Das Blaue vom Himmel

Für den Wagen kann ich Ihnen viel­leicht noch fünf­zehn­hun­dert geben. Mehr ist da nicht drin. Die Kilo­me­ter. Soviel Kilo­me­ter! Und die Die­sel­pumpe muß ja erst noch ersetzt wer­den. Und wer weiß, was der Wagen noch alles hat. Da muß ohne­hin erst­mal der Spei­cher des Bord­com­pu­ters aus­ge­le­sen wer­den. Täte ihm ja leid, sagt der Ver­trags­händ­ler mei­nes Ver­trau­ens und guckt ganz betrof­fen. Gefühlt wäre mein Auto noch gut drei­tau­send Euro wert gewe­sen.

Mit etwas Glück, und weil man ja Stamm­kunde ist und den Nach­fol­ge­wa­gen mit soviel weni­ger Kilo­me­tern auch bei ihm kau­fen will, schlägt er viel­leicht noch drei­hun­dert auf. Je nach­dem, was der Wagen noch alles hat. Als ob er nicht auch ohne Aus­le­sen wüßte, was der Wagen noch alles haben könnte. Seit Jah­ren kommt er alle sechs Monate min­des­tens in die Werk­statt. Aber, na ja, sei's drum, weg damit. War doch ein biß­chen viel Ärger mit der Kiste in den letz­ten Mona­ten. Die Kupp­lung, die Zylin­der­kopf­dich­tung. Der Kom­pres­sor der Kli­ma­an­lage. Der Antrieb des Schie­be­dachs. Blin­ker, Radio, Kühl­was­ser­sen­sor. Elek­tro­ni­sche Phä­no­mene. Die Gurt­straf­fer, die ein­fach so zün­den, ohne Anlaß, völ­lig unver­mit­telt. Wer weiß, das nächste Mal schlägt mir womög­lich der Air­bag ins Gesicht. Ganz über­ra­schend. Weg damit! Mit dem Neuen, auch ein Gebrauch­ter, aber weni­ger als vier Jahre alt und nur knapp über fünf­zig­tau­send Kilo­me­ter, natür­lich unfall­frei und scheck­heft­ge­pflegt, wird alles bes­ser wer­den. Bestimmt. Der Ver­trags­händ­ler gibt sich zuver­sicht­lich. Weiß Gott, woher Auto­me­cha­ni­ker ihre Zuver­sicht neh­men im Gebraucht­wa­gen­ver­kauf!

Kaum werde ich mich von mei­nem Alten, dem Sor­gen­kind mit den vie­len Kilo­me­tern auf dem Zäh­ler, getrennt haben, nach einem letz­ten melan­cho­li­schen Blick ins Arma­tu­ren­brett, wird der Mecha­ni­ker sei­nen Com­pu­ter anschlie­ßen. Den Spei­cher aus­le­sen. Denk­bar, daß ihm der Ansprech­part­ner sei­ner auto­mo­bi­len Ver­trags­firma den Zugangs­schlüs­sel zum Menü­punkt für "Beson­dere Ein­stel­lun­gen" ver­ra­ten hat. Den für eine radi­kale Kor­rek­tur des Kilo­me­ter­stands zum Bei­spiel. Oder für die Akti­vie­rung ver­schie­de­ner Soll­bruch­stel­len. Eine kleine Modi­fi­ka­tion in den Para­me­tern des einen oder ande­ren Sen­sors hat über kurz oder lang Aus­wir­kun­gen zum Bei­spiel auf die Dyna­mik des Tur­bo­la­ders. Frü­her oder spä­ter ist er reif, zum Bei­spiel der Tur­bo­la­der. Reif für einen Aus­tausch. Viel­leicht läßt sich bei die­ser Gele­gen­heit über­haupt ein klei­ner Stör­code ein­flech­ten in die Haupt­soft­ware des Bord­com­pu­ters. Hat ihm der Herr im Anzug auf einem USB-Stick zuge­steckt. Als mp3 getarnt. Kön­nen Sie auf alle Modelle der Bau­rei­hen ab 2005 auf­spie­len, hatte er gesagt. Sichert Ihnen die Kun­den auf Jahre hin­aus, ergänzte er mit einem Augen­zwin­kern. Natür­lich mit Vor­sicht ein­zu­set­zen, solange das Jahr Händ­ler­ga­ran­tie noch nicht abge­lau­fen ist. So ein­fach funk­tio­niert Kun­den­bin­dung heut­zu­tage.

Das war frü­her schon kom­pli­zier­ter mit der Kun­den­bin­dung. Frü­her, in der Ära vor der auto­mo­bi­len Digi­ta­li­sie­rung, waren noch pro­funde Kennt­nisse der Mecha­nik gefragt. Und vor allem ziel­ge­rich­te­tes und ent­schlos­se­nes Ein­grei­fen. Ziel­ge­rich­tet und ent­schlos­sen, aber dis­kret. Ein Hauch Metall­späne ins Rad­la­ger zum Bei­spiel. Kann kei­ner nach­wei­sen. Ein paar Schrau­ben lockern an der Zylin­der­kopf­dich­tung. Eine Vier­tel­dre­hung höchs­tens. Spä­tes­tens ein hal­bes Jahr spä­ter kommt der Kunde wie­der. Ein beherz­ter Hieb mit dem Schrau­ben­zie­her in einen Aus­puff­topf. Frü­her mußte man alle naselang was am Aus­puff wech­seln. Im Zeit­al­ter der Digi­ta­li­sie­rung ros­tet kein Aus­puff mehr. Nicht mehr nötig. Oder eine lose Bei­lag­scheibe im Zünd­ver­tei­ler. Eine Bei­lag­scheibe? Im Zünd­ver­tei­ler? Der Mecha­ni­ker weiß sich nicht zu erklä­ren, wie die dahin gekom­men sein soll. Schul­ter­zu­cken. Sug­ges­tive Ver­mu­tun­gen höchs­tens. Beson­ders geschickt, weil das gleich­zei­tig den Kun­den kul­pa­bi­li­siert. Der Kunde wird nie wie­der wagen, die Motor­haube auch nur anzu­fas­sen. Bes­ser so.

Heut­zu­tage geht das alles digi­tal. Ganz sau­ber. Ohne Schrau­ben­zie­her. Ein paar krea­tive Pro­gramm­zei­len direkt aus der Kon­zern­zen­trale und wenig spä­ter fal­len die erstaun­lichs­ten Kom­po­nen­ten aus. Kom­po­nen­ten, von denen der Laie nie gehört hat. Kein Sen­sor, der Fehl­funk­tio­nen nicht auf Zufalls­ba­sis signa­li­sie­ren könnte, kein Reg­ler, der nicht ent­glei­sen könnte. Oran­ge­far­bene und rote Leuch­ten im Cock­pit. Der Dia­gno­se­com­pu­ter fin­det dann jeden denk­ba­ren Feh­ler. Und mein Mecha­ni­ker kann mir eine nette Inter­pre­ta­tion dazu erzäh­len. Meist bin ich irgend­wie selbst schuld. Oder das Auto. Was erwar­ten Sie denn bei dem Kilo­me­ter­stand? Schul­ter­zu­cken. Wird min­des­tens zwei­hun­dert Euro kos­ten. Lei­der. Betrof­fen­heit. Plus Stun­den­satz. Plus Mehr­wert­steuer. Zumin­dest das hat sich nicht geän­dert.

Beson­ders dank­bar ist die Simu­la­ti­ons­funk­tion. Ein Bau­teil simu­liert sei­nen Total­aus­fall. Und läßt sich mit­tels Maus­klick repa­rie­ren. Den Wagen natür­lich der Glaub­wür­dig­keit hal­ber min­des­tens drei Tage dabe­hal­ten, was von Lie­fer­eng­pass erzäh­len und mehr als vier­hun­dert Euro ver­an­schla­gen. Lei­der. Plus Stun­den­satz. Betrof­fen­heit. Plus Mehr­wert­steuer. Wenn ein Kunde mal nach­fragt, kann man ihm immer noch irgend­ein ölver­schmier­tes Teil aus der Samm­lung zei­gen. Wel­cher Laie kann schon einen Tur­bo­la­der von der Kühl­was­ser­pumpe unter­schei­den?

Mein Neuer ist einer von denen mit evi­dent getürk­ter Öko­lo­gie. Intel­li­gente Soft­ware pro­du­ziert geschönte Abgas­werte. Nicht dis­kret genug. Nicht intel­li­gent genug. Auf sei­ner Heck­klappe klebt rechts unter dem TDI – das I rot, warum auch immer – ein Schrift­zug "BLUEMOTION tech­no­logy". Mit blauem BLUE. Was auch immer das hei­ßen mag. Blaue Bewe­gung? Blau in Bewe­gung? Wel­ches Blau? Das Blaue vom Him­mel? Soll kei­ner sagen, man wäre nicht dezent, poe­tisch gera­dezu, auf die Lügen hin­ge­wie­sen wor­den.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Funkloch

Ich komme aus dem Dienst und fühle mich etwas ange­grif­fen. Und das, obwohl mich kei­ner gestört hat. Weder Chir­ur­gen noch Heb­am­men, weder Not­auf­nahme noch Inten­siv­sta­tion oder wer da sonst einen Grund fin­den könnte, mich um 01:54 Uhr oder 03:37 Uhr anzu­ru­fen. Nein, ich fühle mich ange­grif­fen, weil mein Bett unter mir zusam­men­ge­bro­chen ist! Zwei­mal. Gefühlt Heb­am­men- oder Chir­ur­gen­zeit. 01:54 Uhr oder 03:37 Uhr. Nein, so fett bin ich nicht! Ikea aus den frü­hen 90er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts. Oder, schlim­mer noch, das fran­zö­si­sche Äqui­va­lent zu Ikea aus den frü­hen 90er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts. Da darf so ein Lat­ten­rost – Latte für Latte – schon mal nach­ge­ben. Warum aber gerade heute Nacht? Schlecht geschla­fen also. Die Kaf­fee­ma­schine im OP wird gerade ent­kalkt. Wie kann man auf die Idee kom­men, eine Kaf­fee­ma­schine zur Früh­stücks­zeit zum Ent­kal­ken außer Betrieb zu neh­men? Meine Ablö­sung auf der Inten­siv­sta­tion kommt eine gute Vier­tel­stunde ver­spä­tet. Tut ihr immer­hin leid, der Ablö­sung. Nach der Über­gabe riecht es im OP nach Kaf­fee. Zu spät. Ich muß weg. Ich habe mir ein straf­fes Pro­gramm gemacht für heute.

Zuhause Chaos. Offen­bar eili­ger Auf­bruch der Mit­be­woh­ner. Fest­be­leuch­tung im gan­zen Haus, ein Berg Schmutz­wä­sche vor der Wasch­ma­schine. Früh­stücks­rui­nen auf dem Küchen­tisch, die Spül­ma­schine nicht aus­ge­räumt. Für den Renault aus unse­rem Fuhr­park – der mit inzwi­schen repa­rier­tem Turbo – habe ich ein Date zur révi­sion. Der Schlüs­sel ist weg. Unauf­find­bar. Das fehlte mir noch! Meine Fami­lie nicht ansprech­bar. Meine Frau geht gerne ohne Tele­fon in den OP. Die Han­dys mei­ner Söhne sind ein­fach aus. Wahr­schein­lich sind die Bat­te­rien am Ende. Die Han­dys mei­ner Söhne müs­sen oft ohne Bat­te­rie­la­dung aus­kom­men. Oder ohne Funk­netz. Ich finde den Schlüs­sel schließ­lich in der Schmutz­wä­sche. In einer Hosen­ta­sche. Nach über zwan­zig Jah­ren Kin­der­auf­zucht bin ich ein geüb­ter Sucher! Manch­mal finde ich auch was.

Der Chef bei Renault nimmt mein désolé mit einem Nicken zur Kenn­tis und kom­men­tiert nur tro­cken c'est pas trop tôt. Genauere Erläu­te­run­gen zum Schlüs­sel in der Schmutz­wä­sche inter­es­sie­ren ihn ver­mut­lich genauso wenig wie der bers­tende Lat­ten­rost im Kran­ken­haus. Er wäre nicht sicher, ob der Wagen heute noch fer­tig würde. Egal.

Kurz nach zehn fällt mir auf, daß die Putz­fee ja noch gar nicht im Haus ist. Die Putz­fee kommt immer diens­tags. Seit drei Wochen heißt sie Élo­die. Pier­cing in der Unter­lippe rechts. Letzte Woche hatte sie einen Arzt­ter­min vor ihrem Ein­satz bei uns. Die Woche davor gab es, glaube ich, ein Pro­blem mit dem Hund. Ihr Ein­satz bei uns ist eigent­lich für vier Stun­den zwi­schen halb neun und halb eins vor­ge­se­hen. Viel­leicht kommt sie ja gar nicht heute. Käme mir sehr gele­gen.

Kaum denke ich das, kaum denke ich mir, wie schön das wäre, wenn die Putz­fee heute gar nicht käme, warum auch immer, Arzt, Hund, Auto mei­net­we­gen, geht die Tür. Élo­die. Heute ist ihr Rücken der Grund für die Ver­spä­tung. Le dos blo­qué. Sieht auch wirk­lich ange­grif­fen aus. Sie hatte eine Nacht wie in der Hölle. Hat kein Auge zuge­tan. Sagt sie. Wenn es so schlimm wäre, solle sie doch bes­ser zuhause blei­ben. Nein, nein, sagt sie, geht schon. Dann doch. Schade. Spä­ter kreischt sie oben irgendwo. Spinne? Skor­pion? Maus? Eine Putz­fee mit Arach­no­pho­bie? Nein, der Hams­ter war's. Der Hams­ter mei­ner Toch­ter hatte Élo­die ange­krab­belt. Der Käfig war offen geblie­ben. Mal wie­der. Ein Glück, das dies der Katze nicht auf­ge­fal­len war!

Ich werde ver­su­chen, ein Zeit­fens­ter für eine kleine Sieste zu fin­den. Am bes­ten drau­ßen. Außer Hör­weite von Élo­die. In der Sonne. Am bes­ten gleich. Und das Tele­fon im Funk­loch las­sen.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Weihnachten

Allô?

Ich erkenne an der Num­mer, wer mich da anruft. Ich melde mich trotz­dem mit Hallo?, weil alle das so machen.

Allô?

Das ist Manus Bru­der. In Frank­reich wird – auch weit jen­seits des Zeit­al­ters auf­kom­men­der ana­lo­ger Tele­kom­mu­ni­ka­tion – zunächst die Sta­bi­li­tät der Lei­tung geprüft.

Oui, bon­jour, c'est Mon­sieur Diehl!

Sage ich, als ob er das nicht wüßte. Er hat mich ja aus sei­nem Tele­fon selbst ange­ru­fen. Machen aber alle so.

Bon­jour, c'est le Père Noël!

Der Weih­nachts­mann! Ges­tern mußte ich am Tele­fon laut wer­den mit Manus Bru­der. Ein biß­chen teu­to­nisch, ich muß es zuge­ben. Ich konnte meine Gene­tik nicht mehr unter Kon­trolle hal­ten. Manus Bru­der bezieht sich auf meine Ansage, ich wäre nicht gewillt, bis Weih­nach­ten auf die Dämp­fer der Heck­klappe zu war­ten. Manus Bru­der kann rich­tig komisch sein. Er ist der Weih­nachts­mann! Und das, obwohl er im Laden immer die Drecks­ar­beit machen muß. Immer ist er mit dem Staub­sauger unter­wegs und der Werk­zeug­kiste. Wenn er mor­gen immer noch wit­zig ist, gril­len wir dem­nächst zusam­men.

Manu selbst ist der Patron. Manu ist deut­lich weni­ger wit­zig. Er ist Gebraucht­wa­gen­händ­ler. Er muß sich um den Papier­kram küm­mern. Unter ande­rem. Für jedes Auto ein Kraft­um­schlag in DIN A 5. Die Umschläge ihrer­seits in klei­nen Plas­tik­kis­ten, etwa zwan­zig pro Kiste. So ist Papier­kram anstren­gend. Er ver­kauft direkt an der Natio­nal­straße Autos, die sonst kei­ner mehr ver­kauft. Zur Zeit steht eine ganze Flotte Renault von der Post auf sei­nem Hof. Gelbe Lie­fer­wa­gen jeder mit rund einer hal­ben Mil­lion Kilo­me­tern auf dem Zäh­ler. Neu­lich konnte man da auch was Gro­ßes von Mer­ce­des-Benz sehen, aber das war ver­mut­lich Manus Eigen­be­darf. Mir hat er Ende Juli (Juli! Da war noch Som­mer, das war vor sie­ben Wochen) einen grau­sil­ber­nen Renault ver­kauft. Zehn Jahre alt, aber in Ord­nung. Für mich als Laien zumin­dest in Ord­nung. Das Auto fährt gera­de­aus, alle Gänge funk­tio­nie­ren, die Brem­sen brem­sen gleich­mä­ßig. Keine unan­ge­neh­men Geräu­sche, keine Ölspu­ren. Eine Schlüs­sel­karte muß neu pro­gram­miert, die Kli­ma­an­lage auf­ge­füllt wer­den. Okay. Was will ich erwar­ten zu dem Preis? Und die Dämp­fer der Heck­klappe funk­tio­nie­ren nicht. Er will mir aller­dings Ersatz beschaf­fen. Bis mor­gen, spä­tes­tens über­mor­gen. Ende Juli.

Né vous inquié­tez pas.

Dann, vier Tage und keine hun­dert Kilo­me­ter spä­ter, ließ mich der Renault mit defek­tem "Turbo" auf der Auto­bahn im Stich. Manu selbst ist, wie gesagt, weni­ger wit­zig als sein Bru­der, auch weil er sich nicht nur um den kom­pli­zier­ten Papier­kram in den Kist­chen küm­mern muß, son­dern auch um die Rekla­ma­tio­nen. Meine Rekla­ma­tion hat ihm gar keine Freude berei­tet. Ich habe ihn über Wochen jeden Tag ange­ru­fen, fast jeden Tag. Meine Ent­täu­schung nicht ver­hehlt. Mei­nem Ärger gele­gent­lich freien Lauf gelas­sen. Mit dem Rechts­an­walt gedroht. Teu­to­ni­sche Ver­an­la­gung eben. Manu blieb gelas­sen:

Né vous inquié­tez pas! Je m'en occupe. Je vous tiens au cou­rant!

Blei­ben Sie ganz ruhig! Ich küm­mere mich darum. Ich halte Sie auf dem Lau­fen­den. Aber, das müßte ich ver­ste­hen, es wäre immer­hin August und der Her­stel­ler und sein Lie­fe­rant und der Lie­fe­rant des Lie­fe­ran­ten wären wohl im Urlaub. Ich rufe Sie an, wenn der Tur­bo­la­der da ist. Fünf Wochen lang. Fünf! Fast jeden Tag. Jedes Mal der glei­che Text. Né vous inquié­tez pas! Aber ich müßte auch ver­ste­hen und so wei­ter. Für teu­to­ni­sche Ver­an­la­gung blieb ich sehr gelas­sen. Finde ich.

Letzte Woche waren der Turbo-Her­stel­ler und die Lie­fe­ran­ten­kette end­lich aus den Som­mer­fe­rien auf­ge­wacht und Rachid, Manus Mecha­ni­ker, würde das Teil ein­bauen. Mor­gen, spä­tes­tens über­mor­gen. Tat­säch­lich konnte ich den Renault zwei Tage spä­ter abho­len.

Die Heck­klap­pen­dämp­fer waren über dem gan­zen Ärger mit dem Tur­bo­la­der lei­der in Ver­ges­sen­heit gera­ten. Der wit­zige Bru­der über­nahm. Da wußte ich aber noch nicht, wie wit­zig der Bru­der sein konnte.

Né vous inquié­tez pas! Je m'en occupe. Je vous tiens au cou­rant!

Das war nun ein­deu­tig zuviel für meine teu­to­ni­sche Ver­an­la­gung. Das kannte ich schon vom sei­nem Bru­der, dem Patron. Ich konnte nicht mehr anders, als mei­nem Ärger freien Lauf zu las­sen, mit dem Rechts­an­walt zu dro­hen und auf den Ein­bau der Dämp­fer deut­lich vor Weih­nach­ten zu bestehen. Das war ges­tern.

Heute ist Weih­nach­ten.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Elternabend

Ab 17:30 Uhr. Mein Sohn hätte mir nichts davon erzählt. Hätte es wahr­schein­lich unauf­fäl­lig unter den Tisch fal­len las­sen. Und ich hätte eine gute Ent­schul­di­gung gehabt, nicht dort gewe­sen zu sein. Bei der Durch­sicht sei­ner Schul­sa­chen geriet mir der Zet­tel zwi­schen die Fin­ger. Zufäl­lig. Petit rap­pel! Ren­contre pro­fes­seurs-par­ents 17:30 heu­res le 14 sep­tembre. – Kleine Erin­ne­rung! Eltern­abend am 14. Sep­tem­ber um 17:30 Uhr. Ein Zet­tel in ver­bes­ser­tem Brief­mar­ken­for­mat. Manch­mal ent­wi­ckelt diese Schule öko­lo­gi­sche Anwand­lun­gen. Daß so win­zige Zet­tel­chen auch ver­lo­ren­ge­hen kön­nen, ist viel­leicht auch Absicht. Je weni­ger kleine Erin­ne­run­gen von Eltern gefun­den wer­den, desto weni­ger davon kom­men. Desto weni­ger unan­ge­nehme Zwi­schen­fra­gen und vor allem, desto schnel­ler Fei­er­abend. Leh­rer sind auch nur Men­schen.

17:30 Uhr ist eine ten­den­zi­ell sport­li­che Her­aus­for­de­rung. Ich muß die Kin­der nach Schu­lende um halb fünf zum Schwimm­trai­ning ins Bad am Hafen brin­gen und im Pend­ler­ver­kehr zurück zur Schule kom­men. Und dann, vor allem, einen Park­platz in der Nähe der Schule fin­den. Im Ein­gangs­be­reich zum Audi­to­rium, wo die­ser Eltern­abend eigent­lich statt­fin­den sollte, hän­gen Zet­tel aus. Pro­gramm­än­de­rung: Jede Klasse hat einen indi­vi­du­el­len Raum. Es gibt vier Klas­sen 5ème. 1 bis 4. Woher soll ich denn wis­sen, in wel­cher 5ème mein Sohn ist? 2 viel­leicht? Hat er zwei gesagt? 2 kommt mir bekannt vor. Im ent­spre­chen­den Raum sehe ich Arthur. Arthur, weiß ich, ist in der Klasse mei­nes Soh­nes. Vor Arthur ist noch ein Platz frei.

17:38 Uhr auf der Uhr an der Wand. Eigent­lich ganz gut im Timing.

Vorne spricht eine dun­kel­haa­rige Mitt­vier­zi­ge­rin in knall­grü­nem Blou­son über schwar­zer Kom­bi­na­tion. Sie trägt eine Brille und ein Dau­er­lä­cheln.

Qui c'est? frage ich Arthur. Wer ist das?

Madame C., la prof princi­pale.

Die Klas­sen­leh­re­rin. Die Klas­sen­leh­re­rin unter­rich­tet die Natur­wis­sen­schaf­ten. Phy­sik, Che­mie, Bio­lo­gie. Für Phy­sik und Che­mie braucht der Schü­ler einen Kit­tel. Der Kit­tel sei keine Option, der Kit­tel ist ein Muß, sagt sie. Ohne Kit­tel keine Teil­nahme am Phy­sik­un­ter­richt. Man kann den Kit­tel aller­dings auch im Schü­ler­büro lei­hen. Ein Euro pro Unter­richts­ein­heit würde den Eltern dann in Rech­nung gestellt wer­den. Das wäre nicht viel, sagt sie mit ihrem Lächeln, son­dern mehr so als edu­ka­tive Maß­nahme gedacht. Aha. Edu­ka­tive Maß­nahme? Sol­len die Eltern erzo­gen wer­den? Kauft Eurem Kind end­lich einen Kit­tel! Anschlie­ßend fällt ihr ein, daß ja noch wich­tige Unter­la­gen zu ver­tei­len sind. Neun Blät­ter, ein­sei­tig bedruckt. Da hat die Schule ihr öko­lo­gi­sches Gewis­sen klar ver­drängt. Wich­tig ist wich­tig. Das mit dem Kit­tel für Phy­sik steht nicht drin. Die Schul­ord­nung aber ist abge­druckt, die Pla­nung der Klas­sen­ar­bei­ten, der Stun­den­plan. Der Stun­den­plan ist kom­pli­ziert. Zwei Blät­ter Anhang. Jede Woche ist ein biß­chen anders. Unter­schied­lich anders für die Schü­ler der Eng­lisch-Gruppe und der Deutsch-Gruppe. Zwi­schen­frage aus dem Publi­kum:

Haben die Schü­ler das ver­stan­den?

Sie wüßte, daß das nicht ganz ein­fach wäre, aber die Schü­ler haben das ver­stan­den, sagt Madame C.. Ein Auf­at­men geht hör­bar durch die Rei­hen. Nie­mand mehr folgt den Aus­füh­run­gen der Klas­sen­leh­re­rin­nen.

Maman! – Maman!

Arthur ruft im Flüs­ter­ton seine Mut­ter. Die sitzt ein paar Tische wei­ter rechts. Die Mut­ter reagiert erst auf wie­der­holte Anspra­che.

Quoi?

Arthur möchte seine Teil­nahme an der Réunion been­den, den Raum ver­las­sen.

Tu me soû­les!

Du gehst mir auf den Geist, zischt die Mut­ter. Erstaunte Bli­cke ringsum. Redet man so mit sei­nem Kind? In der Öffent­lich­keit? Ande­rer­seits kann man Arthur ver­ste­hen. Er ist der ein­zige anwe­sende Schü­ler. Das nervt auch. Ich ver­stehe Arthur. Mit Arthur ver­bin­den mich außer­dem gemein­same Erin­ne­run­gen. Sei­net­we­gen hatte ich mich einen Mitt­woch Nach­mit­tag bei der Grund­schul­lei­te­rin ein­zu­fin­den. Arthur war Opfer einer ganz unge­wöhn­li­chen Aggres­si­vi­tät mei­nes Soh­nes gewor­den. Arthur nervt manch­mal durch seine pene­trante Art. Okay. Der aggres­sive Aus­bruch mei­nes Soh­nes war den­noch unver­hält­nis­mä­ßig. Rich­tig. Die Grund­schul­lei­te­rin ver­suchte durch sub­tile Psy­cho­lo­gie unser häus­li­ches Gewalt­ni­veau aus­zu­lo­ten. Fra­gen zu Geschwis­tern, Com­pu­ter­spie­len, Inter­net­kon­trolle, fami­liä­ren Dis­so­nan­zen. Machte sich Noti­zen. Letzt­end­lich konnte sie von einer Benach­rich­ti­gung des Jugend­amts offen­bar abse­hen. Mein Sohn mußte einen Brief zur Ent­schul­di­gung ver­fas­sen.

Eine grau­haa­rige Dame in beige­far­be­ner Kom­bi­na­tion hat ihren Auf­tritt. Die Eng­lisch­leh­re­rin. Schmal­lip­pig spricht sie über die Wich­tig­keit des Eng­li­schen der heu­ti­gen Zeit im all­ge­mei­nen und die ihres Unter­richts im Beson­de­ren. Münd­li­che Mit­ar­beit und Voka­bel­trai­ning wären die Grund­fes­ten ihres Unter­richts. Und die Haus­auf­ga­ben. Diese häu­fig anhand der CD im Lehr­buch. Es gäbe schon, jetzt schon, Schü­ler, die diese Haus­auf­ga­ben nicht machen wür­den. Diese Schü­ler wür­den mit ernt­haf­ten Kon­se­quen­zen zu rech­nen haben. Ich nehme mit vor, die Eng­lisch-Haus­auf­ga­ben mei­nes Sohns eng­ma­schig zu hin­ter­fra­gen. Dann fällt mir ein, daß mein Sohn zur Deutsch­gruppe der Klasse zählt. Mit die­ser Dame wird er die­ses Jahr nichts zu tun haben. Ein Glück.

Dann tritt der Sport­leh­rer auf. Wer­den hier alle Leh­rer die­ser Klasse ihren Auf­tritt haben? Reli­gion, Kunst, Geschichte, Geo­gra­phie? Deutsch, Latein? Jeder mit min­des­tens zehn Minu­ten Rede­zeit? Das ver­spricht, eine rich­tige Réunion zu wer­den. Der Sport­leh­rer ist etwas kurz gera­ten, kräf­tig, mit deut­li­chem Bauch­an­satz. Gold­kett­chen. Ein bun­tes T-Shirt "Key West, Flo­rida", bunte Pal­men. Spannt ein biß­chen über dem Bauch­an­satz. Nicht wirk­lich der Sport­leh­rer­typ. Vor allem spricht er mit schwe­ren Akzent aus Mar­seille. Das kos­tet ihn bei uns, hun­dert Kilo­me­ter wei­ter öst­lich, jeg­li­che Glaub­wür­dig­keit. Er refe­riert trotz­dem über sein Pro­gramm, wel­ches durch den kom­pli­zier­ten Stun­den­plan nur schwer zu hal­ten sein würde, von der Noten­ge­bung und von sei­ner Tisch­ten­nis-AG nach dem Mit­tag­essen. Noch Fra­gen? Keine Fra­gen. Bedankt sich für die Auf­merk­sam­keit und wünscht einen schö­nen Abend.

Danach kein wei­te­rer Gast­auf­tritt aus dem Kol­le­gium. Fehlt nur noch die Wahl des Eltern­spre­chers. Es gibt nur eine Kan­di­da­tin. Somit könn­ten wir wohl von einer gehei­men Wahl abse­hen, meint die Klas­sen­leh­re­rin. Zustim­men­des Rau­nen aus dem Publi­kum. Noch Fra­gen? Keine Fra­gen. Die Klas­sen­leh­re­rin bedankt sich für unsere Auf­merk­sam­keit und wünscht uns einen schö­nen Abend.

18:17 Uhr zeigt die Uhr an der Wand. Wow! Das war phä­no­me­nal straff für einen Eltern­abend! Phä­no­me­nal straff ins­be­son­dere für einen fran­zö­si­schen Eltern­abend! Bleibt mir Zeit genug, meine Toch­ter auf 18:45 Uhr vom Trai­ning abzu­ho­len. Die Uhr im Nach­bar­saal, da ist der Eltern­abend auch schon zu Ende, zeigt aller­dings 18:23 Uhr. Die Echt­zeit auf dem Dis­play mei­nes Han­dys liegt bei 18:32 Uhr. Das ist wie bei mir im Kran­ken­haus. Dort ist vor ein paar Jah­ren die Zen­tral­ein­heit für die Uhren aus­ge­fal­len. Nur noch die Drähte aus der Wand sind geblie­ben. Daran hän­gen jetzt Küchen­mo­delle von Ikea. Jeder OP, jeder Kreiß­saal hat sein eige­nes Modell, seine eigene Zeit. Zeit­an­ga­ben haben höchs­tens die Rolle eines gro­ben Richt­werts.

Und die Toch­ter wird sich ein paar Minu­ten gedul­den müs­sen.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Central Park

Mein Exem­plar der "Riviera – Das Maga­zin", eine regio­nale, deutsch­spra­chige Monats­schrift, kommt zum Monats­ende in einem wei­ßen Hart­pa­pier-Umschlag, ist immer ein biß­chen zer­knit­tert. Ist mit fast DIN A 4 eben einen Hauch zu groß für den gän­gi­gen Brief­kas­ten­schlitz. Mit im Umschlag, als Bei­lage, etwas klei­ner, des­we­gen wohl auch nicht geknit­tert, im August die Bro­schüre "Pri­vate Resi­den­ces" einer Immo­bi­li­en­agen­tur. Hoch­glanz, viel blauer Him­mel, viel blaues Was­ser. Hoch­glanz-Immo­bi­lien, immer mit Pool, meist mit "fan­tastic views" aufs Meer. Ich ver­su­che, mir die Ziel­gruppe die­ser Bro­schüre vor­zu­stel­len. "Riviera – Das Maga­zin" hatte ich bis­lang nur im deut­schen Gene­ral­kon­su­lat von Mar­seille gese­hen. Im War­te­zim­mer vor Per­so­nal hin­ter Pan­zer­glas und Gegen­sprech­an­lage. In die­ses War­te­zim­mer kommt man als Nor­mal­mensch eigent­lich nur, wenn man sei­nen Rei­se­pass erneu­ern möchte. Tou­ris­ten stran­den hier, wenn ihnen das Auto geklaut wor­den ist samt Foto­ap­pa­rat und Kre­dit­karte. Und ihnen nicht mal der ADAC hilft. Das ist eher nicht die Kli­en­tel für die Zweit­re­si­denz im min­des­tens sie­ben­stel­li­gen Eurobe­reich. Wahr­schein­lich hat "Riviera – Das Maga­zin" Abon­nen­ten im Hin­ter­land der Côte d'Azur oder in Le Lavan­dou. Deut­sche Rent­ner, die auf das Schnäpp­chen mit dem rich­ti­gem Wahn­sinns-Meer­blick lau­ern.

Auch im Heft selbst geht es gerne mal um Immo­bi­lien. Dies­mal das rie­sige Anwe­sen von Johnny Depp. Ein gan­zes Dorf. Der Bericht dar­über fin­det sich auf Seite 13. Wurde in Zusam­men­ar­beit mit einem Herrn aus der Immo­b­li­en­bran­che ver­fasst. 23 Mil­lio­nen. Keine vue mer aller­dings. Schade bei dem Preis. Was will man mit den vie­len Gebäu­den anfan­gen, wenn man mit sei­nen zwei­hun­dert bes­ten Freun­den nicht ein Glas Rosé mit Sicht bis Kor­sika trin­ken kann? Wozu braucht man die gan­zen Hektar Land, wenn man nichts von Oli­ven- oder Wein­an­bau ver­steht? Wahr­schein­lich durfte Aila, die Redak­teu­rin, das Anwe­sen immer­hin mal besich­ti­gen. VIP-Luft schnup­pern mit dem Herrn aus der Immo­bi­li­en­bran­che.

Aila ist laut Impres­sum über­haupt "die Redak­tion". Sie gehört in der Zei­tung zu den Weni­gen, die wirk­lich arbei­ten. Oder die Ande­ren waren für die August-Aus­gabe gerade im Urlaub. Aila hat den Löwen­an­teil an der Arbeit im Sinne von inhalt­li­chem Out­put, dem Haupt­an­lie­gen eines Druck­me­di­ums. Ohne die Kol­le­gen aus dem Mar­ke­ting, dem Ver­trieb, dem Sekre­ta­riat ginge natür­lich gar nichts. Das darf nicht unter­schätzt wer­den. So wie Chir­ur­gen ohne Anäs­the­sie. Geht auch gar nicht. Frau Hall ist die Chef­re­dak­teu­rin. Frau Hall muß das Edi­to­rial schrei­ben. Vom Umzug der Zei­tung berich­ten, einer Namens­än­de­rung des Maga­zins "aus recht­li­chen Grün­den", Modi­fi­ka­tio­nen unter ande­rem im Lay­out. Es klingt ein biß­chen wie eine Recht­fer­ti­gung. Sech­zehn Zei­len. Außer­dem war die Chef­re­dak­teu­rin schön essen. Fisch. In einem tra­di­ti­ons­rei­chen Restau­rant, in dem auch schon Pablo Picasso dinierte und die Bar­dot. Frü­her mal ein Insi­der­tipp. Heute geho­bene Preis­klasse. Ein paar Worte noch über Fürst Albert von Monaco und dem präch­ti­gen Gedei­hen der Wirt­schaft im Fel­sen­staat sowie dem der klei­nen Zwil­linge. Die schla­fen übri­gens durch. Immer­hin sechs bis sie­ben Stun­den. Seite sie­ben. Das war's. Den redak­tio­nel­len Rest machen Aila und ihre Prak­ti­kan­tin. Außer ihrem Bericht über das Anwe­sen von Johnny Depp fin­det sich ein Inter­view mit einem deut­schen Fern­seh-VIP, ein Bericht über die Aus­wil­de­rung von Bart­gei­ern, Lieb­lings­strände mit Öko-Prä­di­kat. Alles von Aila. Dann kommt noch was Regio­nal­kul­tur mit einem Ver­an­stal­tungs­ka­len­der, Kurz­be­richte, "Neues aus dem Süden". Klein­an­zei­gen, Immo­bi­lien noch, Stel­len­ge­su­che, Impres­sum, Leser­briefe. Seite 28, zwei­spal­tig mit Por­trät, "Ehren­wort". Das ist von mir. Auch das redak­tio­nelle Fei­len daran gehört mei­nes Wis­sens zu Ailas Auf­ga­ben. Das Fei­len hat sie dies­mal viel­leicht der Prak­ti­kan­tin über­las­sen. Mit der Vor­gabe, nicht mehr als ein­tau­send­zwei­hun­dert Worte zuzu­las­sen. Und dann "abge­nickt". Abni­cken scheint so ein Wort zu sein aus dem Jar­gon für Redak­teure. Habe ich schon öfter gehört. Ich soll meine nach­ge­schlif­fe­nen Bei­träge immer "abni­cken". Soll wohl auch zu ver­ste­hen geben, daß der bear­bei­tende Redak­teur keine Lust hat, nach sei­nem per­sön­li­chen Fein­schliff noch­mal über die eine oder andere Wort­wahl oder gar Pas­sage nach­zu­ver­han­deln. Manch­mal, eigent­lich meis­tens, reicht es bei Aila ohne­hin nicht zum Abni­cken las­sen. Wegen der gan­zen ande­ren Jobs wohl, die noch erle­digt wer­den müs­sen. Trotz Prak­ti­kan­tin. Egal.

Das güns­tigste Objekt der Bei­lage, ist übri­gens ein Appar­te­ment für 1.180.000 € in Ville­fran­che-sur-Mer, öst­lich von Nizza, 87 Qua­drat­me­ter, Blick auf den Pool der Anlage und selbst­ver­ständ­lich das Meer. Das könnte was sein für ein Rent­ner-Ehe­paar. Würde end­lich den Auf­stieg aus Le Lavan­dou ermög­li­chen. Platz für Kin­der und Enkel im zwei­ten Schlaf­zim­mer. Groß­zü­gi­ger, anspruchs­vol­ler, auf mehr Gäste aus­ge­rich­tet ist das Anwe­sen mit acht Schlaf­zim­mern auf 650 Qua­drat­me­tern Wohn­flä­che in Saint-Jean-Cap-Fer­rat, einer exklu­si­ven Halb­in­sel im Osten Niz­zas. Bes­sere Lage noch als Ville­fran­che. Nur zwei­tau­send Qua­drat­me­ter Grund. Dafür direk­ter Zugang zum Meer. 22 Mil­lio­nen.

Das ist was für die, die im Früh­jahr mit Blick über den Cen­tral Park resi­die­ren.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Ist das mein Problem?

Wo geht's denn hier in den Kreiß­saal?

Deut­sche. Ein jun­ger Mann mit Drei-Tage-Bart und einer Vier­jäh­ri­gen auf dem Arm. Die spre­chen mich auf Deutsch an! Im Flur zu den Urgen­ces. Sieht man mir an, daß ich Deut­scher bin? Habe ich Socken in Bir­ken­stocks an den Füßen, die FAZ unter dem Arm, Schwarz-Rot-Gold auf der Wange?

Bis zum Ende des Flurs und dann rechts. Mater­nité.

Und fin­den es völ­lig nor­mal, daß ich in ihrer Spra­che ant­wor­ten kann. Man muß dem jun­gen Mann zugute hal­ten, daß er viel­leicht Grund zu Auf­re­gung hat. Daß es seine Frau auf dem Weg in den Kreiß­saal womög­lich ziem­lich eilig hatte.

Zur Zeit – es ist immer­hin schon Sep­tem­ber und die meis­ten Deut­schen sind wie­der abge­reist, dachte ich – lau­fen mir erstaun­lich viele Deut­sche über den Weg. Im Kran­ken­haus. Ges­tern saß eine ganze Fami­lie in der War­te­gruppe der chir­ur­gi­schen Sta­tion. Und spielte Uno! Sonst hört man deutsch vor allem bei Déc­a­th­lon. Ich weiß nicht, warum gerade da. Als ob deut­sche Urlau­ber erst­mal Bade­ho­sen, Schwimm­rei­fen und Flos­sen bei Déc­a­th­lon holen müß­ten. Bei Déc­a­th­lon gibt es immer Deut­sche. Immer, zu jeder Jah­res­zeit.

Tu es mon sau­veur!

Carole auf ihrer inter­nis­ti­schen Sta­tion. Ich bin ihre Ret­tung. Sie hat eine deut­sche Pati­en­tin, die nur Boschua und Merßi sagen kann. Ist vor zwei Tagen knapp der Inten­siv­sta­tion ent­gan­gen. Ich soll Carole als Dol­met­scher ret­ten. Ich soll der Pati­en­tin ver­deut­li­chen, daß sie noch nicht reif sei für 1.500 Auto­ki­lo­me­ter Heim­reise. Auch die Wir­kung der ver­trau­ten Spra­che wäre dabei nicht zu ver­nach­läs­si­gen, ergänzt Carole. Die Pati­en­tin bleibt dabei: am Sams­tag will sie, nein, muß sie nach Hause. Da füh­ren die Freunde, die sie mit­neh­men. Mit­neh­men müs­sen, denn ein medi­ka­li­sier­ter Heim­trans­port würde von ihrer Ver­si­che­rung nicht über­nom­men. Das hatte ich Carole gleich gesagt: Deut­sche sind so. Auch als Pati­en­ten. Da gibt es Sach­zwänge. Unab­wend­bar. Wenn die sich was in den Kopf gesetzt haben, blei­ben sie dabei. Die mußt du schon intu­bie­ren, wenn du willst, daß sie bleibt.

Die Ver­si­che­rung ist ande­rer­seits oft ein Pro­blem für Pati­en­ten aus Deutsch­land, wenn sie im Pro­vinz­kran­ken­haus der Côte d'Azur Objekt medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung wer­den. Der Ver­si­che­rungs­klas­si­ker. Wenn man sie braucht, läuft nichts so, wie man das in sei­ner Not gerne hätte. Dann zum Bei­spiel, wenn die Hüfte kaputt­geht oder das Hand­ge­lenk. Schmer­zen und allein gelas­sen. Für die bin ich der Mes­sias. Logisch. Erst­mal. Viele kön­nen näm­lich gerade mal ein Baguette kau­fen. Auch nach Jah­ren in Le Lavan­dou. Meis­tens fah­ren sie ohne­hin zu Aldi, Netto oder Lidl, weil sie das von zuhause ken­nen. Da gibt's auch Baguette. Inter­mar­ché oder Casino zu Jah­res­end-Fei­er­ta­gen, wenn's dann doch mal ein Six­pack Aus­tern sein darf.

Wenn die erste echte Freude über einen sprach­kom­pe­ten­ten und zuge­wand­ten Kom­pa­trio­ten in all die­sem Unglück mit dem kaput­ten Hand­ge­lenk oder der aus­ge­ku­gel­ten Hüft­pro­these aber erst­mal ver­daut ist, rutscht man leicht auf Dis­coun­ter­ni­veau ab. Kann's nicht noch ein biß­chen mehr sein? Rufen Sie doch mal bei der Ver­si­che­rung wegen des Heim­trans­ports an! Ähm, bitte. Inzwi­schen leugne ich Sprach­kom­pe­tenz und Pri­mär­na­tio­na­li­tät. Oft zumin­dest. Wenn ich kann.

Bon­jour, Bertram! Com­ment vas-tu?

Caro­les Sekre­tä­rin. Heißt auch Carole. Hef­tig geschminkt, Kunst­wim­pern. Hat ihr süßes­tes Lächeln auf­ge­setzt. Sehe ich ganz sel­ten, Carole und ihr süßes­tes Lächeln. Hat mich auf dem Sta­ti­ons­flur abge­fan­gen. Bestimmt fol­gen noch ein paar char­mante Worte. Und dann wird sie was von mir brau­chen.

Eine Ewig­keit, daß wir uns nicht mehr gese­hen haben! Du warst bestimmt im Urlaub, so schön gebräunt wie du bist!

Sie hört sich – immer noch ihr süßes­tes Lächeln in den Augen – sehr inter­es­siert meine Ant­wort an. Dann aber. Klar.

J'ai une petite faveur à te deman­der.

Genau. Ein klei­ner Gefal­len. Meine Dol­met­scher­funk­tion ist schon wie­der gefragt. Noch ein Deut­scher. Einer, der angeb­lich nicht zah­len will. Wahr­schein­lich ein Miß­ver­ständ­nis. 101 am Fens­ter. Herr von W., Mitte 70. An wel­cher Stelle hätte ich da Nein sagen kön­nen?

Guten Mor­gen, Herr W.!

Sie spre­chen deutsch?

Ich bin Deut­scher.

Wis­sen Sie, nichts für ungut, aber das muß ich Ihnen mal sagen, das ist das reinste Chaos hier! Nie­mand küm­mert sich! Ich bin seit vor­ges­tern hier und warte noch immer auf mein IRM! Wenn inner­halb der nächs­ten Stunde nichts pas­siert, gehe ich!

Herr von W. ist unge­hal­ten. Und – unter uns – er hat recht: Es ist schon ein biß­chen chao­tisch hier. Nie­mand küm­mert sich. Das sehe ich jeden Tag. Öffent­li­che Struk­tur in Süd­frank­reich. Impro­vi­sa­tion statt Orga­ni­sa­tion. Die Genera­tion Herrn von W.s hält Chaos und Impro­vi­sa­tion ganz schlecht aus. Sie hält gar nicht aus, war­ten zu müs­sen. Das Unge­hal­tene die­ser Genera­tion im Zusam­men­hang mit medi­ter­ra­ner Des­or­ga­ni­sa­tion kenne ich auch sehr ein­drück­lich von mei­nem Schwie­ger­va­ter. Laut­stark dem Ärger Luft ver­schaf­fen, klare Ulti­ma­ten im Minu­ten­be­reich set­zen, mit ter­mi­na­len Kon­se­quen­zen dro­hen – other­wise explo­des a bomb! Die Bombe gegen einen armen Hotel­an­ge­stell­ten in Istan­bul, der nun gar nichts dafür kann, daß der bestellte Leih­wa­gen nicht pünkt­lich um halb neun Uhr ange­lie­fert war. Hilft aber nicht.

Carole ist Herr von W. letzt­end­lich egal. Soll er doch. Soll er doch ein­fach gehen. Ist das mein Pro­blem?


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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3. Okto­ber

Gekürzt abge­druckt in der Okto­ber-Aus­gabe von "Riviera – Das Maga­zin". Auch online.

Pifomètre

Aus der Bei­lage – La Pro­vence vue par la presse étran­gère – von N° 1288 des Cour­rier inter­na­tio­nal vom 9. Juli 2015 mit freund­li­cher Geneh­mi­gung die Über­set­zung mei­nes Leser­ar­ti­kels bei ZEIT ONLINE "Trüf­fel­markt in Aups – Schwarze Trüf­fel für den Cou­sin". Wie­derum gekürzt.

Choi­sir la truffe au pifomètre

Sur le mar­ché du vil­lage d'Aups, par un matin d'hiver, un tou­riste étran­ger s'est laissé aller au plai­sir de tâter, de tou­cher et de reni­f­ler la truffe. Puis de l'acheter. Témoi­gnage.

- Die Zeit Ham­bourg

La semaine pro­chaine, ma femme doit aller voir sa famille en Allema­gne et rendre visite à un cou­sin, ambi­tieux chef ama­teur et pré­si­dent d'un club de cui­sine aux pré­ten­ti­ons d'élite. Ma femme vou­d­rait bien l'impressionner en lui rap­portant des truf­fes noi­res de Pro­vence. Nous habi­tons près de Tou­lon et des truf­fes, on en trouve à Aups, un vil­lage de l'arrière-pays où l'air est plein du chant des ciga­les et de l'odeur des pins. C'est là que se tient tous les jeu­dis matin, de fin novembre à fin février, le troi­sième mar­ché aux truf­fes de France. Ma femme n'ayant pas le temps d'y aller, c'est moi qui ferai le voyage. Jeudi matin, 8 heu­res, les ciga­les se tai­sent à Aups et la tem­pé­ra­ture frôle le zéro. La place est déserte, tous les cafés sont fer­més. Pas un ven­deur de truf­fes en vue. Juste un petit vieux en robe de chambre et pan­tou­fles grisâ­tres, le béret vissé sur la tête. Avec sa baguette sous le bras et son mégot au coin du bec, il incarne un sté­réo­type bien français. Mais pas celui du ven­deur de truf­fes.

Ce n'est en fait pas sur les sté­réo­ty­pes français que j'ai tablé. Ma stra­té­gie était d'une sim­pli­cité toute teu­to­ni­que: se rendre à Aups, mettre la main sur le meilleur ven­deur de truf­fes avant même qu'il ait le temps d'installer son étal, lui ache­ter 200 gram­mes de mar­chan­dise et repar­tir aussi sec. Tac-tac, je devais être de retour pour le petit déjeu­ner des enfants qui n'ont pas école aujourd'hui. Pour cela, il me fal­l­ait trou­ver un ven­deur de truf­fes à 8 heu­res au plus tard. Mais la place est tou­jours déserte.

Mir­li­ton. Je pati­ente dans ma voiture, moteur allumé. J'ai froid. Un peu après 9 heu­res, la place com­mence à s'animer. De vieux mes­sieurs et dames, sou­vent des cou­ples, instal­lent de peti­tes tables pli­an­tes, les cou­vrent de toi­les cirées multi-colo­res et com­men­cent à sor­tir des pani­ers. Ainsi que des balan­ces de pré­cision élec­tro­ni­ques. Les ven­deurs sem­blent tous se con­naître. Ils se font la bise (gau­che, droite, gau­che) et se sou­hai­tent la bonne année, meilleurs voeux, for­tune, bon­heur mais sur­tout une bonne santé. C'est un jour de mar­ché ordinaire dans le sud de la France.

A l'exception d'un petit groupe de tou­ris­tes hol­lan­dais, nous né som­mes que quatre ou cinq cli­ents à faire cer­cle autour des étals, gre­lottant et nous dan­di­nant d'un pied sur l'autre. Le guide hol­lan­dais expli­que quel­que chose. Il con­naît son affaire. Nous allons pou­voir com­men­cer. A 9 h 30 tapan­tes, un per­son­nage vêtu d'un vague uni­forme fait son appa­ri­tion et hurle "le mar­ché est ouvert!" en souf­flant dans un mir­li­ton. C'est aussi ça la France. Cer­tains usa­ges de la mon­ar­chie sur­vivent encore aujourd'hui. Enfin, qu'importe, le mar­ché est ouvert. Au signal, les ven­deurs sor­tent les truf­fes de leurs poches et les dépo­sent dans des pani­ers. Les cli­ents pas­sent d'étal en étal. On tâte, on tou­ché, on reni­fle.

Mar­ché noir. Un homme vêtu d'une veste en cuir m'approche et me demande si je veux ache­ter des truf­fes. Evi­dem­ment, puis­que je suis là. Ça tombe bien, il en a dans son sac. Un sac, quel sac? Dis­si­mu­lés sous sa veste, il aurait 300 gram­mes de truf­fes noi­res dans une poche, 500 euros le kilo. C'est plu­tôt un bon prix. Le prix de l'emplacement étant pro­hi­bi­tif, il n'a pas d'étal. Pour con­clure notre affaire, mieux vaud­rait nous écar­ter pour né pas nous atti­rer les foud­res des autres ven­deurs. Ache­ter à la sau­vette dans des peti­tes rues adja­cen­tes, je con­nais. Dans le pire des cas, on se fait tabas­ser et dépouil­ler. Je décline son offre. Qui plus est, je n'ai pas fini d'examiner la mar­chan­dise de la con­cur­rence.

Tout cela me plaît bien: je peux tou­cher les truf­fes, en cou­per de petits morceaux, les chauf­fer dans ma main et les reni­f­ler. Les balan­ces de pré­cision affi­chent direc­te­ment le prix en euro au cen­time près. Sur les tables s'étalent les pho­tos des chi­ens et des cochons truf­fiers avec leur maître.

En tant que pro­fane, il faut fina­le­ment s'en remettre à la Pro­vi­dence. Ou à son instinct. On peut se déci­der en fonc­tion de la forme des truf­fes, de leur prix ou de la gen­til­lesse du ven­deur. Il paraît que les pro­fes­si­onnels achè­tent sans regar­der, sans le moindre égard pour les sacro-sain­tes tra­di­ti­ons d'un mar­ché pro­vençal. Je finis par faire affaire avec une ven­de­use par­ti­cu­liè­re­ment pati­ente au sourire char­mant: 200 gram­mes pour 170 euros.

Ma femme en emportera la moi­tié en Allema­gne pour offrir à son cou­sin. L'autre pas­sera dans nos assi­et­tes. Depuis, notre fils – qui super­vise étroi­te­ment nos menus – né rêve que de brouil­lade de truf­fes.

Bertram Diehl, publié le 27 jan­vier

wiki​pe​dia​.de: "Cour­rier inter­na­tio­nal ist eine wöchent­lich erschei­nende, fran­zö­si­sche Zeit­schrift. Sie ist eine Pres­se­schau von über 900 welt­weit publi­zier­ten Zei­tun­gen, Zeit­schrif­ten und Maga­zi­nen. Die Arti­kel wer­den von einer Redak­tion in Paris aus­ge­wählt und ins Fran­zö­si­sche über­setzt."

Der zustän­dige Redak­teur hat den Text ganz offen­sicht­lich selbst nicht gele­sen. Über­flo­gen viel­leicht, nicht gele­sen. Hätte er ihn gele­sen, hätte ihm auf­fal­len müs­sen, daß der Ver­fas­ser kein "tou­riste étran­ger" sein kann, wenn er schul­pflich­tige Kin­der in Frank­reich hat. Nor­ma­le­ment. Auch Redak­teure sind nur Men­schen.