Pierre

29. Dezember 2015 Von Alleinerzieher

Ich habe Dienst. Mit "coupure", Pause also, zwi­schen Mit­tag und vier Uhr nach­mit­tags. Heute ziem­lich früh die coupure, weil sich zwi­schen den Fei­er­ta­gen kein Mensch frei­wil­lig ins Kran­ken­haus legt. Galle und Leis­ten­bruch kön­nen auch bis 2016 war­ten. Nichts los. 11:14 Uhr auf dem Park­platz. Viel­leicht ein guter Zeit­punkt, eben mal bei Orange vor­zu­fah­ren und das Inter­net auf dem HTC ein­stel­len zu las­sen. Das HTC ist das "alte" Smart­phone mei­nes Erst­ge­bo­re­nen. Braucht er nicht mehr, weil Weih­nach­ten war. Er hat jetzt was Tol­les von Sony. Das HTC ersetzt meine Anti­qui­tät von Nokia. Das Neue hat seit einem Neu­start mit mei­ner SIM-Karte lei­der kei­nen Zugang mehr zu google und whats­app. Damit kann ich nicht leben.

11:26 Uhr. Schlange vor der Bou­tique von Orange. Min­des­tens zehn Kun­den. Das sieht nicht gut aus. Das sieht nicht nach "mal eben" aus. Ich kenne das schon. Man war­tet brav, Kunde um Kunde, Schritt für Schritt, bis zur Hos­tess am Schal­ter. Zwan­zig Minu­ten. Min­des­tens. Die Hos­tess gibt sich stets freund­lich und zuge­wandt. Immer­hin. Erfasst den Namen, die Tele­fon­num­mer und das Anlie­gen. Ist zustän­dig für die War­te­liste. Der nächste freie Mit­ar­bei­ter wird Sie auf­ru­fen. Das funk­tio­niert sogar. Gilt aber nicht für tech­ni­sche Anlie­gen. Tech­ni­sche Anlie­gen wer­den direkt zum Kun­den­dienst hin­ten in der Ecke geschickt. Ohne Erfas­sung. Die Schlange sei nur für Bera­tung und Ver­kauf. Die Kol­le­gen vom Kun­den­dienst gehen aller­dings um zwölf. Mit Schlange würde es für mich 11:46 Uhr wer­den. Kom­men Sie doch bes­ser in einer Stunde wie­der. Wie gesagt, kenne ich schon. Mache ich nicht. Dies­mal nicht.

Ich gehe direkt zu Pierre. Pierre ist der unra­sierte und leicht über­ge­wich­tige Nerd an der Tech­nik-Theke. Kann im Gegen­satz zu sei­ner Kol­le­gin vorne am Emp­fang nicht lächeln, geschweige denn Bon­jour sagen. Es ist 11:27 Uhr. Pierre hat sicher schon Hun­ger. Mit einem Crois­sant zum Kaf­fee kommt man nur mit Mühe bis zum Mit­tag­essen. Er muß um 12 Uhr essen. Lei­der muß er sich außer­dem noch mit einem Galaxy S6 edge+ rumär­gern. Das ist das aktu­elle Top­mo­dell von Sam­sung. Das mit abge­run­de­ten Bild­schirm­kan­ten! Sein Eigen­tü­mer kommt nicht zu Google damit. Trägt eine Glatze zur Leder­ja­cke und ist noch älter als ich. Deut­lich älter. Eigent­lich zu alt für so ein High­tech­ge­rät. Eigent­lich eher der Kunde für was mit gro­ßen Tas­ten und rotem Not­ruf­knopf. Er redet sehr viel. Ohne Unter­laß gera­dezu. Vom ande­ren Ende der Tech­nik-Theke aus ver­stehe ich nicht wirk­lich, was er zu sagen hat. Google – er sagt "Guh­göll" – kommt häu­fig vor. Ich kann mir nicht vor­stel­len, was es da zu erzäh­len gibt. Wie­der und wie­der. Google geht eben nicht. Irgend­was ist ver­stellt oder kaputt. Das hat Pierre ver­stan­den. Pierre nickt dis­kret. Tippt auf den Bild­schirm, begut­ach­tet die SIM-Karte, ver­bin­det das Tele­fon mit einem Com­pu­ter. Aber er fin­det das Pro­blem eben nicht so schnell. Jeder Neu­start dau­ert fast zwei Minu­ten. Als Tele­fon­nerd würde auch ich Lächeln und Bon­jour frü­her oder spä­ter ein­stel­len. Ins­be­son­dere, wenn da immer einer steht und mich voll­quatscht. Ein Alter in Leder­ja­cke. Einer, der das gewal­tige Poten­zial sei­nes Top­mo­dells ohne­hin nicht zu nut­zen in der Lage ist. Der schon an Google schei­tert. Und alles ver­stellt hat in den Para­me­tern. Viel­leicht wirk­lich was kaputt gemacht hat. Zu allem Über­fluß sich wei­tere Kun­den an mei­ner Theke sam­meln. Nicht ordent­lich in einer Schlange wie vorne am Accueil mit der hüb­schen Prak­ti­kan­tin. Das ist beson­ders ner­vig. Einer neben dem Ande­ren. Wie in einer Bar. An mei­ner Theke. Und alle schauen bei der Arbeit zu. Kon­trol­lie­ren betont umständ­lich alle drei­ßig Sekun­den die Uhr­zeit auf dem Dis­play ihres Han­dys. Da kann man nicht mehr Bon­jour sagen. Am bes­ten jeg­li­chen Blick­kon­takt mit Kun­den ver­mei­den.

11:49 Uhr inzwi­schen. Und ich bin nicht mehr alleine mit der Leder­ja­cke. Eine ältere Dame hat sich mit ihrem Bil­lig­te­le­fon zwi­schen mich und einen smar­ten Anzug­trä­ger gemo­gelt. Schnauft ange­strengt unter dem Gewicht meh­re­rer Tüten von Prin­temps. Der Anzug­trä­ger war kurz nach mir gekom­men. Er tele­fo­niert schon wie­der mit sei­nem ché­rie. Ché­rie war­tet offen­bar im Restau­rant vor Car­re­four. Unge­dul­dig. Weil sie Hun­ger hat. Ver­mut­lich. Und ihre Mit­tags­pause ja auch nicht ewig dau­ern wird. Der Anzug­trä­ger kann seine Anspan­nung nur müh­sam ver­ber­gen. Wollte wohl auch nur noch "mal eben" zu Orange. Geh' schon mal vor, ché­rie, ich komme gleich nach. Er wird mich gleich fra­gen, ob ich ihn viel­leicht vor­las­sen würde. Wegen sei­nes ché­rie. Die würde hung­rig war­ten. Und er hätte nur eine ganz kleine Frage. Trente secon­des. Ich würde ver­mut­lich nicht Nein sagen kön­nen. Und müßte dann auch noch die Dame mit Tüten und Bil­lig­te­le­fon auf ihren Platz ver­wei­sen. Die sieht so aus, als würde sie mich nicht ein­mal fra­gen.

11:54 Uhr. Das S6 kann immer noch kein Google. Wahr­schein­lich wird auch die Leder­ja­cke gleich auf ein Uhr ver­trös­tet wer­den. Mein Pro­jekt ist nicht ziel­füh­rend. Nicht eben mal. Mor­gen früh viel­leicht noch­mal. Solange kann ich ohne Google und whats­app auf dem HTC aus­kom­men. Oder ich frage spä­ter doch das Google im Kran­ken­haus-Com­pu­ter nach dem Trick. Manch­mal erge­ben sich ja große Zeit­fens­ter im Dienst.

Google – "htc orange inter­net" – diri­giert mich ziel­ge­rich­tet zu den Para­me­tern für die APNs. Access Point Names. Nie gehört. Zugangs­punkte. Ein schö­ner Begriff für Tele­fon­nerds. Es gibt einen APN für Inter­net und einen für MMS. Kann man im Tele­fon para­me­trie­ren. MMS funk­tio­niert danach immer noch nicht. Egal. Damit kann ich sehr gut leben. Ich werde Pierre wohl doch nicht mehr besu­chen.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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