Kopfgeld

Ein paar Tage mit den Kin­dern beim Ski­fah­ren. Zu dritt, die Mut­ter würde nach­kom­men. Um vier Uhr mor­gens im Auto, neun Uhr die ers­ten am Lift. Und dann das. Gleich am ers­ten Tag.

Nach fünf­zehn Minu­ten War­ten auf den Sohn hatte ich mich auf den Weg gemacht, pis­ten­auf­wärts. Gefühlt fünf­zehn Minu­ten, wahr­schein­lich waren es gerade mal fünf Minu­ten gewe­sen. Wenn man uner­war­tet war­ten muß, bläst sich jede Minute auf. Mein Sohn war mit dem Snow­board unter­wegs, noch etwas unge­übt und eher vor­sich­tig. Nor­ma­ler­weise aber war er höchs­tens eine halbe Minute hin­ter uns, sei­ner klei­nen Schwes­ter und mir. Nach fünf­zehn Minu­ten, wo bleibt er denn nur, hatte ich die Skib­in­dun­gen gelöst und war auf­ge­bro­chen, die Piste auf­wärts, zum Glück eher flach, keine zehn Pro­zent, blaue Piste. Offen­bar sicht­lich besorgt wir­kend und wer läuft schon Pis­ten auf­wärts, war ich ohne Unter­laß von mit­füh­len­den Pas­san­ten ange­spro­chen wor­den. Ja, da läge ein Kind auf der Piste, nicht mehr weit, drei­ßig Meter noch, aber les sécou­ris­tes, die Berg­ret­tung, würde sich schon um ihn küm­mern, sei bestimmt nicht so schlimm. Was, die Berg­ret­tung? So schlimm? Wenn einer mal in den Schnee fällt, kom­men die Sécou­ris­tes doch auch nicht gleich! Wahr­schein­lich was gebro­chen. Oder bewußt­los? Nein, wahr­schein­lich nichts gebro­chen. Wäre was gebro­chen, würde mein Sohn sich unter Schmer­zen win­den und wahr­schein­lich wei­nen, wür­den die Pas­san­ten nicht sagen, es sei bestimmt nicht so schlimm. Bewußt­los also. Schä­del-Hirn-Tauma wie Schumi vor drei Jah­ren! Sub­du­ra­les Häma­tom. Am Ende, nach ein paar Wochen Inten­sivst­me­di­zin, ist vom Hirn nicht mehr viel übrig. Oder pein­li­cher Sturz. Sein bes­ter Kum­pel spielt Fuß­ball im Ver­ein. Wenn der im Gar­ten beim Bol­zen mal über die eige­nen Füße stol­pert, insze­niert er das mit gro­ßer Thea­tra­lik. Fuß­bal­ler eben. Mein Sohn kann die Thea­tra­lik schon fast so gut wie sein Kum­pel. Sowas kann ich gut beschwich­ti­gen. Meist reicht igno­rie­ren. Noch blieb ein biß­chen Hoff­nung. Sicher hat­ten die Pas­san­ten recht. Nicht so schlimm. Trotz Berg­ret­tung. Wahr­schein­lich waren die zufäl­lig vor­bei­ge­kom­men. Wei­ter oben hat­ten wir einen Ski­fah­rer auf einer Trage gese­hen. Weit­räu­mig abge­rie­gelt von den roten Over­alls der Berg­ret­tung. Der Hub­schrau­ber über mir war bestimmt für den Unfall wei­ter oben unter­wegs.

Mein Sohn als Lie­gend­trans­port oder im Hub­schrau­ber wäre zu ärger­lich gewe­sen. Ein paar Stun­den zuvor, an der Kasse für die Pis­ten­kar­ten, hatte ich den Vor­schlag der Kas­sie­re­rin einer zusätz­li­chen Unfall­ver­si­che­rung noch zurück­ge­wie­sen. Ach was, wird schon gut­ge­hen. Geht seit vie­len Jah­ren ohne Ver­si­che­rung gut. Noch nie in all den Jah­ren waren wir auf die Hilfe der Berg­ret­tung ange­wie­sen. Über­mü­tig schien das jetzt. Geiz­krise. Schwa­ben­gene. Wegen ein paar Euro mehr pro Tag und Per­son. Als ob es dar­auf noch ange­kom­men wäre. Wenn sie mei­nen Sohn mit dem Hub­schrau­ber ins Tal bräch­ten, würde das ein Ver­mö­gen kos­ten. Hub­schrau­ber­zeit wird mei­nes Wis­sens nach Minu­ten berech­net.

Die drei­ßig Meter hatte ich schon längst geschafft, kein Sohn in Sicht, auch keine Ansamm­lung Schau­lus­ti­ger immer­hin. Nach einer wei­te­ren Links­kurve sah ich ihn. Noch gut fünf­zig Meter. Von wegen drei­ßig! Fran­zo­sen reden immer alles schön. Mein Sohn lag in Bauch­lage quer zur Fahrt­rich­tung auf der Piste. Bauch­lage! Warum das denn? Helm auf dem Kopf, die Arme dar­un­ter ver­schränkt. An den Füßen immer noch das Board. Ober­halb von ihm steckte ein Paar Ski gekreuzt im Schnee. Siche­rung der Unfall­stelle. Hier war ein Profi am Werk. Die Piste war ziem­lich schmal, mein Sohn mit­ten­drin. An sei­nem Kopf­ende kniete ein Mann im Schnee. Roter Ski­an­zug mit dem Emblem-Adler des Ski­ge­biets auf dem Rücken, Beschrif­tung "Sécou­riste", Weiß auf Rot, Berg­ret­tung. Er beugte sich über mei­nen Sohn und sprach mit ihm. Wah­schein­lich fragte er ein­fach ça va, t-as mal, t-as froid? Zum bestimmt hun­derts­ten Mal. Mein Sohn war etwas blass, das sah ich schon von wei­tem, hatte die Augen geschlos­sen. Würde doch hof­fent­lich nicht so schlimm sein wie es aus­sah. Was würde meine Frau sagen? Bauch­lage. Wenn einer was am Rücken hat, soll man seine Posi­tion nicht ver­än­dern. Mein Sohn reagiert auf die Anspra­che des Herrn im roten Ski­an­zug, gibt sich aller­dings wort­karg, genervt. Auch das sehe ich von wei­tem. Immer diese ewig glei­chen Fra­gen, ça-va-t-as-mal-t-as-froid. Wahr­schein­lich Schmer­zen irgendwo. Bestimmt am Fuß. Und kalt. Mir wäre kalt, wenn ich so im Schnee lie­gen müßte.

Bon­jour Mon­sieur. Der Herr im roten Over­all unter­rich­tete mich, daß das Team zur wei­te­ren Ver­sor­gung bereits unter­wegs wäre, jeden Moment ein­tref­fen sollte. Mit der coquille. Die Coquille ist wohl die Trage für den Schnee. Mit einem Ret­ter jeweils vorne und hin­ten. Akia auf deutsch. Mög­li­cher­weise eine Ver­let­zung der Wir­bel­säule, sagte er. Und wer ich über­haupt wäre? Je suis son père. Ich bin der Vater. Eigent­lich hätte er nach einem Aus­weis ver­lan­gen müs­sen. Bloß nicht anfas­sen, sagte er, gleich kommt das Team mit der coquille. Soweit durfte es nicht kom­men. Wenn man die ein­fach machen lässt, packen die mei­nen Sohn in ihre coquille, womög­lich in Bauch­lage, und ich kann ihn im Centre hos­pi­ta­lier von Bri­ançon wie­der ein­sam­meln. Das Centre hos­pi­ta­lier von Bri­ançon hat kei­nen guten Ruf. Kein Wun­der, wer will da schon arbei­ten, ist ja nichts los am Arsch der Welt. Wir hat­ten bei uns mal einen Kno­chen­chir­ur­gen, der von da kam. Marco. Ita­lie­ner. Zwei linke Hände. Nichts gegen Ita­lie­ner. Für Marco war jedes kaputte Hand­ge­lenk eine ganz kom­pli­zierte Frak­tur. Ganz kom­pli­ziert. Außer­dem kenne sol­che Betriebe des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens in Frank­reich. Ange­kom­men in Bri­ançon wür­den sie ihn, weil bis dahin wahr­schein­lich nichts mehr weh­tut, kein Krib­beln, keine Taub­heit, aus der Coquille holen und auf einen Stuhl im War­te­saal set­zen. Sich laut auf­re­gen über die inkom­pe­ten­ten, naja über­vor­sich­ti­gen, Kol­le­gen der Berg­ret­tung. Oder auf eine Prit­sche im Flur legen. Bes­ten­falls. Immer schön in Bauch­lage. Kann aber war­ten, ist ja kein lebens­be­droh­li­cher Not­fall. Atmet ja noch. Das War­ten in Betrie­ben des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens kann sich über Stun­den hin­zie­hen, kenne ich. Die Rönt­gen­ab­tei­lug wird dort genauso chro­nisch über­for­dert sein wie die in mei­nem Centre hos­pi­ta­lier ein biß­chen wei­ter im Süden. Wenn es sich irgend­wie ver­ant­wor­ten läßt, muß ich mei­nen Sohn aus den Fän­gen der Berg­ret­tung befreien. Würde mei­ner Frau nicht gefal­len, den Sohn im Kran­ken­haus von Bri­ançon besu­chen zu müs­sen. Kann man euch nicht ein­mal alleine las­sen? Zudem steht die Toch­ter immer noch unten am Lift.

Hallo Sohn, ça va, t-as mal, t-as froid? Mein Sohn war ansprech­bar. Jaha, es geht. Ja, Schmer­zen am Rücken und im Fuß. Und nein, mir ist nicht kalt. Ein Eis­bro­cken auf der Piste hatte ihn aus dem Gleich­ge­wicht gebracht. Rück­wärts auf die ver­eiste Piste geknallt. Konnte vor Schmer­zen zehn Sekun­den nicht mehr atmen. Sagte er. Zehn Sekun­den. Okay, wohl kein Ver­lust des Bewußt­seins. Ande­rer­seits, Schumi hat sich auch nicht sofort nach dem Sturz aus­ge­blen­det. Der Schmerz im Rücken klein loka­li­siert, kleine rote Stelle auf der Haut. Tut's da weh, wenn ich drü­cke? Nein. Mein Sohn ist durch­trai­nier­ter Sport­ler, der bricht sich so schnell nichts. Bei mir wäre das viel­leicht anders. Der linke Fuß tat weh. Die große Zehe. Kaum auf der Piste, tat ihm der linke Fuß schon weh. Fal­scher Schuh, wahr­schein­lich zu kurz. Schlecht gewählte Aus­rüs­tung kann einem beim Ski­fah­ren den gan­zen Tag ver­gäl­len. Kenn' ich.

Für mein Gefühl konnte man es ver­ant­wor­ten, ihn von sei­nem Board und aus der Bauch­lage zu befreien. Stop, stop, was machen Sie denn da. Der Berg­ret­ter war nicht ein­ver­stan­den. Je suis méde­cin, ça va aller. Ich bin Arzt, das wird schon gehen. Das reichte dem Berg­ret­ter. Eigent­lich etwas halb­her­zig, finde ich, sein Wider­stand, da könnte ja jeder kom­men, sagen, er wäre Arzt.

Kein Krib­beln, keine Taub­heit, etwas Schmerz. Im Fuß vor allem, am Rücken ging's. Etwas blaß der Junge. Wir werden's für heute gut sein las­sen mit dem Sport. Un cho­co­lat chaud zuhause ist auch schön. Auf eigene Ver­ant­wor­tung und gegen Unter­schrift durf­ten wir gehen. Der Sécou­riste kannte das offen­sicht­lich, hatte einen gan­zen Sta­pel ent­spre­chen­der Zet­tel im Post­kar­ten­for­mat dabei. Kei­ner will mit ihm blei­ben. Ich mußte ihn mit klam­men Hän­den aus­fül­len. Immer noch keine Aus­weis­kon­trolle. Wofür soll das also gut sein? Er gab sich zum Abschluß pam­pig. Ihre Schuld, wenn ihr Sohn am Ende im Roll­stuhl sitzt.

Wahr­schein­lich gibt es Kopf­geld für jedes Opfer von der Piste.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Meilleurs vœux

Frei­tag

Hier­zu­lande, wo sich die Men­schen etwas extro­ver­tier­ter geben, medi­ter­ra­ner eben, wünscht man sich zum Jah­res­wech­sel nicht nur pau­schal alles Gute oder ein Schö­nes Neues. Die bes­ten Wün­sche – meilleurs vœux – wer­den gerne noch in aller­lei Details prä­zi­siert: Glück, Zufrie­den­heit, Geld, Kin­der­se­gen zum Bei­spiel. Erst die Wün­sche, dann die Küsse. Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, Schwes­tern, Pfle­ger, Heb­am­men, die Tele­fo­nis­tin, Hilfs­pfle­ge­rin­nen, alle. Sogar die Ober­schwes­ter und Damen aus der Ver­wal­tung. Damen, die mir völ­lig unbe­kannt sind, die sich sonst ver­mut­lich hin­ter Türen der Tep­pich­bo­den­flure ver­ste­cken. Sieht man ganz sel­ten. Ver­wal­tung eben. Sagen mir wegen mei­nes Kit­tels Bon­jour. Und, des kürz­li­chen Jah­res­wechs­les wegen, bonne année. Den­ken sich, das muß einer der Dok­to­ren sein, den sie ver­wal­ten. Wer­den umge­hend geküßt. Bonne année, meilleurs vœux, bonne santé.

Der ganze Ser­mon zum neuen Jahr muß, glaube ich, ich bin bis jetzt, in all den Jah­ren, noch nicht wirk­lich dahin­ter gekom­men, ob die­ses Ritual bestimm­ten Regeln folgt, es muß aber mit der Gesund­heit enden. Man kann den Lot­to­ge­winn anbrin­gen, ein neues Auto, Erfül­lung in der Liebe, tolle Ferien. Vor allem aber gesund! Der Rest wird dann schon! Sur­tout la santé! Le reste va suivre! Voilà! Dazu voll Zuver­sicht und Herz in die Augen gucken. Mit man­chen Schwes­tern und Heb­am­men ist das nett. Das Wün­schen und die ter­mi­na­len Küß­chen links, rechts, mit dezen­tem Anfas­sen. Ober­arm, Unter­arm, Taille. Wo's gerade paßt. Nett, ins­be­son­dere, wenn die Augen nett gucken. Ganz dicht ran, Wange an Wange, ein­at­men, riecht oft gut, Küß­chen.

Kol­la­te­ral muß man auch man­che Män­ner küs­sen. Ber­nard. Chef der Vis­ze­ral­chir­ur­gen. Noch-Chef. Geht die­ses Jahr in Rente. Ber­nard ist lei­der meist unra­siert. Unge­wa­schen. Sein Bad zu Weih­nach­ten ist auch schon einen guten Monat alt. Okay, ich über­treibe etwas. Mas­si­ver Zahn­stein aber, Essen­reste. Olfak­ti­ves Feu­er­werk. Um es mal posi­tiv aus­zu­drü­cken. Ich habe mir für die­ses Jahr eine posi­tive Aus­strah­lung vor­ge­nom­men, übri­gens. Aktive Posi­ti­vie­rung. Am liebs­ten begrüße ich ihn nor­ma­ler­weise von einem zum ande­ren Flu­rende. Nur zum Geburts­tag und wenn es sich durch unglück­li­che zeit­lich-räum­li­che Kon­stel­la­tio­nen gar nicht ver­mei­den läßt, geben wir uns die Hand, seine ist so eine kraft­los-schwam­mig-wei­che. Die sich zudem noch irgend­wie klamm anfühlt. Manch­mal erwischt er mich in mei­nem Büro, um mir weit­schwei­fig von irgend­wel­chen unglaub­lich inter­es­san­ten Fäl­len auf sei­ner Sta­tion zu erzäh­len und meine Mei­nung dazu zu hören. Ver­steckte Blin­därme, ent­zün­dete Diver­ti­kel, ver­sof­fene Bauch­spei­chel­drü­sen. Meine Mei­nung ent­spricht meis­tens sei­ner, ein­fach weil er so aus dem Mund und über­haupt nicht gut riecht. Schwie­rig nur, wenn er mir meh­rere Mei­nun­gen anbie­tet und jede ein­zelne hin­sicht­lich ihrer anäs­the­sio­lo­gi­schen Rele­vanz dis­ku­tiert haben möchte. Aber er ist eben der Chef. Vor Jah­ren mußte er mich zudem als Chef der Com­mis­sion médi­cale d'Établissement zum Beam­ten wäh­len. Hat er trotz anfäng­li­cher Beden­ken gemacht. Dafür bin ich ihm dank­bar. Und er ist älter als ich. Alter wird respek­tiert. Er duzt mich, ich sieze ihn.

An sei­nem ers­ten Arbeits­tag im neuen Jahr erwischt er mich kalt. Auf dem Flur sei­ner Sta­tion laufe ich ihm gera­de­wegs in die Arme. Er nimmt die Brille ab. Das ist das Zei­chen. Wenn ich die Brille abnehme, weiß auch die Tele­fo­nis­tin, daß sie jetzt geküßt wer­den wird. Und gerät ins Stot­tern. Sowas! Wird sogar ein biß­chen rot. Nehme ich auch per­sön­lich. Posi­tiv per­sön­lich. Ber­nard hat also die Brille abge­nom­men. Muß ich also durch mit den Küs­sen. Defi­ni­tiv. Es gibt außer Küs­sen kei­nen Grund, mit­ten auf dem Sta­ti­ons­flur die Brille abzu­neh­men. Küß­chen mit Ber­nard trei­ben mir die Trä­nen in die Augen. Das olfak­tive Feu­er­werk. Aus unmit­tel­ba­rer Nähe ein Poten­tial wie Ammo­niak. Meine Trä­nen nimmt er sicher per­sön­lich. Posi­tiv per­sön­lich offen­bar. Dafür gleich noch­mal. Ich habe ihn schon letz­tes Jahr geküßt. Und das vor­vor­letzte. In all den Jah­ren vor und nach mei­ner Wahl zum Beam­ten. Wahr­schein­lich erin­nert er sich daran. Die­ses wird das letzte Mal gewe­sen sein.

Céline, die Sta­ti­ons­schwes­ter, macht den Neues-Jahr-Zau­ber mit Ber­nard trotz bekann­ter Letzt­ma­lig­keit ohne Anfas­sen und ohne Küs­sen. Das ist mutig. Geht eigent­lich nicht. Ber­nard ist immer­hin der Chef. Und hat die Brille abge­nom­men, mit­ten auf dem Flur, sich leicht vor­ge­beugt. Die Lip­pen zum Küß­chen gespitzt. Mutig von Céline, aber ver­ständ­lich. Ver­mut­lich der Essens­reste wegen. Oder sie hat von sei­ner Ammo­kinak-Aura schon bei der Über­gabe gehört. Läßt sogar die Gesund­heit aus. Hat zufäl­lig gerade beide Hände voll. Ganz zufäl­lig. 28 Fens­ter geht's nicht so gut, nuschelt sie schnell. Und der arme Ber­nard bleibt ohne Brille kurz­sich­tig ste­hen. Tut er mir fast leid.

Mon­tag. Dienst.

Meine Runde über die Sta­tio­nen habe ich hin­ter mir. Nichts los. Nicht mal ein gut gereif­ter Blind­darm von Ber­nard in der Not­auf­nahme. Ich lang­weile mich. Abste­cher in den Kreiß­saal. Keine Erst­ge­bä­rende im Kreiß­saal, die nach einem Peri­du­ral­ka­the­ter schreit. Nadja, Lae­ti­tia und Phil­ippe lang­wei­len sich auch. Phil­ippe? Wir haben ziem­lich viele Män­ner bei den Heb­am­men. Phil­ippe, Sébas­tien, Wil­fried und Jérôme. Beruf: Maïeu­ti­cien. Der Begriff für die männ­li­che Heb­amme. Seit ein paar Jah­ren Teil mei­nes akti­ven Wort­schat­zes. Ich habe zusätz­lich bei wiki­pe­dia nach­ge­le­sen. Ent­bin­dungs­pfle­ger hei­ßen sie in Deutsch­land. Heb­amme in Öster­reich auch die männ­li­chen Ver­tre­ter. 2013 keine männ­li­che Heb­amme in Öster­reich. Drei in ganz Deutsch­land. Wir haben vier. An mei­ner Pro­vinz­klit­sche! Dar­un­ter Phil­ippe. Dick­li­cher Gesichts­haar­trä­ger. Voll­bart. Kopf­tuch­frauen sol­len sich mal nicht so anstel­len. Wird ihnen und ihren Män­nern gleich bei der Auf­nahme ver­kün­det. Wahr­schein­lich ein Aus­druck von Liberté und Éga­lité. Viel­leicht paßt das sogar zur Fra­ter­nité. Finde ich per­sön­lich auch ziem­lich grenz­wer­tig. Wäh­rend mei­ner Kar­riere damals, Ende des letz­ten Jahr­tau­sends in katho­li­schen Kran­ken­häu­sern im öst­li­chen West­fa­len, waren männ­li­che Heb­am­men kate­go­risch undenk­bar. Phil­ippe jeden­falls mag ich nicht so. Nicht wegen des Über­ge­wichts oder der Gesichts­be­haa­rung. Viel­leicht ein Vor­ur­teil. Phil­ippe war mal in Indien für ein paar Monate Aus­zeit. Ich hatte gehofft, er würde ein­fach dort blei­ben und in lang­fris­ti­ger Suche nach Erleuch­tung ver­har­ren. Und dann war er doch wie­der da. Ohne Erleuch­tung, wie mir scheint. Wird nicht geküßt. Es gibt Gren­zen. Dafür Lae­ti­tia. Lae­ti­tia sieht aus, als wäre sie mal Model gewe­sen. Guckt auch sehr nett. Ich nehme das per­sön­lich. Obwohl sie ver­mut­lich jeden nett anguckt. Trägt etwas zuviel von zu bil­li­gem Par­fum auf. Sie hat ein Haus gekauft mit ihrem Mann letz­tes Jahr, nicht weit vom Meer, Weih­nach­ten war dies­mal etwas knap­per im Bud­get wohl. Egal. Ein gutes neues Jahr! Die bes­ten Wün­sche! Und – vor allem – Gesund­heit! Santé!

Und Serge. Serge lasse auch ich aus mit dem Küs­sen. Schö­nes Neues, beste Wün­sche, gute Gesund­heit. Die Kurz­fas­sung. Serge ist Prit­schen­schie­ber. Hat nur Ficken im Kopf. Ficken ist nicht meine Wort­wahl, ist Bestand­teil sei­nes akti­ven Sprach­wort­schat­zes in Deutsch. Serge war vor Jah­ren mit sei­ner Col­lège-Klasse auf Aus­tausch in Mann­heim. Isch­libbe­disch hat er außer­dem gelernt und wills­dum­im­mirschlaf­fän. Das ist Serge pur. Aller­dings kann Serge dazu auch Poli­tik. Fragt mich immer, wann ich Angela zum letz­ten Mal so rich­tig ran­ge­nom­men hätte. Fin­det er rasend ori­gi­nell. Ein Joke, der mit zuneh­men­dem Alter an Würze zu gewin­nen scheint. Basal­fran­zose. Tut so, als hätte er schon alle gehabt im Centre hos­pi­ta­lier und in der Stadt dazu. Und ich nur Angela. Ver­mut­lich. Aber immer­hin. Er dafür alle ande­ren, die halb­wegs was her­ma­chen. Angela und ich las­sen uns ande­rer­seits nicht erwi­schen, sage ich dann. Nicht so, wie Ser­ges blö­der Prä­si­dent. Der sich mit einer Schau­spie­le­rin auf dem Mofa foto­gra­fie­ren läßt. Abends. Crois­sants vom Body­guard zum Früh­stück. Wie­der Fotos. Serge fin­det das cool.

Bonne année!

Modi­fi­zier­ter Vor­schlag von für die Januar-Aus­gabe 2016 des Riviera-Maga­zins. Um im Rah­men von 3.500 Zei­chen zu blei­ben:

Hier­zu­lande, wo sich die Men­schen etwas extro­ver­tier­ter geben, medi­ter­ra­ner eben, wünscht man sich zum Jah­res­wech­sel nicht nur pau­schal alles Gute oder ein Schö­nes Neues. Die bes­ten Wün­sche – meilleurs vœux – wer­den gerne noch in aller­lei Details prä­zi­siert: Glück, Zufrie­den­heit, Geld, Kin­der­se­gen zum Bei­spiel. Wün­sche und Küsse. Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, Schwes­tern, Pfle­ger, Heb­am­men, die Tele­fo­nis­tin, Hilfs­pfle­ge­rin­nen, alle wer­den bewünscht und geküsst. Sogar die Ober­schwes­ter und Damen aus der Ver­wal­tung. Damen, die ich nur vom Sehen kenne, die sich sonst hin­ter Türen der Tep­pich­bo­den­flure ver­ste­cken. Sieht man ganz sel­ten. Ver­wal­tung eben. Sagen mir wegen mei­nes Kit­tels Bon­jour. Den­ken sich, das muß einer der Dok­to­ren sein, den sie ver­wal­ten. In Zivil­klei­dung wür­den sie mich maxi­mal für einen Pati­en­ten hal­ten. Wün­schen mir auch, des kürz­li­chen Jah­res­wechs­les wegen, bonne année. Wer­den umge­hend geküsst. Bonne année, meilleurs vœux, bonne santé.

Der ganze Text zum neuen Jahr muß, glaube ich, ich bin bis jetzt, in all den Jah­ren, noch nicht wirk­lich dahin­ter gekom­men, ob die­ses Ritual bestimm­ten Regeln folgt, es muß aber mit der Gesund­heit enden. Man kann den Lot­to­ge­winn anbrin­gen, ein neues Auto, Erfül­lung in der Liebe, tolle Ferien. Vor allem aber gesund! Der Rest wird dann schon! Sur­tout la santé! Le reste va suivre! Voilà! Dazu voll Zuver­sicht und Herz in die Augen gucken. Mit man­chen Schwes­tern und Heb­am­men ist das nett. Das Wün­schen und die Küß­chen links, rechts. Vor allem, wenn sie nett gucken. Zum neuen Jahr gucken sie fast alle nett. Spä­ter gibt sich das wie­der. Ganz dicht ran, Wange an Wange, riecht oft gut, Küß­chen.

Kol­la­te­ral muß man auch man­che Män­ner küs­sen. Xavier. Chef der Bauch­chir­ur­gie. Noch-Chef. Xavier geht bald in Rente. Ist lei­der meist unra­siert. Oft unge­duscht. Sein Bad zu Weih­nach­ten ist auch schon einen knap­pen Monat alt. Okay, ich über­treibe etwas. Seine Aura gleicht einem olfak­ti­ven Feu­er­werk. Am liebs­ten begrüße ich ihn nor­ma­ler­weise von einem zum ande­ren Flu­rende. Nur zu Geburts­tag und Jah­res­wech­sel ris­kiere ich Kör­per­kon­takt.

Mon­tag. Dienst.

Meine Runde über die Sta­tio­nen habe ich hin­ter mir. Nichts los. Nicht mal ein gut gereif­ter Blind­darm von Xavier in der Not­auf­nahme. Abste­cher in den Kreiß­saal. Keine Erst­ge­bä­rende im Kreiß­saal, die nach einem Peri­du­ral­ka­the­ter schreit. Nadja, Lae­ti­tia und Phil­ippe lang­wei­len sich auch. Phil­ippe? Wir haben ziem­lich viele Män­ner bei den Heb­am­men. Phil­ippe, Sébas­tien, Wil­fried und Jérôme. Beruf: Maïeu­ti­cien. Ent­bin­dungs­pfle­ger hei­ßen sie in Deutsch­land. Heb­amme in Öster­reich auch die männ­li­chen Ver­tre­ter. 2013 kei­ner in Öster­reich, drei in ganz Deutsch­land. Wir haben vier! Und das in tiefs­ter Pro­vinz! Dar­un­ter Phil­ippe. Voll­bart. Über­ge­wicht. Kopf­tuch­frauen sol­len sich mal nicht so anstel­len. Wird ihnen und ihren Män­nern gleich bei der Auf­nahme ver­kün­det. Wahr­schein­lich ein Aus­druck von Liberté und Éga­lité. Viel­leicht paßt das sogar zur Fra­ter­nité. Finde ich per­sön­lich auch eher gewöh­nungs­be­dürf­tig. Würde mir als wer­den­dem Vater auch nicht gefal­len. Aber viel­leicht bin ich in die­ser Hin­sicht etwas kon­ser­va­tiv. Phil­ippe jeden­falls mag ich nicht so. Ihm man­gelt ein biß­chen an pro­fes­sio­nel­ler Dyna­mik. Phil­ippe war mal in Indien für ein paar Monate Aus­zeit. Ich hatte gehofft, er würde ein­fach dort blei­ben und in lang­fris­ti­ger Suche nach Erleuch­tung ver­har­ren. Und dann war er doch wie­der da. Ohne Erleuch­tung, wie mir scheint. Er war­tet immer noch. Wird nicht geküßt. Es gibt Gren­zen.

Dafür Lae­tita. Lae­ti­tia sieht so aus, als wäre sie mal Model gewe­sen. Hat ein zau­ber­haf­tes Lächeln. Ich nehme das per­sön­lich. Obwohl sie ver­mut­lich jeden nett anguckt. Egal. Meilleurs vœux, bonne santé, Küß­chen. Lae­tita ist meine Lieb­lings­heb­amme. Nicht nur wegen ihres Lächelns. Nicht nur, aber auch. Lae­ti­tias Lächeln ist auch um 02:39 Uhr noch zau­ber­haft. Immer. Zum neuen Jahr viel­leicht noch ein Spur zau­ber­haf­ter. Auch um 02:39 Uhr. Wenn sie mich braucht für eine Péri­du­rale oder Césa­ri­enne.

Bonne santé.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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