braucht man nicht wirk­lich. Daß es berg­auf anstren­gend wird, weiß ich auch so. Wenn es kei­nen Spaß mehr macht, ist die Puls­fre­quenz ver­mut­lich hoch. Ich lege den Sen­sor inzwi­schen doch an. Für einen Anäs­the­sis­ten exis­tiert eine Vital­funk­tion nur, wenn man sie auch von einem Moni­tor able­sen kann. Mitt­ler­weile weiß ich, daß Rad­fah­ren bei einer per­sön­li­chen Fre­quenz von 145 anstren­gend ist, aber auch über län­gere Stre­cken geht. Ab 150 macht es weni­ger Spaß. Über 160 geht nicht lange. Und macht kei­nen Spaß.

Meine Lieb­lings­stre­cke führt mich von zuhause direkt ans Meer bei Le Pra­det. Dort geht es berg­auf und bergab auf einer Straße frei für Anlie­ger zwi­schen Pinien, Fel­sen, Man­del­bäu­men, Oli­ven und Fei­gen. Zur Zeit blühlt und duf­tet die Mimose. Dazu per­fekte Sicht aufs Was­ser und die Halb­in­sel von Giens dahin­ter. Knapp drei­ßig Kilo­me­ter, eine Rund­stre­cke von einer guten Stunde.

Kin­der­stimme von hin­ten. Kin­der­plap­pern. Dazwi­schen eine Frau­en­stimme. Bestimmt eine Mama, die ihr Kind in einen offe­nen Zwei­sit­zer packt, um es in die Schule nach Car­quei­ranne zu brin­gen. Hier oben, mit solch einer Aus­sicht, woh­nen Leute in Anwe­sen deut­lich jen­seits der Mil­lio­nen­grenze. Por­sche, X5 und kleine BMW ohne Dach.

Erstaun­li­cher­weise kom­men die Stim­men näher. Mut­ter und Kind unter­hal­ten sich. Das Kind unter­hält vor­wie­gend die Mut­ter. Die Mut­ter eher ein­sil­big. Ich kann ein­zelne Worte dif­fe­ren­zie­ren, kei­nen Inhalt. Zu weit weg. Und mein eige­nes Atmen ist zu laut. Sechs Pro­zent Stei­gung, 12,2 Stun­den­ki­lo­me­ter, Ten­denz fal­lend. Umge­kehrt pro­por­tio­nal zu mei­ner Herz­fre­quenz. Aktu­ell bei 152.

Regarde, maman, le mon­sieur!

Oui, ché­rie.

On va le dou­bler.

Oui, ché­rie.

Links in mei­nem Blick­feld taucht ein Fahr­rad auf. Ein Tou­ren­rad. Dann sehe ich die Fah­re­rin. Blon­der Pfer­de­schwanz. Kein Helm. Kein Trop­fen Schweiß, keine roten Fle­cken. Gebräunt und blond. Ich ver­su­che, ihr Lächeln zu erwi­dern.

Bon­jour Madame.

Bon­jour.

Auf dem Gepäck­trä­ger eine Schul­ta­sche. Was Rosa­far­be­nes mit gro­ßem Schrift­zug Hello Kitty. Und dann der Anhän­ger. Ein Anhän­ger! Wow! Im Anhän­ger ein Kind in vor­wie­gend rosa. Ein Mäd­chen. Auch son­nen­ge­bräunt und blond. Ein Helm immer­hin, rosa­far­ben, auch von Hello Kitty. Viel­leicht drei Jahre. Kin­der­gar­ten­kind. Petite sec­tion viel­leicht.

Bon­jour Mon­sieur!

Bon­jour ché­rie!

Maman, glaube ich, läßt sich zu einem Lächeln hin­rei­ßen. Zum Glück sagt sie nicht sowas wie Laisse le mon­sieur tran­quil, ché­rie. Ich bräuchte ihr Mit­leid nicht. Bitte nicht! 9,4 Stun­den­ki­lo­me­ter, Puls 162. Und es liegt nicht an dem blon­den Gespann. Na ja, viel­leicht doch. Die Schmach. Über­holt in der Stei­gung. Mühe­los mit Anhän­ger. Allein der Anhän­ger mit Kind wiegt sicher das Vier­fa­che mei­nes Fahr­rads.

Ich ver­su­che, wider bes­se­res Wis­sen, wenigs­tens dran zu blei­ben. 172. Ein paar Meter noch und ich würde reani­ma­ti­ons­pflich­tig umfal­len. Das Gespann ist unein­hol­bar. Wahr­schein­lich hat mich gerade die fran­zö­si­sche Vize­meis­te­rin im Tri­ath­lon über­holt. Nach­dem sie ihre Toch­ter im Kin­der­gar­ten abge­setzt hat, wird sie über den Markt schlen­dern, kilo­weise Bio-Obst und -Gemüse in den Wagen packen und zuletzt noch zwei Six­packs 1,5-Liter-Wasserflaschen von Casino holen. Für den Vor­mit­tag sollte das rei­chen. Heute Nach­mit­tag viel­leicht eben über die Bucht nach Giens schwim­men und über den Strand von l'Almanarre nach Hause ren­nen. Nach einer klei­nen Sieste wird sie gegen halb fünf ihr klei­nes Blon­des abho­len. Das dann aber im offe­nen Zwei­sit­zer.

Kann natür­lich auch sein, daß ihr Fahr­rad mit Strom fährt. Die Bat­te­rie unter der Schul­ta­sche auf dem Gepäck­trä­ger.

Am Faron, dem Haus­berg von Tou­lon, hatte ich neu­lich ein ähn­li­ches Erleb­nis. Der Faron ist gut über fünf­hun­dert Meter hoch und bie­tet an meh­re­ren Stel­len gran­diose Aus­sich­ten über die laut Eigen­wer­bung schönste Reede Euro­pas – la plus belle rade d'Europe.

Igel­fri­sur. Ärmel­lo­ses Sports­hirt, schwarz. Drah­tig, per­fekt durch­trai­niert. Kein Gramm zuviel. Frau Igel. Wahr­schein­lich Six­pack unter dem Rennshirt. Am Ober­arm ein iPhone. Tän­zelt ein paar Meter vor mir auf der Straße. Die Straße führt auf den Faron. 539 Höhen­me­ter auf der Straße maxi­mal. Wir befin­den uns auf 128 Höhen­me­tern. Meine Herz­fre­quenz liegt bei 150. Da kann ich noch bon­jour sagen, sogar noch lächeln. Sie hat, so wirkt es, nur auf mich gewar­tet. Sie wünscht mir einen guten Tag, bon­jour. Kaum bin ich an ihr vor­bei, bricht sie auf. Rechts ins Gebüsch. Da muß ein Wan­der­weg sein. Der Direkt­weg nach oben durchs Unter­holz, über Steine und Fel­sen. Sie wird nicht wan­dern mit ihrem iPhone am Arm, son­dern ren­nen. Knapp zehn Stun­den­ki­lo­me­ter. Berg­auf. Was für die ganz Har­ten. Das gehört ver­mut­lich zu ihrem per­sön­li­chen Trai­nings­pro­gramm für Réunion, la Dia­go­nale des Fous. Ein Ren­nen ein­mal quer durch die Île de La Réunion. Ins­ge­samt knapp zehn­tau­send Höhen­me­ter auf gut hun­dert­und­sech­zig Kilo­me­tern. Auch so eine Stre­cke wie hier am Faron. Nur län­ger. Die ren­nen da Tag und Nacht. Wahr­schein­lich krie­gen sie von der Land­schaft nicht viel mit. Schon gleich gar nicht im Licht­ke­gel ihrer Stirn­lam­pen. Das ist Frau Igels zweite Etappe für heute. Die erste hat sie schon hin­ter sich. Im Dun­keln. Mit Stirn­lampe. Sol­che Leute ren­nen in der Stei­gung über Stock und Stein schnel­ler als ich auf der Straße fahre. Ein Glück, daß sie durch die Wild­nis rennt. Erspart mir die Demü­ti­gung auf der Straße. Die würde mir einen hal­ben Kilo­me­ter Vor­sprung las­sen, nur um mich lächelnd zu über­ho­len. Lächelnd zu was Auf­mun­tern­dem. Wei­ter so, das wird schon. Bön cou­rage.

Hun­dert Höhen­me­ter und zwei Haar­na­del­kur­ven spä­ter, meine Herz­fre­quenz bei 164, jen­seits der Lächel­grenze, springt zwan­zig Meter vor mir ein Mensch mit einem Kampf­schrei aus dem Gebüsch. Von rechts. Frau Igel? So schnell? Kann nicht sein! Das muß Herr Igel sein. Herr und Frau Igel spie­len das Spiel jeden Sonn­tag. War­ten im Mor­gen­grauen auf Senio­ren mit Fahr­rad. Die Senio­ren mit Fahr­rad sind die Hasen. Ich bin ein Hase. Man­che Hasen fal­len gleich tot um, wenn Herr Igel aus dem Gebüsch springt. Vor Schreck. Andere legen sich noch mal rich­tig ins Zeug. Ster­ben wenig spä­ter im Herz­kam­mer­flim­mern beim Ver­such, ihre Geschwin­dig­keit über die des iPho­nes mit Six­pack zu trei­ben.

Ist aber kein Trick. Es ist defi­ni­tiv Frau Igel. Frau Igel ist Ein­zel­kämp­fe­rin, Herr Igel ein Fan­tom. Sie war­tet auf mich. Lächelt. Wei­ter so, das wird schon. Bön cou­rage!


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


Die­ser Text erschien in einer gekürz­ten Ver­sion am 12. März 2015 als Leser­ar­ti­kel bei ZEIT ONLINE (http://www.zeit.de/reisen/2015–03/radfahren-suedfrankreich-gps)

Pseudomnesie

Acacia dealbata 1000x500

Vor vie­len Jah­ren, wäh­rend mei­nes ers­ten Schul­jah­res, ver­brachte ich mit mei­nen Eltern und mei­nen Brü­dern ein paar Monate in Süd­frank­reich. Irgendwo bei Vence hat­ten wir ein Haus mit offe­nem Kamin gemie­tet. Vier Monate lang. Mit­ten in der ers­ten Klasse Grund­schule. Meine Mut­ter war Grund­schul­leh­re­rin. Lesen und Schrei­ben habe ich da mit ihr gelernt und meine ers­ten Briefe an Oma und Opa in gro­ßen, unge­len­ken Buch­sta­ben gemalt. Neben im Kamin­feuer ange­ko­kel­ten Pan­tof­feln gehört auch die Mimo­sen­blüte in Süd­frank­reich zu den Erin­ne­run­gen an diese Zeit.

Jetzt, viele Jahre spä­ter, habe ich Mimo­sen im eige­nen Gar­ten. Über­all. Zwi­schen den Pal­men, Eichen, Zedern, Euka­lyp­tus­bäu­men. Mimo­sen wach­sen hier wie Unkraut. Wie Löwen­zahn in West­fa­len. Blü­hen gerade. Oder immer noch. Mimo­sen blü­hen immer wie­der zu die­ser Jah­res­zeit. Über Wochen hin­weg blüht immer ein ande­rer Baum. Je nach Stand­ort und Son­nen­ein­strah­lung ver­mut­lich. Die ers­ten blü­hen ab Mitte Januar und sind schon lange ver­blüht. Das geht bis Ende März. Wenn es warm genug ist, duf­ten sie ganz inten­siv. Ganze Land­stri­che fin­den sich unter Mino­sen­duft. Aus der win­ter­li­chen Kälte in die Wärme der Woh­nung geholt, kön­nen Mimo­sen­zweige ein dra­ma­ti­sches Duft­po­ten­tial ent­wi­ckeln.

Dabei ist meine fran­zö­si­sche Mimosa gar keine echte Mimose. Sagt außer wiki­pe­dia auch die Fach­li­te­ra­tur. Die Mimosa im Gar­ten ist eine Acacia deal­bata, Sil­ber-Aka­zie. Eine Aka­zie. Mimose und Aka­zie gehö­ren bota­nisch zwar zur glei­chen Fami­lie der Mimo­saceae, in die­ser Fami­lie aber zu unter­schied­li­chen Gat­tun­gen, Mimosa und Acacia. Die Mimosa in mei­nem Gar­ten ist immi­griert aus Aus­tra­lien. Mit­ge­bracht von Nico­las Bau­din, einem See­fah­rer, und erst­ma­lig geplanzt von Napo­le­ons Frau Josphine im Park ihres Châ­teau de Mal­mai­son. 1804. Sagt die fran­zö­si­sche Wiki­pe­dia.

Die Pflanze hat eine gewisse Ähn­lich­keit mit den ech­ten Mimosa. Arten der Gat­tung Mimosa kom­men aber nur in der Neo­tro­pis vor. Neo­tro­pis? Neo­tro­pis ist ein Begriff aus der Bio­geo­gra­phie. Mit­tel- und Süd­ame­rika mit Aus­nahme der süd­li­chen Anden, die ihrer­seits zur Ant­ark­tis zäh­len. Bio­geo­gra­phisch. Wie auch immer auch weit weg.

Die wirk­li­che Mimosa heißt auch "Sinn­pflanze", weil sie so sen­si­bel ist. Wiki­pe­dia weiß eine ganze Reihe schö­ner Begriffe zur Sinn­lich­keit von Pflan­zen: Nas­tien. Unspe­zi­fisch reak­tive, aber gerich­tete Bewe­gungs­phä­no­mene. Unter ande­rem Seis­mo­nas­tie (Erschüt­te­rung), Che­mo­nas­tie (che­mi­scher Reiz), Pho­to­nas­tie (Licht), Ther­mo­nas­tie (Hitze) und Thig­mo­nas­tie, der Reak­tion auf Berüh­rungs­reize. Ver­tre­ter der Gat­tung Mimosa, die Mimo­sen im bota­ni­schen kor­rek­ten Sinn, klap­pen bei Berüh­rung ihre gefie­der­ten Blät­ter zusam­men. Thig­mo­nas­tie. Wahr­schein­lich eine Schutz­re­ak­tion. Und eben nicht nur bei Berüh­rung. Reicht wohl schon ein klei­ner Wind­hauch. Ein Regen­trop­fen. So erklärt sich auch der über­tra­gene Begriff. Klar. Die mensch­li­che Mimose hält auch nichts aus. Ein klei­ner Kom­men­tar zum Schwab­bel unter dem Karo­hemd und schon gibt er sich drei Tage demons­tra­tiv ein­sil­big. Oder ein ver­ges­se­ner Hoch­zeits­tag. Drei Tage Migräne. Das kenne ich auch von mir. Gibt es. Sel­ten, glaube ich, aber gibt es. Nicht gerade den Schwab­bel unter dem Karo­hemd betref­fend. Ich trage schon seit Jah­ren keine Karo­hem­den mehr.

Meine Unkraut-Mimosa im Gar­ten, meine Acacia deal­bata, hat lei­der, zu mei­ner Ent­täu­schung, keine Sinn­lich­keit, klappt ihre gefie­der­ten Blät­ter nicht zusam­men. Zumin­dest nicht auf deli­kate thig­mo­nas­ti­sche Reize. Auch nicht auf grobe. Umge­sägt, abge­hakt, zum Ver­bren­nen auf einen Hau­fen gesta­pelt dann schon. Eine Ter­mi­nal­re­ak­tion also. Die Blät­ter trock­nen aus und fal­ten sich. Hat mit Thig­mo­nas­tie nichts zu tun. Geht nicht mal als Ther­mo­nas­tie oder Trau­mato­nas­tie durch.

Ande­rer­seits gehört die Thig­mo­nas­tie der fran­zö­si­schen Mimo­sen zu mei­nen frü­hen Kind­heits­er­in­ne­run­gen. In der Erin­ne­rung waren wir immer wie­der unter­wegs unter Mimo­sen. Mimo­sen­wäl­der gibt es hier über­all. Namens­ge­bend zum Bei­spiel um Bor­mes-les-Mimo­sas. Ganz viel auch im Este­rel, im Mas­sif des Mau­res und im Mas­sif du Tan­ne­ron. Eine kleine Berüh­rung und die Blät­ter fal­te­ten sich. Direkt vor mei­nen Augen. Mein Vater war ein Held, weil er mir sowas Wun­der­ba­res zei­gen konnte. Und jetzt sagt Wiki­pe­dia, sol­che Mimo­sen gibt es nur in der Neo­tro­pis. Muß ein klas­si­scher Fall von Pseud­omne­sie sein. Erin­ne­rungs­täu­schung, Schein­erin­ne­rung.

Kann natür­lich auch in einer Jar­di­ne­rie mit süd­ame­ri­ka­ni­schen Exo­tika gewe­sen sein. Im Alter von sechs Jah­ren schei­nen fast alle Pflan­zen baum­groß.


Modi­fi­ziert, gekürzt zur Publi­ka­tion in der März­aus­gabe der Riviera-Zeit. 3.943 Zei­chen.

Vor vie­len Jah­ren, wäh­rend mei­nes ers­ten Schul­jah­res, ver­brachte ich mit mei­nen Eltern und mei­nen Brü­dern ein paar Monate in Süd­frank­reich. Irgendwo bei Vence hat­ten wir ein Haus mit offe­nem Kamin gemie­tet. Mit­ten in der ers­ten Klasse Grund­schule. Lesen und Schrei­ben habe ich da mit mei­ner Mut­ter gelernt und meine ers­ten Briefe an Oma und Opa in gro­ßen, unge­len­ken Buch­sta­ben gemalt. Neben im Kamin­feuer ange­ko­kel­ten Pan­tof­feln gehört auch die Mimo­sen­blüte zu mei­nen Erin­ne­run­gen.

Jetzt, viele Jahre spä­ter, habe ich Mimo­sen im eige­nen Gar­ten. Über­all. Mimo­sen wach­sen wie Unkraut. Wie Löwen­zahn in West­fa­len. Blü­hen gerade. Oder immer noch. Mimo­sen blü­hen immer wie­der zu die­ser Jah­res­zeit. Über Wochen hin­weg blüht immer ein ande­rer Baum. Je nach Sorte, Stand­ort und Son­nen­ein­strah­lung ver­mut­lich. Die ers­ten blü­hen ab Mitte Januar und sind schon lange ver­blüht. Das geht bis Ende März. Wenn es warm genug ist, duf­ten sie ganz inten­siv. Ganze Land­stri­che fin­den sich unter Mino­sen­duft. Aus win­ter­li­cher Kälte in die Wärme der Woh­nung geholt, kön­nen Mimo­sen­zweige ein dra­ma­ti­sches Duft­po­ten­tial ent­wi­ckeln.

Dabei ist meine fran­zö­si­sche Mimosa gar keine echte Mimose. Sagt außer wiki­pe­dia auch die Fach­li­te­ra­tur. Die Mimosa im Gar­ten ist eine Acacia deal­bata, Sil­ber-Aka­zie. Mimose und Aka­zie gehö­ren bota­nisch zwar zur glei­chen Fami­lie der Mimo­saceae, in die­ser Fami­lie aber zu unter­schied­li­chen Gat­tun­gen. Die Mimosa in mei­nem Gar­ten ist immi­griert aus Aus­tra­lien. Mit­ge­bracht von einem See­fah­rer und erst­ma­lig geplanzt im Park des Châ­teau de Mal­mai­son. 1804.

Die Pflanze hat eine gewisse Ähn­lich­keit mit der ech­ten Mimosa. Diese kommt aber nur in der Neo­tro­pis vor. Neo­tro­pis? Neo­tro­pis ist ein Begriff aus der Bio­geo­gra­phie. Mit­tel- und Süd­ame­rika mit Aus­nahme der süd­li­chen Anden, die ihrer­seits zur Ant­ark­tis zäh­len. Bio­geo­gra­phisch. Weit weg.

Die wirk­li­che Mimosa heißt auch "Sinn­pflanze", weil sie so sen­si­bel ist. Wiki­pe­dia weiß eine ganze Reihe schö­ner Begriffe zur Sinn­lich­keit von Pflan­zen: Nas­tien. Unspe­zi­fisch reak­tive, aber gerich­tete Bewe­gungs­phä­no­mene. Schutz­re­ak­tio­nen. Unter ande­rem Seis­mo­nas­tie, Che­mo­nas­tie, Pho­to­nas­tie und Ther­mo­nas­tie. Ver­tre­ter der Gat­tung Mimosa, der Mimo­sen im bota­ni­schen kor­rek­ten Sinn, klap­pen bei Berüh­rung ihre gefie­der­ten Blät­ter zusam­men. Thig­mo­nas­tie. Und eben nicht nur bei Berüh­rung. Reicht wohl schon ein klei­ner Wind­hauch. Ein Regen­trop­fen. So erklärt sich auch der über­tra­gene Begriff. Klar. Die mensch­li­che Mimose hält auch nichts aus. Ein klei­ner Kom­men­tar zum Schwab­bel unter dem Karo­hemd und schon gibt er sich drei Tage demons­tra­tiv ein­sil­big. Oder ein ver­ges­se­ner Hoch­zeits­tag. Drei Tage Migräne. Das kenne ich auch von mir. Sel­ten, glaube ich, aber gibt es. Nicht gerade den Schwab­bel unter dem Karo­hemd betref­fend. Ich trage schon seit Jah­ren keine Karo­hem­den mehr.

Meine Unkraut-Mimosa im Gar­ten, meine Acacia deal­bata, hat lei­der, zu mei­ner Ent­täu­schung, keine Sinn­lich­keit, klappt ihre gefie­der­ten Blät­ter nicht zusam­men. Über­haupt nicht. Nicht auf deli­kate thig­mo­nas­ti­sche Reize und auch nicht auf grobe. Umge­sägt, abge­hakt, gesta­pelt dann schon. Die Blät­ter trock­nen aus und fal­ten sich. Hat mit Thig­mo­nas­tie nichts zu tun. Geht nicht mal als Ther­mo­nas­tie oder Trau­mato­nas­tie durch.

Ande­rer­seits gehört die Thig­mo­nas­tie der fran­zö­si­schen Mimo­sen zu mei­nen frü­hen Kind­heits­er­in­ne­run­gen. In der Erin­ne­rung waren wir unter­wegs unter Mimo­sen. Mimo­sen­wäl­der gibt es hier über­all. Namens­ge­bend zum Bei­spiel um Bor­mes-les-Mimo­sas. Eine kleine Berüh­rung und die Blät­ter fal­te­ten sich. Direkt vor mei­nen Augen. Mein Vater war ein Held, weil er mir sowas Wun­der­ba­res zei­gen konnte. Und jetzt sagt Wiki­pe­dia, sol­che Mimo­sen gibt es nur in der Neo­tro­pis. Muß ein klas­si­scher Fall von Pseud­omne­sie sein. Erin­ne­rungs­täu­schung, Schein­erin­ne­rung.

Kann natür­lich auch in einer Jar­di­ne­rie mit süd­ame­ri­ka­ni­schen Exo­tika gewe­sen sein. Im Alter von sechs Jah­ren schei­nen fast alle Pflan­zen baum­groß.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


Einrichtung des öffentlichen Gesundheitswesens

Kom­mende Woche, ab mor­gen, habe ich meine grie­chi­sche Woche. Grie­chi­sche Woche? Der Begriff hat hier nur wenig kuli­na­ri­schen Hin­ter­grund. Ist – ich gebe es zu, ich schwimme da völ­lig unbe­fan­gen auf der aktu­el­len Woge eines Vor­ur­teils – eine Stei­ge­rungs­form der süd­fran­zö­si­schen Ver­sion zur loka­len Arbeits­mo­ral. Arbeit dabei in Anfüh­rungs­zei­chen – "Arbeit". Tra­vail­ler – wört­lich: arbei­ten – hat im süd­fran­zö­si­schen Sinn außer Abwe­sen­heit von zuhause wenig gemein mit der ger­ma­ni­schen Vor­stel­lung von Arbeit. Im Rah­men der grie­chi­schen Woche in der medi­ter­ra­nen Ein­rich­tung des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens ist der betrof­fene Kol­lege für die anäs­the­sio­lo­gi­sche Visite auf den chir­ur­gi­schen Sta­tio­nen zustän­dig. Wir haben eine vis­ze­ral­chir­ur­gi­sche Sta­tion mit viel­leicht drei­ßig Bet­ten und eine ortho­pä­di­sche Chir­ur­gie. Auch drei­ßig Bet­ten. Kaputte Hüf­ten, Hand­ge­lenke. So Sachen. Anäs­the­sio­lo­gi­sche Visite also auf chir­ur­gi­schen Sta­tio­nen.

Visite?

Die Abtei­lung für Anäs­thesiolo­gie küm­mert sich um das Kalium, die Diurese und den Schmerz auf chir­ur­gi­schen Sta­tio­nen. Weil der Chir­urg keine Ahnung hat von Elek­tro­ly­ten, Lasix und Schmerz­the­ra­pie jen­seits von Parazeta­mol. Oder keine Ahnung haben will davon. Keine Ahnung haben wol­len paßt zur süd­fran­zö­si­schen Men­ta­li­tät. Zur grie­chi­schen gehört zusätz­lich der Anäs­the­sist. Fach­arzt. Beam­ter. Voll­zeit. Der Auf­tritt des fach­ärzt­li­chen Voll­zeit­be­am­ten mit anäs­the­sio­lo­gi­schem Hin­ter­grund – Kalium, Lasix, Mor­phium – fin­det gegen zehn Uhr statt. Vor­her ist sinn­los, weil es da noch keine Labor­werte gibt. Die Visite fin­det am Com­pu­ter statt. Mit einer Schwes­ter. Dau­ert nor­ma­ler­weise um die 15 (in Wor­ten: fünf­zehn) Minu­ten. In der Kno­chen­chir­ur­gie. In der Vis­ze­ral­chir­ur­gie besteht sie aus einer simp­len Frage: Gibt es was für mich? Wor­auf die betrof­fene Schwes­ter die Liste ihrer Pati­en­ten kurz über­fliegt und auf die bekann­ten Kri­te­rien – Kalium, Diurese, Mor­phium – prüft. Meis­tens fällt ihr nichts ein. Eine Minute drei­ßig. Mit Küß­chen links, rechts und drei Wor­ten zum Wochen­ende, je nach Schwes­ter, kom­men fünf Minu­ten dazu. Sozia­ler Kon­text. Das gehört zur Anäs­the­sio­lo­gie. Das kön­nen wir im Prin­zip ganz gut. Gehört auch zum Beam­ten­sta­tus. Und zur süd­fran­zö­si­schen Men­ta­li­tät. Zur grie­chi­schen sowieso.

Visite ist ein­fach und kurz.

Wis­sen alle, wür­den meine Kol­le­gen aber nie zuge­ben. Im Gegen­teil. Bur­nout auf chir­ur­gi­schen Sta­tio­nen der Grund­te­nor. Viel­leicht haben sie für sich per­sön­lich recht. Das liegt aber ver­mut­lich daran, daß sie das mit dem sozia­len Kon­text nicht aus­rei­chend beher­zi­gen. Statt­des­sen rum­schreien. Wofür auch immer. Weil gerade keine Schwes­ter für sie Zeit hat, erst noch die chir­ur­gi­sche Kon­kur­renz küs­sen muß. Oder die Labor­werte noch nicht aus­ge­druckt sind. Sowas. Es geht ums Prin­zip. Auch als Anäs­the­sist bin ich Arzt und schon alleine des­halb irgend­wie Chef. Rum­schreien ist anstren­gend und führt nicht wei­ter.

Auf­wen­dig, rich­tig auf­wen­dig kann es wer­den, wenn man noch prä­me­di­zie­ren muß. Plan­ein­griffe für mor­gen oder sonst­wann. Für die Not­fälle – heute irgend­wann – bin ich nicht zustän­dig. Das Nicht­zu­stän­dig­sein ist schön und paßt zum Beam­ten­sta­tus. Der Klas­si­ker, wie in der Behörde, nicht Zim­mer A35 oder C17, son­dern B16. Und die Sach­be­ar­bei­te­rin in B16 weiß gar nicht, kann viel­leicht gar nicht wis­sen, worum es gerade geht. Wenn sie über­haupt da ist. Damit kann man Chir­ur­gen zum Wei­nen brin­gen. Sogar süd­fran­zö­si­sche. Ich bin nicht zustän­dig. Wer denn? Keine Ahnung. Ruf' doch mal im Auf­wach­raum an. Im Auf­wach­raum geht fast nie jemand ans Tele­fon.

Zwei, drei ernst­ge­meinte Prä­me­di­ka­tio­nen kön­nen einen dage­gen ganz schön aus dem Timing brin­gen. Wenn sie nicht wirk­lich drin­gend sind, kann man sie aller­dings auch noch auf mor­gen ver­schie­ben.

Gutes Timing in der grie­chi­schen Woche heißt Mit­tag­essen zuhause. Hier kommt der kuli­na­ri­sche Aspekt rudi­men­tär ins Spiel. Zwölf Uhr spä­tes­tens also an der Schranke zum Ärz­te­park­platz. Im Auto. Die Schranke im Rück­spie­gel. Zuhause unbe­dingt das Tele­fon im Auto ver­ges­sen!

Abends muß man dann aller­dings noch mal hin. Plan­mä­ßig auf­ge­nom­me­nen Pati­en­ten für mor­gen bon­jour sagen, Fra­gen beant­wor­ten, mit­ge­brachte Labor­werte angu­cken und sagen, daß alles gut­ge­hen würde. Bonne nuit. Halbe Stunde. Ein­schließ­lich sozia­lem Kon­text mit der Spät­schicht. Eine Stunde mit An- und Abreise.

Zuhause, zwi­schen den Visi­ten, Zeit genug für Mit­tag­essen in der Sonne. Aus­gie­bige Sieste. Viel­leicht ein biß­chen Haus­halt, Ein­käufe. Spä­ter Fein­schliff an den Haus­auf­ga­ben der Kin­der. Mitt­woch habe ich ohne­hin frei. Macht geschätzt immer­hin elf Wochen­stun­den. Wird aber gezählt wie fünf­und­drei­ßig. Wenn das nicht grie­chi­sche Zustände sind?

Kann ich gut, die grie­chi­sche Woche gefällt mir. Geht auch als Allein­er­zie­her, wenn zum Bei­spiel die Mut­ter mei­ner Kin­der Dienst hat, auf Fort­bil­dung ist oder in Fern­ost Huma­ni­tär­me­di­zin betreibt.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


Kollateraltröpfchen

Hallo Herr Redak­teur!

Ges­tern waren wir in der Oper von Tou­lon, meine Frau und ich. Wir haben Con­tes d'Hoffmann – Hoff­manns Erzäh­lun­gen – von Jac­ques Offen­bach gese­hen und ich mußte an Sie den­ken. Nein, nicht wirk­lich an Sie direkt, son­dern an ein Inter­view in ZEIT ONLINE. Herr Dasch­ner wurde inter­viewt von Nicola Meier viel­leicht haben Sie es ja selbst gele­sen. Herr Dasch­ner ist ein alter Bekann­ter für mich. In mei­nen jun­gen Jah­ren im Beruf war er der Spe­zia­list der Hygiene im all­ge­mei­nen und der Anti­bio­the­ra­pie im Spe­zi­el­len. Als AiP hatte ich ihn immer in der Kit­tel­ta­sche. Anti­bio­tika am Kran­ken­bett. Und offen­bar ist er immer noch der Spe­zia­list.

Ges­tern in der Oper mußte ich an die­ses Inter­view den­ken. Was Hän­de­wa­schen angeht, ist der Mann ein Fer­kel. Sagt Herr Dasch­ner.

Im Rah­men unse­res Abon­ne­ments sit­zen wir im Par­kett. Das ist fast so wie im Kino. Man kann den Kopf anleh­nen. Gera­de­aus nach vorne ist die Bühne. Frü­her saßen wir immer oben irgendwo. Das ist zu kurz an den Knien und ohne Anleh­nen am Kopf. Die Bühne zudem schräg rechts oder links. Am Ende immer schreck­li­che Kopf­schmer­zen vor lau­ter Ver­span­nung. Und der Hitze wegen. Sie haben diese Oper gerade erst über ein gan­zes Jahr reno­viert, aber die Kli­ma­an­lage ver­ges­sen oder weg­ge­las­sen. Bestimmt gab es für das Weg­las­sen der Kli­ma­an­lage eine Öko-Pla­kette. Oben auf den bil­li­gen Plät­zen sam­melt sich die Hitze. Und die Aus­düns­tun­gen der Herr­schaf­ten unten auf den teu­ren Par­kett­plät­zen. Oben muß man auch immer gucken. Zumin­dest auf die­sen seit­li­chen Plät­zen kann man nicht mal kurz die Augen zuma­chen, weil man sich ja im Blick­win­kel eines Nach­barn befin­det. Macht einen schlech­ten Ein­druck, wenn man in der Oper däm­mert. Geht oben ohne­hin nur ganz schlecht, weil man den Kopf ja nicht anleh­nen kann.

Das alles ist unten bes­ser. Par­kett, I1 und I3, mit­ten­drin. Die Leh­nen ein biß­chen spe­ckig. Roter, spe­cki­ger Samt. Samti­mi­ta­tion ver­mut­lich, Poly­es­ter. Um einen herum nur Senio­ren. Weiß­haa­rig. Hun­derte, Tau­sende haben ihre wei­ßen Schöpfe schon an diese Leh­nen gelehnt. Nicht wirk­lich appe­tit­lich der Gedanke. Fin­det Herr Dasch­ner auch. Ein biß­chen so wie im D-Zug.

In der Pause ren­nen wir immer mit den Ers­ten aus dem Saal. Eine halbe Etage wei­ter oben gibt es einen Fest­saal mit einer Art Bar in einer Ecke. Mehr ein impro­vi­sier­ter Aus­schank mit sozia­lis­ti­schem Charme. Mini­ma­lis­tisch. Nur drei Bedie­nun­gen, die natür­lich in die­ser Vier­tel­stunde Pause hoff­nungs­los über­las­tet sind. Und in ihrer Über­for­de­rung sozia­lis­ti­schen Charme ver­sprü­hen. Mini­ma­lis­ti­schen Charme. Wenn man nicht zu den Ers­ten an die­sem Aus­schank gehört, hat man sei­nen Sekt erst, wenn die Pause schon fast wie­der zu Ende ist. Die Senio­ren drän­gen sich mit har­ten Ellen­bo­gen wie die Schweine am Trog. Es gibt Was­ser mit und ohne Koh­len­säure, diverse Frucht­säfte, ein paar Sor­ten Zucker­brau­se­lö­sun­gen und Cham­pa­gner. Fünf Euro fünf­zig die Schale Cham­pa­gner. Wir trin­ken jeder eine Schale.

Nach dem Sekt gehe ich fast immer auf Toi­lette. Nichts ist blö­der, wenn man unten, den Kopf schön ange­lehnt an etwas spe­cki­gen Leh­nen unter Sekt­ein­fluß die Augen einen Moment, einen Moment nur, zuma­chen möchte und dann erst merkt, daß die Blasé zu voll ist. Wenn es ganz schlimm kommt, kann man an gar nichts ande­res mehr den­ken als an seine volle Blasé. Man kann nicht mehr zuhö­ren, geschweige denn die Augen schlie­ßen und ein biß­chen weg­däm­mern. Des­we­gen immer schnell noch auf Toi­lette.

Die Tür zur Her­ren­toi­lette klemmt etwas beim Öff­nen. Wahr­schein­lich auch eine Folge der Reno­vie­rung. Der Mar­mor­bo­den ist etwas uneben gera­ten. Dafür schließt sie auto­ma­tisch und hef­tig, mit lau­tem Knall. Der Feder­me­cha­nis­mus der Tür stammt wahr­schein­lich aus dem Bau­markt und ist schlecht ein­ge­stellt. Gleich hin­ter der Tür der Vor­raum mit einer Wasch­be­cken­zeile in durch­ge­hen­der Stein­platte. Die Was­ser­hähne bil­lige Bau­markt­ware, Desi­gner­mo­del­len nach­emp­fun­den. Alle wackeln im Mar­morimi­tat. Offen­bar kamen auch die Instal­la­teure aus dem Bau­markt. Links der Wasch­be­cken­zeile ein Klo mit Tür und ein offe­ner Raum mit Piss­be­cken­zeile. Vier Stück davon, etwas zu dicht neben­ein­an­der. Man kann dem Her­ren nebenan auf den Pim­mel gucken. Mich hemmt das, wenn mir jemand beim Pin­keln zuguckt. Allein die Idee schon, daß neben mir jemand gucken könnte, macht mir akute Pro­sta­ta­hy­per­tro­phie. Manch­mal wer­den zwei Her­ren, zumeist grau­haa­rig, neben mir fer­tig, bevor es bei mir zu tröp­feln beginnt. Ältere Her­ren haben es immer eilig. Oft packen sie ihren Pim­mel erst im Weg­dre­hen wie­der rich­tig ein. Neun­zig Pro­zent aller Toi­let­ten­be­su­cher waschen ihre Hände nicht. Und zer­ren mit unge­wa­sche­nen Hän­den am Tür­knauf. Ich wasche meine Hände immer. In der Oper am Desi­gne­ri­mi­tat. Mit Seife aus dem Spen­der. Ist sogar immer wel­che drin. Wäh­rend­des­sen ver­läßt der letzte Senior den Raum. Mit lau­tem Knall fällt die Tür zu.

In die­sem Moment, mit die­sem Knall, beginne ich diese Men­schen mit Wasch­zwang zu ver­ste­hen. Man kann die­sen Tür­knauf nicht anfas­sen. Da klebt Urin dran. Auch wenn die Her­ren den Trop­fen, der ihnen zwi­schen die Fin­ger gekom­men ist, schnell an ihrer Hose abge­wischt haben. Spu­ren ihrer Aus­schei­dun­gen kle­ben an die­sem Tür­knauf. Spu­ren Hun­der­ter von Tröpf­chen. Das kann ich nicht anfas­sen. Die Trop­fen sieht man natür­lich nicht. Aber ich weiß davon. Ich habe ja gerade erst den Mecha­nis­mus gese­hen. Aus nächs­ter Anschau­ung. Män­ner, die sich den letz­ten Trop­fen vom Pim­mel schüt­teln. Kol­la­te­ral­t­röpf­chen an den Fin­gern. Und jetzt zwangs­läu­fig am Tür­knauf. Weil sich kaum einer die Hände wäscht vor lau­ter Eile. Eine Tür, die klemmt und nach innen auf­geht. Ginge sie nach außen auf, zum Flur hin, könnte ich sie ja ein­fach mit dem Fuß auf­schie­ben. Ich kann das nicht anfas­sen! Wenn wenigs­tens auf dem Flur dahin­ter noch ein Wasch­be­cken wäre! Oder ich Ein­mal­hand­schuhe aus dem Kran­ken­haus dabei­hätte. Oder ein Tempo, irgend­was, womit ich die­sen Tür­knauf ohne Direkt­kon­takt anfas­sen könnte. An der Wasch­zeile gibt es – ganz öko­lo­gisch, das muß ein Uni­kat sein an der gesam­ten Côte d'Azur – keine Papier­hand­tuchs­pen­der, son­dern so einen Hand­tuch-Band­au­to­ma­ten. So ein Ding, aus dem man einen hal­ben Meter fri­sches Hand­tuch zieht und gleich­zei­tig der benutzte Teil des Ban­des unten in der Kiste ver­schwin­det. Nichts, was man mit­neh­men könnte, nichts, was als Schutz vor Urin­spu­ren geeig­net wäre. Ich kann nur auf einen wei­te­ren eili­gen Senio­ren hof­fen. Dicht an der Tür war­ten, rein­las­sen, Fuß in die Tür und mich ret­ten, bevor sie wie­der zuknallt.

Das nächste Mal werde ich eine Packung Tem­pos dabei­ha­ben. Zumin­dest eins. Um den Tür­knauf im Her­ren­klo anfas­sen zu kön­nen. Aber das nehme ich mir schon seit Jah­ren vor.

Ande­rer­seits gibt es eben die Aus­sa­gen von Herrn Dasch­ner bei der ZEIT. Da spricht er von der über­all und mas­sen­haft vor­han­de­nen Mikrobe, die eigent­lich nie krank­ma­chend ist. Nicht mal im ICE-Abteil und den zuge­schis­se­nen Zug­toi­let­ten. Nur in der offe­nen Wunde. Sagt Herr Dasch­ner. Ich sollte mich also nicht so anstel­len auf dem Opern­klo in Tou­lon. Völ­lig unge­fähr­lich. Und außer­dem völ­lig nor­mal das mit den Kol­la­te­ral­t­röpf­chen. Unge­fähr­lich sowieso. Aber auch nor­mal. Auf einem Kon­gress von Hygie­ni­kern haben sie eine Art wis­sen­schaft­li­che Erhe­bung durch­ge­führt, erzählt Herr Dasch­ner in sei­nem Inter­view. In den Toi­let­ten des Kon­gress-Zen­trums. Das Resul­tat: nicht ein­mal die Hälfte der Teil­neh­mer, Aka­de­mi­ker immer­hin und Spe­zia­lis­ten, was die Mikrobe betrifft, wäscht sich die Hände nach der Toi­let­ten­be­nut­zung. Alles nicht so schlimm also. Nor­mal gera­dezu.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Französische Hölle

Das reicht nicht für das Para­dies. Du mußt in die Hölle. Aber dir bleibt die Wahl zwi­schen deut­scher Hölle und fran­zö­si­scher.

Na gut. Wie sieht's denn in der deut­schen Hölle aus?

In der deut­schen Hölle gibt es sie­den­des Öl, glü­hende Kohle, ros­tige Nägel unter die Zehen­nä­gel, Zan­gen, Dau­men­schrau­ben.

Und was gibt es in der fran­zö­si­schen?

In der fran­zö­si­schen Hölle gibt es sie­den­des Öl, glü­hende Kohle, ros­tige Nägel unter die Zehen­nä­gel, Zan­gen, Dau­men­schrau­ben.

Das ist ja das Glei­che!

Im Prin­zip schon, ich würde dir aber die fran­zö­si­sche emp­feh­len.

Wieso das, was ist der Unter­schied?

In der fran­zö­si­schen Hölle gibt es mal kein Öl, mal keine Nägel. Und die Zan­gen funk­tio­nie­ren auch nicht immer. Manch­mal streikt das Per­so­nal.

So ähn­lich geht der Lieb­lings­witz mei­ner Frau.

Im Kino von La-Salle-les-Alpes. La-Salle-les-Alpes liegt in den fran­zö­si­schen Alpen, ist Teil des Ski­ge­biets von Serre Che­va­lier ober­halb von Bri­ançon. Tiefs­tes Frank­reich. Die gut neun­hun­dert stän­di­gen Ein­woh­ner von La-Salle-les-Alpes leben vom Tou­ris­mus, vor allem Ski-Tou­ris­mus. Gegen­über des Centre com­mer­cial das Kino, "Le Con­corde", ein zweck­mä­ßi­ger Bau aus den Sech­zi­ger Jah­ren. Jeden Tag andere Filme. Zwei Säle, zwei Vor­stel­lun­gen, eine um 18 Uhr, die zweite um 21 Uhr. Vier ver­schie­dene, halb­wegs aktu­elle Filme, ein rich­ti­ges Pro­gramm! Bei Schnee­fall eine wei­tere Vor­stel­lung um 14:30 Uhr. Wahr­schein­lich wird das Kino mas­siv sub­ven­tio­niert.

Vor­ges­tern, Mon­tag, haben wir "La nuit au musée 3" gese­hen. Er müßte uns dar­auf hin­wei­sen, daß die Hei­zung nicht funk­tio­nie­ren würde, sagte der junge Mann an der Kasse. Die aktu­elle Raum­tem­pe­ra­tur, ergänzte er unge­fragt, läge bei zehn Grad. Dafür gebe es alle Plätze zum Kin­der­ta­rif von 4,50 Euro.

Ges­tern woll­ten wir "Pad­ding­ton" in der Früh­vor­stel­lung um 18 Uhr sehen. Der glei­che junge Mann wies uns wie­der dar­auf hin, daß die Hei­zung nicht funk­tio­nie­ren würde. Die aktu­elle Raum­tem­pe­ra­tur prä­zi­sierte er – auf Nach­frage – mit "etwa zehn Grad". Die Plätze gab es zum Ein­heits­ta­rif von nur noch 3,50 Euro. Zehn Grad kann man ein­ein­halb Stun­den aus­hal­ten. Immer­hin ist es wind­still im Kino.

Um 18:30 Uhr bit­tet der junge Mann den halb gefüll­ten Saal um Auf­merk­sam­keit. "Pad­ding­ton" könne er aus "ver­mut­lich" tech­ni­schen Grün­den nicht star­ten, weder in die­sem Saal noch im ande­ren. Er würde uns alter­na­tiv einen Zei­chen­trick­film anbie­ten – "Les Nou­veaux Héros". Oder den Ein­tritts­preis zurück­er­stat­ten. Bei die­sen Wor­ten beginnt sich der Saal zu lee­ren. Wir blei­ben. Eine wei­tere Vier­tel­stunde spä­ter, kurz vor dem Ende des Vor­films ent­steht Tumult im Ein­gangs­be­reich hin­ten. Flu­chende Väter, zischende Müt­ter, quen­gelnde Kin­der. Offen­bar war auch die Rück­erstat­tung der Ein­tritts­kar­ten wegen "ver­mut­lich" tech­ni­scher Hin­der­nisse nur teil­weise erfolg­reich.

Fran­zö­si­sche Hölle.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Geburtshilfe

Der Klas­si­ker zur Dienstüber­gabe der Heb­am­men. Die ganze Nacht kein ein­zi­ger Hil­fe­ruf an den dienst­ha­ben­den Anäs­the­sis­ten und kaum ist Phil­ippe da, Phil­ippe die Heb­amme, über­ge­wich­ti­ger Gesichts­haar­trä­ger, geht es nicht mehr ohne mich. 7:12 Uhr. Eine Zweit­ge­bä­rende bei drei Zen­ti­me­tern. Hat sie denn Schmer­zen? Ben, oui, sie hat schon etwas Schmer­zen. Ich muß mich aus dem Bett in mein Grün­zeug quä­len, Zähne put­zen. Wir tei­len unsere Toi­lette, ein Wasch­be­cken und eine gam­me­lige Dusch­ka­bine mit den Inten­siv­me­di­zi­nern. Ein­mal über den Flur. Wenn man Pech hat, putzt sich der Inten­siv­dok­tor gerade die Zähne. Keine zehn Minu­ten spä­ter eine Nach­richt auf mei­nem Handy. Von 7:24 Uhr. Ève, die Heb­amme, noch übrig aus der Nacht­schicht. Nicht mehr nötig, sagt sie. Die Frau hat ent­bun­den. Aha. Geburts­hilfe vom Feins­ten.

Schlim­mer aber noch der Anruf um 2:32 Uhr. Wie ein Eimer Eis­was­ser im Tief­schlaf. Letz­ten Sonn­tag. Von Sébas­tien, der Heb­amme. Kein Gesichts­haar. Elsäs­ser. Besucht manch­mal sei­nen Groß­va­ter in Ulm. Und bringt mir Scho­ko­lade von Rit­ter Sport mit. Gibt's hier nur bei Déc­a­th­lon. Péri­du­rale für eine Steiß­lage. Das kann ich ein­se­hen. Ent­bin­dung aus Steiß­lage ist schö­ner mit Epi­du­ral­ka­the­ter. Da kann immer was schief­ge­hen. Und Schmer­zen hat sie auch.

3:43 Uhr schon wie­der Sébas­tien. Wie­der Eis­was­ser! Rhyth­mus­ano­ma­lien beim Kind in Steiß­lage, Kai­ser­schnitt. Samir aus Syrien ist der Gynä­ko­loge. Nichts gegen Aus­län­der. Bin selbst einer. Samir aus Syrien macht immer – na ja, oft – zu kurze Kai­ser­schnitte. Zu kurz in der Bauch­de­cke, zur kurz in der Gebär­mut­ter. Braucht dann Vakuum oder Zan­gen, um die Klei­nen aus dem Bauch zu zer­ren. Kos­tet immer ein paar APGAR-Punkte. Sachich­noch: Mach' Dei­nen Schnitt groß genug! Wenigs­tens dies­mal! Keine Aben­teuer mit­ten in der Nacht! Bitte! Denk' an meine Herz­kranz­ge­fäße! Wer aber hört schon auf das alt­kluge Geschwätz des Anäs­the­sis­ten? Jaja, bien­sûr, aie con­fi­ance! Keine Angst! Und? Das Resul­tat? Klar, Schnitt zu klein. Reicht für Füße und Bauch. Nicht mehr für das Köpf­chen und die Ärm­chen. Bei Steiß­lage kann man sich auch nicht hel­fen mit Vakuum oder Zan­gen. Statt­des­sen gro­ßes Metz­gern an der Bauch­de­cke und der Gebär­mut­ter. Das Kind ganz sprach­los. Ganz schlapp. Ganz blaß. Herz­fre­quenz bei etwa fünf­zig. APGAR 2 (in Wor­ten: zwei), würde ich sagen. Wo ist der Kin­der­arzt? Kein Päd­ia­ter! Kein Wun­der, t'as vu l'heure? Der muß ja auch erst­mal auf­ste­hen. Und dann noch her­fah­ren von Le Pra­det. Bis dahin ist das Kind tot. Oder der Anäs­the­sist ret­tet es. Und zahlt mit sei­nen Herz­kranz­ge­fä­ßen. Geburts­hilfe vom Feins­ten.

Samir sagt, die Frau wäre selbst schuld. C'est pas ma faute! Das ist doch nicht mein Feh­ler! Kaum hätte er in den Ute­rus geritzt, hätte der sich so rich­tig kon­tra­hiert. Aber sowas von kon­tra­hiert! Der Ute­rus. Kann ich was für den Ute­rus von der Frau? Sowas! Ein­fach kon­tra­hiert, der Ute­rus! Kann die Frau nicht ein biß­chen auf­pas­sen auf ihren Ute­rus? Genau um den Hals der Klei­nen! Aber ehr­lich!

Frage an die gynä­ko­lo­gi­sche Kol­le­gen­schaft: Ist das so über­ra­schend? Das mit dem Ver­hal­ten der Ute­rus­mus­ku­la­tur bei Schnitt­ent­bin­dung? Kann der Gynä­ko­loge das nicht anti­zi­pie­ren?

Ein paar Tage spä­ter wie­der Kai­ser­schnitt mit Samir, dem Gynä­ko­lo­gen aus Syrien. Frei­tag Abend im Pro­vinz­kran­ken­haus. Zweit­ge­bä­rende, Ter­min eigent­lich in zwei Wochen. 104 Kilo bei 158 Zen­ti­me­tern. Seit fünf Uhr nach­mit­tags im Kran­ken­haus. Bla­sen­sprung wohl. Was weiß ich. Geburts­ein­lei­tung eben. Bei der vagi­na­len Unter­su­chung fin­det Magali, die Heb­amme, so eine komi­sche Beule. Keine Ahnung, was das ist, sagt sie. Da muß der Samir mal mit dem Sono gucken. Indi­ka­tion zum Kai­ser­schnitt 18:32 Uhr. Warum? Steiß­lage! Magali braucht Samirs Sono, um eine Steiß­lage zu erken­nen! Wow! Hat Magali nicht Heb­amme gelernt? Außer­dem Rhyth­mus­stö­run­gen beim Kind. Aber das sagen sie immer, damit's ein biß­chen schnel­ler geht. Hop-hop-hop quasi. Und natür­lich so kurz vor dem Schicht­wech­sel sowieso. Schicht­wech­sel ist um 19:00 Uhr. Hop-hop-hop.

Lie­ber Samir, mach' bitte den Schnitt lang genug. Bitte! Denk' an meine Koro­na­rien! – Große Frau, große Narbe, fällt Samir dazu ein. – Nein, Samir, das meine ich nicht. Die Narbe auf dem Bauch ist mir scheiß­egal. Den Schnitt im Ute­rus meine ich. Der muß lang genug sein. Für den APGAR vom Baby. Und meine Koro­na­rien! – Okay, okay, sagt er. Aber es klingt wie ein Ado­les­zen­ten-Jaja. Schnitt kurz vor sie­ben. Samir hat sich zwei Heb­am­men an den Tisch geholt! Phil­ippe und Nacima. Zwei Heb­am­men in grün und ste­ril gewa­schen. Sonst gibt’s immer nur eine. Weil die Frau so dick ist, sagt Samir. Aha! Gro­ßer Schnitt im Bauch, gro­ßer Schnitt auch im Ute­rus. Danke, Samir! Aber was ist das denn? So ein Gewu­sel! Fin­ger, Zehen, Hände, Füße! Und soviele davon! Weiß man gar nicht, wo man anpa­cken soll! Jetzt muß Phil­ippe ran. Mit sei­nen star­ken Armen kann er das Loch mit dem Gewu­sel bes­ser auf­hal­ten als Nacima. So kann Samir wenigs­tens mal rein­grei­fen und umrüh­ren. Irgend­wann wird in dem gan­zen glit­schi­gen Gewu­sel schon was auf­tau­chen, was man rich­tig anpa­cken kann. Wahr­schein­lich wird Samir schon ein biß­chen panisch. Tun­nel­blick. Wenn das eine Hand ist, muß der Kopf da sein. Mehr rechts der Kopf also. Oder oben. Ist das eine Hand? Was ist rechts? Oben? Cha­dia! Cha­dia ist seine Kol­le­gin, aus dem Liba­non, die ihn immer wie­der ret­ten muß. Cha­dia! Wo ist Cha­dia? Samirs Pro­blem ist nicht der zu kleine Schnitt. Nicht nur. Samirs Pro­blem sind auch über­ra­schende ana­to­mi­sche Struk­tu­ren. Zehen, Fin­ger, Hände, Füße.

Am Ende gibt's dann immer­hin eine ordent­li­che Por­tion Nal­ador. Das stei­gert den Tonus der Ute­rus­mus­ku­laur (glaube ich) und sta­bi­li­siert die Psy­che hand­werk­lich mit­tel­mä­ßig begab­ter Gynä­ko­lo­gen. Außer­dem ver­mu­ten hand­werk­lich mit­tel­mä­ßig begabte Gynä­ko­lo­gen eine schleim­haut­pro­tek­tive Akti­vi­tät im Gastro­in­tes­ti­nal­trakt ihrer anäs­the­sio­lo­gi­schen Kol­le­gen. Wenn sie uns, in lich­ten Momen­ten, über­haupt als Kol­le­gen wahr­neh­men. Wenn sie über­haupt was ande­res als sich selbst wahr­zu­neh­men in der Lage sind.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Harissa

3:06 Uhr die sage-femme. Petite primi deman­de­use d’une péri­du­rale. Bis dahin Voll­mond­nacht. Erst zu lange im Inter­net. ZEIT vor­wie­gend und SPIEGEL. Ich lese sogar Bei­träge wie "Frauen sind auch nur Män­ner". 57 Pro­zent der Män­ner gehen fremd. Zum Fremd­ge­hen gehö­ren meist auch Frauen. Logisch eigent­lich. Nur 47 Pro­zent geben es aber zu. Viel mehr aber wür­den mit dem Gedan­ken an einen Sei­ten­sprung spie­len. Fast alle eigent­lich. So wie Män­ner eben. Erzie­hung und soziale Kon­ven­tio­nen wür­den sie eher abhal­ten. Die Frauen eher abhal­ten als die Män­ner. Schreibt der SPIEGEL. Am Ende finde ich mich bei den Auto­nach­rich­ten bei Spie­gel. Häß­li­cher Protz-BMW mit fast sechs­hun­dert PS. Wenn ich bei den Auto­nach­rich­ten von SPIEGEL ONLINE ange­kom­men bin, weiß ich, daß ich reif bin fürs Bett. Auch wenn es erst neun Uhr abends ist.

Kurz noch über Mater­nité. Meine Péri­du­rale von kurz vor sie­ben Uhr abends bei acht Zen­ti­me­tern. Drei weib­li­che Heb­am­men, Céline, Cécile und noch eine, deren Name mir nicht ein­fällt. Irgend­was wie Harissa. Ist aber nicht Harissa. Die Frau hat ohne­hin über­haupt nicht nichts Schar­fes. Aber ich komme nicht auf den Namen. Bleibe an Harissa hän­gen. Maghre­bi­ni­scher Hin­ter­grund jeden­falls. Cécile hat ihre Lip­pen knall­rot gefärbt. Ist das gerade modern? Und sagt, sie müßte immer rülp­sen. Und zwar auf Berüh­rung am rech­ten Hand­ge­lenk. Aha. Streicht sich über das rechte Hand­ge­lenk und rülpst ein Rülp­ser­chen. Sehr inter­es­sant. Und gleich noch eins. Ist die Frau eines Gynä­ko­lo­gen, der bis vor einem Jahr bei uns war. Sie hat lange nicht gear­bei­tet wegen Fibro­my­al­gie. Sagte der Gatte damals. Bestä­tigt meine Vor­ur­teile gegen Leute mit Fibro­my­al­gie. Das ist eine Not­dia­gnose für Leute mit Knall. Drei Frauen also, es könnte schlim­mer gekom­men sein. Kein Phil­ippe, kein Jérôme. Auch nicht Marie oder Séverine.

Ab ins Bett. Noch was lesen. Ich habe "Kapu­zi­ner­gruft" von Joseph Roth ange­fan­gen. Gibt es für null Euro auf den kindle. Die Fort­set­zung zu "Radetz­ky­marsch". Schöne Spra­che, Anfang letz­tes Jahr­hun­dert. Öster­reich unter Franz Josef. Der Groß­va­ter ret­tet dem Kai­ser das Leben, wird dafür geadelt. Der Vater ange­se­he­ner Bezirks­haupt­meis­ter, der Sohn ver­sagt beim Mili­tär, obwohl der Groß­va­ter dem Kai­ser das Leben geret­tet hat, fällt in den frü­hen Tagen des ers­ten Welt­kriegs. Frauen spie­len nur gele­gent­lich eine Rolle. Schwa­che Gesund­heit, ster­ben früh.

Glas Rot­wein, Licht aus um halb elf. Das Glas Rot­wein soll gegen den Voll­mond im Kopf hel­fen. Voll­mond war vor­ges­tern. Manch­mal füh­len sich Nächte wie Voll­mond­nächte an. Im Dienst sowieso. Auch ohne wirk­li­chen Voll­mond.

Halb eins Voll­mond. Wach irgend­wie, aber ver­mut­lich sogar für ein Sudoku zu blöde im Kopf. Geschweige denn Joseph Roth. Wie Harissa wirk­lich heißt, fällt mir immer noch nicht ein. Wach irgend­wie, kei­nes wirk­li­chen Gedan­kens fähig. Som­n­o­lenz im Dun­keln. Mein Zweit­ge­bo­re­ner hatte ges­tern sei­nen neun­zehn­ten Geburts­tag. Hatte keine Wün­sche. Außer viel­leicht ein paar Hosen. Für seine Mut­ter ist ein Geburts­tag ohne Geschenke kein rich­ti­ger Geburts­tag. Ein paar Hosen also. Ein schö­ner Kugel­schrei­ber. Und ein Wecker. Super-Sonic oder so. Weil er noch immer nicht alleine aus dem Bett kommt. Na ja, ein­mal von zwan­zig viel­leicht. Jetzt hat er eine Maschine, mit der er das ganze Haus wach kriegt. Und die Nach­bar­schaft dazu ver­mut­lich. Er hat sich selbst einen Sta­pel Mathe­bü­cher von Ama­zon geschenkt. Übun­gen. Weil er so schlecht ist in Mathe. 6,7 im ers­ten Semes­ter. Und sich nicht hel­fen las­sen will. Zu stolz, zu cool. Ich kann ihm nicht hel­fen. Mathe war ich noch nie gut. Schon gar nicht auf die­sem Niveau. Und er will meine Rat­schläge zu punkt­ge­nauer Nach­hilfe nicht. Logisch. Hätte ich Rat­schläge von mei­nem Vater gewollt? Ich hätte mei­nem Vater nicht ein­mal zuge­hört. Ver­mut­lich hört mir mein Sohn auch nicht zu. Ich sehe ihn unter­ge­hen in sei­ner Prépa und kann ihm nicht hel­fen. Voll­mond.

Bis 3:06 Uhr. Nacima! Harissa ist Nacima. Petite primi deman­de­use d’une péri­du­rale. Die petite primi ist taub. Der Mann dazu auch. Des­we­gen hat Nacima die CTG-Maschine ganz laut gestellt. Die Primi und ihr Mann hören aber trotz­dem nichts. Kön­nen von den Lip­pen lesen. Weiß ich. Ich habe die ganze Fami­lie in den Con­sul­ta­ti­ons gese­hen. Mut­ter, Toch­ter, Schwie­ger­sohn. Alle taub. Dafür hat Nacima kein EKG ange­schlos­sen und kei­nen Blut­druck. Fällt mir aber auch erst nach der Test­do­sis auf. Voll­mond im Kopf.

Danach will Cécile eine petite péri­du­rale für ihre Primi in Salle une. Die Lip­pen sind inzwi­schen nicht mehr so rot. Ich bin ver­sucht, sie zu pro­vo­zie­ren wegen ihrer blö­den Bäu­er­chen vor­hin. Wel­che Art vis­ze­ra­ler Reflexe denn tak­tile Reize ihres lin­ken Hand­ge­lenks aus­lö­sen wür­den, zum Bei­spiel. Aber Cécile inter­es­siert mich dann doch viel zu wenig. Petite péri und zurück ins Bett.


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Trüffelmarkt in Aups

Meine Frau wird nächste Woche in einer Fami­li­en­an­ge­le­gen­heit nach Deutsch­land rei­sen und unter ande­rem ihren Cou­sin tref­fen. Der Cou­sin ist ambi­tio­nier­ter Profi-Hob­by­koch. Er ist Ober­koch­bru­der eines Koch­clubs mit eli­tä­rem Anspruch. Meine Frau will ihn mit schwar­zem Trüf­fel aus der Pro­vence beein­dru­cken. Trüf­fel gibt es in Aups. Dort fin­det jeden Don­ners­tag Mor­gen von Ende Novem­ber bis Ende Februar Mar­ché aux Truf­fes statt, Trüf­fel-Markt. Frank­reich­weit der dritt­größte.

Aups liegt im Hin­ter­land, mit­ten in dem, was man Pro­vence nennt, da, wo die Zikade wohnt, die Pinie duf­tet und die Pla­tane Schat­ten über Alleen und Markt­plät­zen spen­det. Aups ist ein pro­vença­li­sches Dorf wie aus dem Bil­der­buch. Eine gute Stunde mit dem Auto von Tou­lon. Ich muß fah­ren, weil meine Frau bis nächste Woche keine Zeit hat.

Am Don­ners­tag Mor­gen Mitte Januar muß das Dorf ohne Zika­den aus­kom­men. Tem­pe­ra­tu­ren in Gefrier­punkt­nähe. 8:06 Uhr am Markt­platz nach einer Stunde und sieb­zehn Minu­ten durch Nebel­bänke auf kur­vi­gen Dépar­te­men­tal­stra­ßen. Wie aus­ge­stor­ben der Platz. Erstaun­lich. Wenn bei uns Markt­tag ist, sind die ers­ten Stände um halb acht fer­tig auf­ge­baut. Hier fin­det sich außer mir nur ein Müll­mann in knall­grü­ner Leucht­weste. Schraubt was an sei­nem Müll­wa­gen. Auf dem Behin­der­ten-Park­platz direkt vor dem Rat­haus. Die Cafés am Platz alle geschlos­sen. Kein Trüf­fel­händ­ler weit und breit. Ein Senior in Mor­gen­man­tel mit hoch­ge­schla­ge­nem Kra­gen und grau­brau­nen Filz­pan­tof­feln. Keine Socken. Blaue Äder­chen am Knö­chel. Baguette unter dem Arm, Kippe im Mund­win­kel. Bas­ken­mütze. Wie aus dem Bil­der­buch. Ver­mut­lich aber kein Trüf­fel­händ­ler.

Mar­ché aux truf­fes de 9:30 heu­res à 12:00 heu­res steht auf einem Zet­tel im Schau­fens­ter des Office de tou­risme links unten im Rat­haus. Wahr­schein­lich ist das ernst gemeint. Paßt nicht wirk­lich in meine Stra­te­gie.

Meine Stra­te­gie hat mit pro­vença­li­scher Bil­der­buch­i­dylle nichts zu tun. Mein Stra­te­gie war knapp und teu­to­nisch effi­zi­ent: Vor­fah­ren in Aups und dem erst­bes­ten Trüf­fel­händ­ler, der sei­nen Stand auf­baut, zwei­hun­dert Gramm Knol­len abkau­fen und wie­der weg­fah­ren. Zack­zack! Zum Früh­stück der Kin­der, die heute keine Schule haben, wie­der zuhause. So hätte das bei uns im Dorf funk­tio­niert. So mache ich das immer. Im Rah­men mei­ner stra­te­gi­schen Vor­ga­ben hätte der erst­beste Trüf­fel­händ­ler sei­nen Auf­tritt spä­tes­tens um 8:00 Uhr haben müs­sen.

Plan B.

War­ten in ark­ti­scher Kälte. Bei lau­fen­dem Motor. Was? Tut mir leid, soll ich bei ark­ti­scher Kälte erfrie­ren? Vier Halb­wai­sen hin­ter­las­sen? Was soll ich denn machen, wenn die pro­vença­li­sche Bil­der­buch­i­dylle ohne Café und Zikade aus­kom­men muß? Um halb neun ist der Müll­man weg. Ein wei­ßer Lie­fer­wa­gen fährt vor. Parkt direkt vor mir. Der Fah­rer baut lust­los und in Zeit­lupe sei­nen Stand auf. Tische, Kis­ten. Decken auf Tische und Kis­ten. Ein Klapp­stuhl. Zwei Schirme über Tischen, Kis­ten und Klapp­stuhl. Schirme! Die Zikade wird für 10:30 Uhr erwar­tet. Oder Regen? Wohl kaum, der Him­mel immer­hin ist der aus der Post­karte zur pro­vença­li­schen Bil­der­buch­i­dylle. Die Schirme ver­mut­lich auch. Kein Him­mel ohne Schirme. Der Mann mit den Schir­men kann auf Anspra­che Bon­jour sagen und Bonne année. Jedoch, lei­der, nein, er ist nicht der Trüf­fel­händ­ler. Er wird Blu­men ver­kau­fen. Die Trüf­fel­händ­ler kom­men aber noch, wird nicht mehr lange dau­ern.

Kurz nach neun kommt tat­säch­lich Leben in die Szene. Meist ältere Herr­schaf­ten, oft Ehe­paare, bauen kleine Klapp­ti­sche auf, legen bunte Wachs­tuch-Decken dar­über, stel­len gefloch­tene Körb­chen dar­auf. Leere Körb­chen. Und digi­tale Prä­zi­si­ons­waa­gen. Sie ken­nen sich alle, grü­ßen mit Küß­chen links-rechts-links, bonne année, nur das Beste, lan­ges Leben, Glück, Reich­tum und Zufrie­den­heit, vor allem aber Gesund­heit! Sie haben sich viel zu erzäh­len, als hät­ten sie nicht mehr gese­hen seit Weih­nach­ten. Das ist Markt­tag in Süd­frank­reich wie man sich das vor­stellt. Eine die­ser Sze­nen aus der pro­vença­li­schen Bil­der­buch­i­dylle. Die Szene kenne ich. Feh­len die Tou­ris­ten, die fri­sier­ten Mopeds, die Zika­den. Feh­len vor allem die Trüf­fel­knol­len. Die fin­den sich ver­mut­lich in den Plas­tik­tü­ten unter den nett deko­rier­ten Klapp­tisch­chen. Ich habe kalte Füße und Hände und will zurück in mei­nen Plan A. Kau­fen und weg.

Außer einer acht­köp­fi­gen Tou­ris­ten­gruppe aus Hol­land mit loka­lem Rei­se­füh­rer und drei oder vier Ein­zel­käu­fern keine Kun­den außer mir. Wir ste­hen mit im Rund der Klapp­ti­sche, tre­ten frös­telnd von einem Bein aufs andere und haben uns ange­lä­chelt. Der Rei­se­füh­rer sagt was auf Hol­län­disch. Er kennt das schon. Geht wohl gleich los.

Punkt­ge­nau 9:30 Uhr betritt ein unschein­bar Uni­for­mier­ter die Szene. Voilà! Mit einer Tröte. Er trö­tet ein­mal und ruft: Le mar­ché est ouvert! Der Markt ist eröff­net. Auch das ist Frank­reich. Sie haben Ele­mente aus der Mon­ar­chie bis in die Jetzt­zeit mit­ge­nom­men. Am liebs­ten hät­ten sie noch einen Lud­wig in Ver­sailles sit­zen. Nur um ihm frü­her oder spä­ter unzu­frie­den und öffent­lich den Kopf abzu­ha­cken und im glei­chen Atem­zug den nächs­ten Lud­wig jubelnd nach Ver­sailles zu brin­gen. Es lebe der König! Der Markt ist eröff­net.

Die Tröte ist das Signal für die älte­ren Ehe­paare. Aus den Plas­tik­tü­ten unter den Klapp­ti­schen wer­den Trüf­fel­knol­len in die Körb­chen dra­piert. Die Ein­zel­kun­den und die Tou­ris­ten­gruppe schlen­dern von Klapp­tisch zu Klapp­tisch. Tas­ten, rei­ben, schnüf­feln.

Ein Typ in brau­ner Leder­ja­cke spricht mich an. Ob ich Trüf­fel kau­fen wollte. Klar, wofür sonst bin ich denn hier? Er hätte da wel­che in sei­ner Tüte. Tüte, wel­che Tüte? Die Tüte ist unter der Jacke ver­steckt. Drei­hun­dert Gramm schwarze Trüf­fel, sagt er. Fünf­hun­dert Euro das Kilo. Das ist rela­tiv güns­tig. Er hätte aller­dings kei­nen Tisch hier. Der Stand­ge­büh­ren wegen. Zur Abwick­lung müß­ten wir zudem von hier ver­schwin­den, den ande­ren Händ­lern würde das nicht so gefal­len. Schwarz­han­del in Neben­stra­ßen – das kenne ich von frü­her. Aus mei­nem Stu­dium nicht weit von Sibi­rien. Im schlimms­ten Fall bleibt man phy­sisch beschä­digt und ohne Geld zurück. Manch­mal bekam man eine Rolle straff gewi­ckel­tes Zei­tungs­pa­pier statt eines Packens Dritt­welt­wäh­rung für sei­nen schö­nen Hun­dert-Dol­lar-Schein. Oder eine gefälschte Tau­send-Zloty-Note. Kenn' ich. Der hier will mir ver­mut­lich ein Säck­chen gam­me­lige Kar­tof­feln ver­kau­fen. Ich würde viel­leicht auf sein Ange­bot zurück­kom­men, gerne aber zunächst die Ware der Kon­kur­renz begut­ach­ten.

Plan B ist letzt­end­lich auch nicht so schlecht. Inter­es­sant. Die Kin­der kön­nen auch ohne mich früh­stü­cken.

Noch nie hatte ich soviel Muße, das Ange­bot wirk­lich zu stu­die­ren. Ich darf die Knol­len anfas­sen, kleine Scheib­chen abschnei­den, sie in der Hand wär­men, das Aroma auf­neh­men. Ein Dut­zend Tisch­chen mit Deck­chen und Körb­chen. Prä­zi­si­ons­waa­gen, die Mil­li­gramm direkt in Euro und Cent umrech­nen. Bil­der in Klar­sicht­hül­len vom Trüf­fel­schwein, vom Trüf­fel­hund neben den Körb­chen mit den Knol­len. Mit dem Besit­zer am ande­ren Ende der Leine. Als Beweis der Authen­zi­tät quasi. Jeder ist der ein­zig Ehr­li­che, alle ande­ren Hals­ab­schnei­der. Unter uns, sagen sie. Die, deren Kilo­gramm tau­send Euro kos­ten soll, haben eben ein­fach den schwär­zes­ten Trüf­fel. Sagen diese. Trüf­fel für sechs­hun­dert ist ent­we­der alt oder nicht rich­tig schwarz. Wenn einer tau­send haben will, hat er ihn selbst bil­lig gekauft, alt oder nicht wirk­lich schwarz, und will ihn mit rich­tig Gewinn ver­kau­fen. Sagen die ande­ren.

Am Ende bleibt es für den Laien Zufall. Intui­tion. Oder so. Die Form der Knol­len, die Zwi­schen­mensch­lich­keit zum Schwei­n­e­füh­rer. Der Preis. Der Profi kauft ver­mut­lich ohne­hin woan­ders. Ver­mut­lich ohne das Rah­men­pro­gramm pro­vença­li­scher Bil­der­buch­i­dylle.

Die Hälfte der Knol­len wird meine Frau nach Deutsch­land mit­neh­men. Als Geschenk für den Cou­sin. Die andere Hälfte ist für zuhause. Mein Zweit­ge­bo­re­ner, des­sen Tole­ranz­gren­zen die kuli­na­ri­schen Optio­nen der ver­sor­gen­den Eltern typi­scher­weise in äußerst knap­pem Rah­men hal­ten, träumt von Trüf­fel-Rührei. Immer­hin.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


Die­ser Text erschien in einer gekürz­ten Ver­sion am 27. Januar 2015 als Leser­ar­ti­kel bei ZEIT ONLINE (http://www.zeit.de/reisen/2015–01/trueffel-markt-aups)


Über­setzt ins Fran­zö­si­sche – Choi­sir la truffe au pifomètre - erschien der Leser­ar­ti­kel sei­ner­seits in der Bei­lage – La Pro­vence vue par la presse étran­gère – von N° 1288 des Cour­rier inter­na­tio­nal vom 9. Juli 2015.

Meilleurs vœux

Frei­tag

Hier­zu­lande, wo sich die Men­schen etwas extro­ver­tier­ter geben, medi­ter­ra­ner eben, wünscht man sich zum Jah­res­wech­sel nicht nur pau­schal alles Gute oder ein Schö­nes Neues. Die bes­ten Wün­sche – meilleurs vœux – wer­den gerne noch in aller­lei Details prä­zi­siert: Glück, Zufrie­den­heit, Geld, Kin­der­se­gen zum Bei­spiel. Erst die Wün­sche, dann die Küsse. Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, Schwes­tern, Pfle­ger, Heb­am­men, die Tele­fo­nis­tin, Hilfs­pfle­ge­rin­nen, alle. Sogar die Ober­schwes­ter und Damen aus der Ver­wal­tung. Damen, die mir völ­lig unbe­kannt sind, die sich sonst ver­mut­lich hin­ter Türen der Tep­pich­bo­den­flure ver­ste­cken. Sieht man ganz sel­ten. Ver­wal­tung eben. Sagen mir wegen mei­nes Kit­tels Bon­jour. Und, des kürz­li­chen Jah­res­wechs­les wegen, bonne année. Den­ken sich, das muß einer der Dok­to­ren sein, den sie ver­wal­ten. Wer­den umge­hend geküßt. Bonne année, meilleurs vœux, bonne santé.

Der ganze Ser­mon zum neuen Jahr muß, glaube ich, ich bin bis jetzt, in all den Jah­ren, noch nicht wirk­lich dahin­ter gekom­men, ob die­ses Ritual bestimm­ten Regeln folgt, es muß aber mit der Gesund­heit enden. Man kann den Lot­to­ge­winn anbrin­gen, ein neues Auto, Erfül­lung in der Liebe, tolle Ferien. Vor allem aber gesund! Der Rest wird dann schon! Sur­tout la santé! Le reste va suivre! Voilà! Dazu voll Zuver­sicht und Herz in die Augen gucken. Mit man­chen Schwes­tern und Heb­am­men ist das nett. Das Wün­schen und die ter­mi­na­len Küß­chen links, rechts, mit dezen­tem Anfas­sen. Ober­arm, Unter­arm, Taille. Wo's gerade paßt. Nett, ins­be­son­dere, wenn die Augen nett gucken. Ganz dicht ran, Wange an Wange, ein­at­men, riecht oft gut, Küß­chen.

Kol­la­te­ral muß man auch man­che Män­ner küs­sen. Ber­nard. Chef der Vis­ze­ral­chir­ur­gen. Noch-Chef. Geht die­ses Jahr in Rente. Ber­nard ist lei­der meist unra­siert. Unge­wa­schen. Sein Bad zu Weih­nach­ten ist auch schon einen guten Monat alt. Okay, ich über­treibe etwas. Mas­si­ver Zahn­stein aber, Essen­reste. Olfak­ti­ves Feu­er­werk. Um es mal posi­tiv aus­zu­drü­cken. Ich habe mir für die­ses Jahr eine posi­tive Aus­strah­lung vor­ge­nom­men, übri­gens. Aktive Posi­ti­vie­rung. Am liebs­ten begrüße ich ihn nor­ma­ler­weise von einem zum ande­ren Flu­rende. Nur zum Geburts­tag und wenn es sich durch unglück­li­che zeit­lich-räum­li­che Kon­stel­la­tio­nen gar nicht ver­mei­den läßt, geben wir uns die Hand, seine ist so eine kraft­los-schwam­mig-wei­che. Die sich zudem noch irgend­wie klamm anfühlt. Manch­mal erwischt er mich in mei­nem Büro, um mir weit­schwei­fig von irgend­wel­chen unglaub­lich inter­es­san­ten Fäl­len auf sei­ner Sta­tion zu erzäh­len und meine Mei­nung dazu zu hören. Ver­steckte Blin­därme, ent­zün­dete Diver­ti­kel, ver­sof­fene Bauch­spei­chel­drü­sen. Meine Mei­nung ent­spricht meis­tens sei­ner, ein­fach weil er so aus dem Mund und über­haupt nicht gut riecht. Schwie­rig nur, wenn er mir meh­rere Mei­nun­gen anbie­tet und jede ein­zelne hin­sicht­lich ihrer anäs­the­sio­lo­gi­schen Rele­vanz dis­ku­tiert haben möchte. Aber er ist eben der Chef. Vor Jah­ren mußte er mich zudem als Chef der Com­mis­sion médi­cale d'Établissement zum Beam­ten wäh­len. Hat er trotz anfäng­li­cher Beden­ken gemacht. Dafür bin ich ihm dank­bar. Und er ist älter als ich. Alter wird respek­tiert. Er duzt mich, ich sieze ihn.

An sei­nem ers­ten Arbeits­tag im neuen Jahr erwischt er mich kalt. Auf dem Flur sei­ner Sta­tion laufe ich ihm gera­de­wegs in die Arme. Er nimmt die Brille ab. Das ist das Zei­chen. Wenn ich die Brille abnehme, weiß auch die Tele­fo­nis­tin, daß sie jetzt geküßt wer­den wird. Und gerät ins Stot­tern. Sowas! Wird sogar ein biß­chen rot. Nehme ich auch per­sön­lich. Posi­tiv per­sön­lich. Ber­nard hat also die Brille abge­nom­men. Muß ich also durch mit den Küs­sen. Defi­ni­tiv. Es gibt außer Küs­sen kei­nen Grund, mit­ten auf dem Sta­ti­ons­flur die Brille abzu­neh­men. Küß­chen mit Ber­nard trei­ben mir die Trä­nen in die Augen. Das olfak­tive Feu­er­werk. Aus unmit­tel­ba­rer Nähe ein Poten­tial wie Ammo­niak. Meine Trä­nen nimmt er sicher per­sön­lich. Posi­tiv per­sön­lich offen­bar. Dafür gleich noch­mal. Ich habe ihn schon letz­tes Jahr geküßt. Und das vor­vor­letzte. In all den Jah­ren vor und nach mei­ner Wahl zum Beam­ten. Wahr­schein­lich erin­nert er sich daran. Die­ses wird das letzte Mal gewe­sen sein.

Céline, die Sta­ti­ons­schwes­ter, macht den Neues-Jahr-Zau­ber mit Ber­nard trotz bekann­ter Letzt­ma­lig­keit ohne Anfas­sen und ohne Küs­sen. Das ist mutig. Geht eigent­lich nicht. Ber­nard ist immer­hin der Chef. Und hat die Brille abge­nom­men, mit­ten auf dem Flur, sich leicht vor­ge­beugt. Die Lip­pen zum Küß­chen gespitzt. Mutig von Céline, aber ver­ständ­lich. Ver­mut­lich der Essens­reste wegen. Oder sie hat von sei­ner Ammo­kinak-Aura schon bei der Über­gabe gehört. Läßt sogar die Gesund­heit aus. Hat zufäl­lig gerade beide Hände voll. Ganz zufäl­lig. 28 Fens­ter geht's nicht so gut, nuschelt sie schnell. Und der arme Ber­nard bleibt ohne Brille kurz­sich­tig ste­hen. Tut er mir fast leid.

Mon­tag. Dienst.

Meine Runde über die Sta­tio­nen habe ich hin­ter mir. Nichts los. Nicht mal ein gut gereif­ter Blind­darm von Ber­nard in der Not­auf­nahme. Ich lang­weile mich. Abste­cher in den Kreiß­saal. Keine Erst­ge­bä­rende im Kreiß­saal, die nach einem Peri­du­ral­ka­the­ter schreit. Nadja, Lae­ti­tia und Phil­ippe lang­wei­len sich auch. Phil­ippe? Wir haben ziem­lich viele Män­ner bei den Heb­am­men. Phil­ippe, Sébas­tien, Wil­fried und Jérôme. Beruf: Maïeu­ti­cien. Der Begriff für die männ­li­che Heb­amme. Seit ein paar Jah­ren Teil mei­nes akti­ven Wort­schat­zes. Ich habe zusätz­lich bei wiki­pe­dia nach­ge­le­sen. Ent­bin­dungs­pfle­ger hei­ßen sie in Deutsch­land. Heb­amme in Öster­reich auch die männ­li­chen Ver­tre­ter. 2013 keine männ­li­che Heb­amme in Öster­reich. Drei in ganz Deutsch­land. Wir haben vier. An mei­ner Pro­vinz­klit­sche! Dar­un­ter Phil­ippe. Dick­li­cher Gesichts­haar­trä­ger. Voll­bart. Kopf­tuch­frauen sol­len sich mal nicht so anstel­len. Wird ihnen und ihren Män­nern gleich bei der Auf­nahme ver­kün­det. Wahr­schein­lich ein Aus­druck von Liberté und Éga­lité. Viel­leicht paßt das sogar zur Fra­ter­nité. Finde ich per­sön­lich auch ziem­lich grenz­wer­tig. Wäh­rend mei­ner Kar­riere damals, Ende des letz­ten Jahr­tau­sends in katho­li­schen Kran­ken­häu­sern im öst­li­chen West­fa­len, waren männ­li­che Heb­am­men kate­go­risch undenk­bar. Phil­ippe jeden­falls mag ich nicht so. Nicht wegen des Über­ge­wichts oder der Gesichts­be­haa­rung. Viel­leicht ein Vor­ur­teil. Phil­ippe war mal in Indien für ein paar Monate Aus­zeit. Ich hatte gehofft, er würde ein­fach dort blei­ben und in lang­fris­ti­ger Suche nach Erleuch­tung ver­har­ren. Und dann war er doch wie­der da. Ohne Erleuch­tung, wie mir scheint. Wird nicht geküßt. Es gibt Gren­zen. Dafür Lae­ti­tia. Lae­ti­tia sieht aus, als wäre sie mal Model gewe­sen. Guckt auch sehr nett. Ich nehme das per­sön­lich. Obwohl sie ver­mut­lich jeden nett anguckt. Trägt etwas zuviel von zu bil­li­gem Par­fum auf. Sie hat ein Haus gekauft mit ihrem Mann letz­tes Jahr, nicht weit vom Meer, Weih­nach­ten war dies­mal etwas knap­per im Bud­get wohl. Egal. Ein gutes neues Jahr! Die bes­ten Wün­sche! Und – vor allem – Gesund­heit! Santé!

Und Serge. Serge lasse auch ich aus mit dem Küs­sen. Schö­nes Neues, beste Wün­sche, gute Gesund­heit. Die Kurz­fas­sung. Serge ist Prit­schen­schie­ber. Hat nur Ficken im Kopf. Ficken ist nicht meine Wort­wahl, ist Bestand­teil sei­nes akti­ven Sprach­wort­schat­zes in Deutsch. Serge war vor Jah­ren mit sei­ner Col­lège-Klasse auf Aus­tausch in Mann­heim. Isch­libbe­disch hat er außer­dem gelernt und wills­dum­im­mirschlaf­fän. Das ist Serge pur. Aller­dings kann Serge dazu auch Poli­tik. Fragt mich immer, wann ich Angela zum letz­ten Mal so rich­tig ran­ge­nom­men hätte. Fin­det er rasend ori­gi­nell. Ein Joke, der mit zuneh­men­dem Alter an Würze zu gewin­nen scheint. Basal­fran­zose. Tut so, als hätte er schon alle gehabt im Centre hos­pi­ta­lier und in der Stadt dazu. Und ich nur Angela. Ver­mut­lich. Aber immer­hin. Er dafür alle ande­ren, die halb­wegs was her­ma­chen. Angela und ich las­sen uns ande­rer­seits nicht erwi­schen, sage ich dann. Nicht so, wie Ser­ges blö­der Prä­si­dent. Der sich mit einer Schau­spie­le­rin auf dem Mofa foto­gra­fie­ren läßt. Abends. Crois­sants vom Body­guard zum Früh­stück. Wie­der Fotos. Serge fin­det das cool.

Bonne année!

Modi­fi­zier­ter Vor­schlag von für die Januar-Aus­gabe 2016 des Riviera-Maga­zins. Um im Rah­men von 3.500 Zei­chen zu blei­ben:

Hier­zu­lande, wo sich die Men­schen etwas extro­ver­tier­ter geben, medi­ter­ra­ner eben, wünscht man sich zum Jah­res­wech­sel nicht nur pau­schal alles Gute oder ein Schö­nes Neues. Die bes­ten Wün­sche – meilleurs vœux – wer­den gerne noch in aller­lei Details prä­zi­siert: Glück, Zufrie­den­heit, Geld, Kin­der­se­gen zum Bei­spiel. Wün­sche und Küsse. Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, Schwes­tern, Pfle­ger, Heb­am­men, die Tele­fo­nis­tin, Hilfs­pfle­ge­rin­nen, alle wer­den bewünscht und geküsst. Sogar die Ober­schwes­ter und Damen aus der Ver­wal­tung. Damen, die ich nur vom Sehen kenne, die sich sonst hin­ter Türen der Tep­pich­bo­den­flure ver­ste­cken. Sieht man ganz sel­ten. Ver­wal­tung eben. Sagen mir wegen mei­nes Kit­tels Bon­jour. Den­ken sich, das muß einer der Dok­to­ren sein, den sie ver­wal­ten. In Zivil­klei­dung wür­den sie mich maxi­mal für einen Pati­en­ten hal­ten. Wün­schen mir auch, des kürz­li­chen Jah­res­wechs­les wegen, bonne année. Wer­den umge­hend geküsst. Bonne année, meilleurs vœux, bonne santé.

Der ganze Text zum neuen Jahr muß, glaube ich, ich bin bis jetzt, in all den Jah­ren, noch nicht wirk­lich dahin­ter gekom­men, ob die­ses Ritual bestimm­ten Regeln folgt, es muß aber mit der Gesund­heit enden. Man kann den Lot­to­ge­winn anbrin­gen, ein neues Auto, Erfül­lung in der Liebe, tolle Ferien. Vor allem aber gesund! Der Rest wird dann schon! Sur­tout la santé! Le reste va suivre! Voilà! Dazu voll Zuver­sicht und Herz in die Augen gucken. Mit man­chen Schwes­tern und Heb­am­men ist das nett. Das Wün­schen und die Küß­chen links, rechts. Vor allem, wenn sie nett gucken. Zum neuen Jahr gucken sie fast alle nett. Spä­ter gibt sich das wie­der. Ganz dicht ran, Wange an Wange, riecht oft gut, Küß­chen.

Kol­la­te­ral muß man auch man­che Män­ner küs­sen. Xavier. Chef der Bauch­chir­ur­gie. Noch-Chef. Xavier geht bald in Rente. Ist lei­der meist unra­siert. Oft unge­duscht. Sein Bad zu Weih­nach­ten ist auch schon einen knap­pen Monat alt. Okay, ich über­treibe etwas. Seine Aura gleicht einem olfak­ti­ven Feu­er­werk. Am liebs­ten begrüße ich ihn nor­ma­ler­weise von einem zum ande­ren Flu­rende. Nur zu Geburts­tag und Jah­res­wech­sel ris­kiere ich Kör­per­kon­takt.

Mon­tag. Dienst.

Meine Runde über die Sta­tio­nen habe ich hin­ter mir. Nichts los. Nicht mal ein gut gereif­ter Blind­darm von Xavier in der Not­auf­nahme. Abste­cher in den Kreiß­saal. Keine Erst­ge­bä­rende im Kreiß­saal, die nach einem Peri­du­ral­ka­the­ter schreit. Nadja, Lae­ti­tia und Phil­ippe lang­wei­len sich auch. Phil­ippe? Wir haben ziem­lich viele Män­ner bei den Heb­am­men. Phil­ippe, Sébas­tien, Wil­fried und Jérôme. Beruf: Maïeu­ti­cien. Ent­bin­dungs­pfle­ger hei­ßen sie in Deutsch­land. Heb­amme in Öster­reich auch die männ­li­chen Ver­tre­ter. 2013 kei­ner in Öster­reich, drei in ganz Deutsch­land. Wir haben vier! Und das in tiefs­ter Pro­vinz! Dar­un­ter Phil­ippe. Voll­bart. Über­ge­wicht. Kopf­tuch­frauen sol­len sich mal nicht so anstel­len. Wird ihnen und ihren Män­nern gleich bei der Auf­nahme ver­kün­det. Wahr­schein­lich ein Aus­druck von Liberté und Éga­lité. Viel­leicht paßt das sogar zur Fra­ter­nité. Finde ich per­sön­lich auch eher gewöh­nungs­be­dürf­tig. Würde mir als wer­den­dem Vater auch nicht gefal­len. Aber viel­leicht bin ich in die­ser Hin­sicht etwas kon­ser­va­tiv. Phil­ippe jeden­falls mag ich nicht so. Ihm man­gelt ein biß­chen an pro­fes­sio­nel­ler Dyna­mik. Phil­ippe war mal in Indien für ein paar Monate Aus­zeit. Ich hatte gehofft, er würde ein­fach dort blei­ben und in lang­fris­ti­ger Suche nach Erleuch­tung ver­har­ren. Und dann war er doch wie­der da. Ohne Erleuch­tung, wie mir scheint. Er war­tet immer noch. Wird nicht geküßt. Es gibt Gren­zen.

Dafür Lae­tita. Lae­ti­tia sieht so aus, als wäre sie mal Model gewe­sen. Hat ein zau­ber­haf­tes Lächeln. Ich nehme das per­sön­lich. Obwohl sie ver­mut­lich jeden nett anguckt. Egal. Meilleurs vœux, bonne santé, Küß­chen. Lae­tita ist meine Lieb­lings­heb­amme. Nicht nur wegen ihres Lächelns. Nicht nur, aber auch. Lae­ti­tias Lächeln ist auch um 02:39 Uhr noch zau­ber­haft. Immer. Zum neuen Jahr viel­leicht noch ein Spur zau­ber­haf­ter. Auch um 02:39 Uhr. Wenn sie mich braucht für eine Péri­du­rale oder Césa­ri­enne.

Bonne santé.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


Charlie Hebdo

Meine Eltern wün­schen sich die nächste Aus­gabe von Char­lie Hebdo. Die erste nach dem Atten­tat. Soll in Mil­lio­nen­auf­lage an den Kiosk kom­men. Sonst nur 60.000, von denen die Hälfte ver­kauft wird. Sind auch nur acht Sei­ten statt der sonst übli­chen sech­zehn.

Liebe Eltern!

In mei­nem Kran­ken­haus gibt es einen Kiosk. Da kann man sich eine Fern­steue­rung lei­hen für die Glotze im Pati­en­ten­zim­mer, einen draht­lo­sen Inter­net­zu­gang, der angeb­lich nur sehr schlecht funk­tio­niert, Spiel­zeug, Bon­bon­tü­ten, Zeit­schrif­ten, Zei­tun­gen. Vom Char­lie Hebdo würde sie am Mitt­woch zwei Exem­plare bekom­men, sagt die Ver­käu­fe­rin. Eine Reser­vie­rung wäre nicht mög­lich, sagt sie. Was soll­ten denn dann die den­ken, die kein Exem­plar bekä­men? Ergänzt sie. Ich glaube, sie sagt die Unwahr­heit. Einer­seits aus Unkennt­nis, weil sie wahr­schein­lich gar nicht sicher weiß, wie­viele Exem­plare sie von die­ser Aus­nah­me­num­mer gelie­fert bekom­men wird. Und somit sich hin­sicht­lich even­tu­el­ler Reser­vie­run­gen nicht fest­le­gen will. Ande­rer­seits hat sie natür­lich ein per­sön­li­ches Umfeld, das ihr näher­steht als gerade ich. Reicht nicht, einer der doc­teurs zu sein. Rich­tig so. Was soll­ten denn dann die ande­ren den­ken? Die Putz­frauen, Heb­am­men, Schwes­tern? Eines der Exem­plare hat sie ver­mut­lich Mon­sieur le Direc­teur ver­spro­chen. Der könnte sie ja schließ­lich ange­sichts der wirt­schaft­lich pre­kä­ren Situa­tion des Hôpi­tal auf die Straße set­zen. Rein theo­re­tisch, ver­steht sich. Der Kiosk ist ande­rer­seits ver­mut­lich eine der weni­gen wirt­schaft­li­chen Ein­rich­tun­gen des Hau­ses. Aber man weiß ja nie. Schließ­lich ist Mon­sieur le Direc­teur der Chef. Und wir sind in Frank­reich. Da kann man nie wis­sen, wie weit es mit der Éga­lité her ist.

Außer­dem arbeite ich am Mitt­woch nicht. Und so wich­tig ist mir die­ses Heft dann auch wie­der nicht. Nicht so wich­tig, daß ich bis ins Kran­ken­haus fah­ren würde. Bis ins Kran­ken­haus auf gut Glück. An mei­nem freien Tag. Wenn sie mir ein Exem­plar für halb neun ver­spro­chen hätte, würde ich die zehn Kilo­me­ter natür­lich fah­ren. Von der Mauer in Ber­lin habe ich mir auch nichts geholt. Auch kein Gläs­chen Staub vom 11. Sep­tem­ber. Zehn, zwan­zig Jahre spä­ter wäre der Bro­cken alter Beton ohne­hin nur noch ein Bro­cken alter Beton und das Gläs­chen Staub ein Gläs­chen Staub. Das iPhone, wel­ches man nach drei Tagen Cam­pen vor einem Apple-Shop als einer der Ers­ten bekom­men hat, ist eine Woche spä­ter auch nur noch ein Tele­fon. Irgend­wer wird schon so einen Char­lie orga­ni­sie­ren. In einer Woche spä­tes­tens liegt das Heft irgendwo ein­fach so herum.

Bei Inter­mar­ché gibt es natür­lich auch einen Kiosk. Keine Fern­steue­run­gen natür­lich, aber Lot­to­scheine dafür und ein umfang­rei­che­res Sor­ti­ment an Print­me­dien. Die Ver­käu­fe­rin setzt mich auf eine Liste, "Tihl". Kaum ein Fran­zose kann mei­nen Namen trotz wie­der­hol­ten Buch­sta­bie­rens rich­tig schrei­ben. Tihl ist schon ganz gut. Wenn das D ein D bleibt, wird es meist direkt vom H gefolgt. Oder das H nach dem L. Auch schön. Hat was Exo­ti­sches. Tihl also. Egal. Sechste Zeile auf der Liste. Na, dann hätte ich ja beste Chan­cen, ein Exem­plar zu bekom­men, sage ich. Sie kön­nen es ja ver­su­chen am Mitt­woch um halb neun, erwi­dert die Ver­käu­fe­rin, immer­hin hätte ich ja nun einen Platz auf der Liste. Zeile sechs. Von Seite zwei aller­dings nur.

Per­sön­lich hat mich Char­lie Hebdo nie inter­es­siert. Ich hätte von der Zeit­schrift nicht ein­mal gewußt. Im Zusam­men­hang mit bis­si­gen Kari­ka­tu­ren vom Pro­phe­ten wäre ich nicht auf Char­lie gekom­men. Geschweige denn einen der Namen aus der Redak­tion. Mit fran­zö­si­scher Satire glaube ich ohne­hin, nicht viel anfan­gen zu kön­nen. Schon der fran­zö­si­sche All­tags­hu­mor ist mir eher fremd. Warum also das Heft? Eine Tro­phäe? Je suis Char­lie! Und jetzt will ich auch eine Teil­nah­me­be­schei­ni­gung?

Im Stadt­zen­trum gibt es auch einen Zeit­schrif­ten­han­del. Noch viel umfang­rei­cher das Sor­ti­ment. Außer­dem loka­les Kunst­hand­werk aus Oli­ven­holz, Kera­mik­zi­ka­den aus China, Säck­chen mit Laven­del­blü­ten, Her­bes de Pro­vence in Zel­lo­phan. Post­kar­ten. Ein knap­pes Dut­zend Motive aus La Garde, Laven­d­el­fel­der in der Haute Pro­vence und wilde Pferde in der Camar­gue. Was der Tou­rist halt so braucht. Die Ver­käu­fe­rin eher kurz ange­bun­den. Mein har­ter deut­scher Akzent, der sonst gerne als char­mant bezeich­net wird, wirkt hier nicht. Ver­mut­lich sonst auch nicht die Wahr­heit, das Kom­pli­ment zum char­man­ten Akzent. Weiß ich. Die Geschichte von mei­nen so fran­ko­phi­len Eltern, die so gerne ein Exem­plar des nächs­ten Char­lie hät­ten, inter­es­siert sie nicht. Reser­vie­rungs­liste? Nö. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Wenn man wirk­lich wis­sen will, was drin­steht in den acht Sei­ten, denke ich, fin­det man ver­mut­lich am Mitt­woch, ab zehn Uhr mor­gens spä­tes­tens das ganze Heft als PDF. Im schlimms­ten Fall bei Ebay. Es wer­den sich schon gewis­sens­neu­trale Abzo­cker fin­den, die ihr Exem­plar für zehn Euro die Datei ver­viel­fäl­ti­gen. Oder, andere Mög­lich­keit, wenn man in der Nähe eines inter­na­tio­na­len Flug­ha­fens lebt – wie Ihr zum Bei­spiel, liebe Eltern – und das Ori­gi­nal ganz ori­gi­nal haben muß, könnte man die Runde in den ein­schlä­gi­gen Eta­blis­se­ments des inter­na­tio­na­len Flug­ha­fens machen. Char­lie kommt ver­mut­lich ab sechs Uhr mor­gens mit der ers­ten Maschine aus Paris. Oder am spä­ten Diens­tag Abend schon. Das nur so als Idee. Wenn man das Ori­gi­nal haben muß. Ich würde nicht nach Mar­seille fah­ren. Ich per­sön­lich wäre im Falle, jemand aus der Nähe eines inter­na­tio­na­len Flug­ha­fens käme in Besitz eines Exem­plars, mit einem per­sön­li­chen PDF-Scan zufrie­den. Bei Ebay würde ich es schon nicht kau­fen.

In einer Par­al­lel­straße zur rue Frédé­ric Mis­tral ist ein klei­nes Centre com­mer­cial mit einem wei­te­ren Kiosk. Außer­dem eine Apo­theke, Bäcker, Asia-Food. Der Kiosk etwas weni­ger reich­hal­tig als der im Zen­trum. Das ganze Tou­ris­ten­zu­be­hör fehlt. Man­gels ent­spre­chen­der Kli­en­tel wohl. Dafür eine ganze Wand Ziga­ret­ten. Der Inha­ber stark über­ge­wich­tig, seine Frau etwas weni­ger. Sehr freund­lich, sehr wort­reich. Er mehr als sie. Er hat auch eine Liste. Ich könnte Platz acht haben. Auch auf Seite zwei nur aller­dings. Platz acht auf Seite zwei ist über­haupt eigent­lich Platz acht­zig etwa. Seine Liste ent­sprä­che näm­lich über sieb­zig Bestel­lun­gen, sagt er. Dann würde es wohl kei­nen Sinn machen, am Mitt­woch zu kom­men. Nein, über­haupt nicht, er hätte ohne­hin nur drei­ßig Exem­plare. Aber ich solle es doch bei Inter­mar­ché ver­su­chen am Mitt­woch Mor­gen. Die wür­den näm­lich keine Liste machen. Doch, doch, erwi­dere ich, die haben auch so eine Liste wie Sie! Dis donc, sagt der Dicke, ça alors! Dann haben die ja gelo­gen! Gelo­gen? Sowas kann für Süd­frank­reich doch noch nicht als gelo­gen gel­ten, denke ich! Man kann die dyna­mi­sche Dar­stel­lung dyna­mi­scher Gege­ben­hei­ten doch nicht als Lüge bezeich­nen! Und über­haupt, wel­che Rele­vanz soll das haben? Das aber behalte für mich. Merci, bon après-midi.

Liebe Eltern!

Ich werde am Mitt­woch Mor­gen halb neun bei Inter­mar­ché vor der Tür ste­hen. Ich mache mir aller­dings nur sehr geringe Hoff­nun­gen, eines der Char­lie-Exem­plare zu ergat­tern.

Ich werde es ver­sucht haben. Ver­spro­chen.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


Die­ser Text erschien in einer gekürz­ten Ver­sion am 14. Januar 2015 als Leser­ar­ti­kel bei ZEIT ONLINE (http://www.zeit.de/community/2015–01/charlie-hebdo-sonderausgabe-jagd)