50.000 Euro

Zwei Chir­ur­gen auf dem Weg zum OP. Liegt da ein toter Anäs­the­sist. Sagt der eine Chir­urg zum ande­ren: Ste­cken wir ihm die Hände in die Hosen­ta­schen, dann sieht es aus wie ein Arbeits­un­fall.

Das geht als Witz. Ist nicht so pein­lich wie der des Kin­der­arz­tes neu­lich. Chir­ur­gen sehen uns ja sel­ten mal arbei­ten. Nur immer mit den Hän­den in den Taschen. Chir­ur­gen haben ihren Auf­tritt erst, wenn wir fer­tig sind. Wenn der Pati­ent in Nar­kose ist. Und sind schon wie­der weg, wenn wir den Pati­en­ten wach machen. Kann man ver­glei­chen mit Pilo­ten im Flie­ger. Wenn der Flie­ger erst­mal oben ist, war­tet der Pilot bis zur Lan­dung. Dreht viel­leicht mal an irgend­ei­nem Knopf, legt kleine Kipp­schal­ter um, arbei­tet Check­lis­ten ab. Quatscht vor allem mit dem Kopi­lo­ten, dem Tech­ni­ker, der Ste­war­dess, ich bräuchte jetzt mal 'nen Kaf­fee. Legt sich schla­fen. Erst zur Lan­dung muss er wie­der da sein, der Pilot. Wie der Anäs­the­sist. Der Anäs­the­sist kann bis dahin Sudo­kus lösen oder das ZEIT Maga­zin lesen, Fach­li­te­ra­tur. Kann an Räd­chen dre­hen, Knöpfe drü­cken. Der Schwes­tern­schü­le­rin die Anäs­the­sie erklä­ren. Den Blut­druck auf­schrei­ben und den geschätz­ten Blut­ver­lust. Außer­dem über das grüne Tuch hin­weg den Chir­ur­gen bei der Arbeit zuse­hen. Gerne auch inter­es­sierte Fra­gen stel­len, warum blu­tet das da so, hilf­rei­che Hin­weise for­mu­lie­ren, viel­leicht soll­test du zum nächs­ten Mal noch mal bei you­tube gucken, wor­auf es beim Blind­darm ankommt. Hände in den Taschen.

Wäh­rend der OP fragt der Anäs­the­sist den Chir­ur­gen: "Weisst Du was der Unter­schied zwi­schen uns bei­den ist?" Der Chir­urg ant­wor­tet genervt: "Ich hab' keine Ahnung". Dar­auf der Anäs­the­sist: "Rich­tig!" – Es gibt eigent­lich keine guten Arzt­witze. Bei google fin­det man immer wie­der dies­sel­ben. Je öfter man sie fin­det, desto lang­wei­li­ger wer­den sie.

Wenn der Chir­urg schreien muss, weil er Über­blick und Kon­trolle zu ver­lie­ren droht, kann der Anäs­the­sist ihm trös­tend zur Seite ste­hen. Kommt aber nur sel­ten vor. Ich meine, dass der Chir­urg Über­blick und Kon­trolle zu ver­lie­ren droht. Ganz, ganz sel­ten. Ehr­lich. Tröst­li­cher Zuspruch gehört auch zu unse­ren Auf­ga­ben. Ver­ständ­nis für Pati­en­ten sowieso. Aber auch für die Chir­ur­gen. Oft sind deren Arbeits­be­din­gun­gen nicht so gut, manch­mal unter aller Sau. Das Licht schlecht ein­ge­stellt. Ich kann so nicht arbei­ten. Die Mes­ser stumpf. Der Assis­tent so unge­schickt, die Schwes­ter so blond. So kann das ja nichts wer­den. Da kann man schon mal ner­vös wer­den als Chir­urg. Dann ist der Anäs­the­sist gefragt. Zuspruch. Hände in den Taschen ver­mit­teln Zuver­sicht. Manch­mal glaubt der Chir­urg ganz ernst­haft, die Nar­kose selbst wäre die Ursa­che allen Übels, der Pati­ent schläft nicht, kön­nen Sie viel­leicht mal ein biss­chen mehr Nar­kose machen. Na, sowas! Dann muss der Anäs­the­sist die Hände aus den Taschen neh­men, Geschäf­tig­keit jen­seits des grü­nen Tuchs pro­du­zie­ren, Anwei­sun­gen ans Pfle­ge­per­so­nal flüs­tern, an Räd­chen dre­hen, viel­leicht sogar was sprit­zen. Ist aber meis­tens nicht nötig. Drei Minu­ten Abwar­ten reicht fast immer. So müsste es bes­ser sein. Zuver­sicht. Auf die Psy­cho­lo­gie kommt es an. Hände in den Hosen­ta­schen.

Nacima fand den Witz des Kin­der­arz­tes übri­gens unglaub­lich komisch. Konnte sich gar nicht wie­der ein­krie­gen. Trä­nen tropf­ten auf die Geburts­mel­dung, Name des Vaters. Als ob ihr aus dem Witz eine neue Erkennt­nis ent­stan­den gewe­sen wäre. Im Kopf von Män­nern ist nichts. Gar nichts. Sogar der ein­same Sper­ma­to­zyt ist fehl am Platze. Hallo? Hal­looo? Ist da nie­mand? Der Mann denkt vor­wie­gend unter­halb der Gür­tel­li­nie. Naja, wenn man das den­ken nen­nen kann. Viel­leicht stellte sich Nacima den ein­sam durchs Vakuum unter der männ­li­chen Schä­del­de­cke schwän­zeln­den Sper­ma­to­zy­ten vor. Mit gro­ßen, angst­ge­wei­te­ten Augen. Haal­looo? Ich ging dann lie­ber noch­mal meine Zweit­ge­bä­rende gucken. Ob meine Péri­du­rale auch den gewünsch­ten Effekt gebracht hätte. Danach waren sie beide weg, der alternde Päd­ia­ter und Nacima auch. Ich habe sie nicht gesucht. Geht mich ja nichts an.

Manch­mal ist Anäs­the­sie ein biss­chen lang­wei­lig. Rou­tine eben. Blind­darm, Hüfte, Man­deln, grauer Star, Abtrei­bung. Kurz­stre­cke. Von Stutt­gart nach Düs­sel­dorf, von Ham­burg nach Mün­chen. Manch­mal ist die Sicht schlecht, mal gibt es Scher­winde. Rou­tine. Nicht wei­ter schlimm. Tau­sende von Malen geübt. Und manch­mal geht was schief. Blut­bad. Der Blut­druck rauscht ab. Der Chir­urg kol­la­biert. Das EKG ver­än­dert sich, das Herz des Pati­en­ten wird zu schnell oder zu lang­sam. Der Pati­ent wacht auf. Herz­still­stand. Kann alles pas­sie­ren. Manch­mal sind Kom­pli­ka­tio­nen vor­her­seh­bar, wären vor­her­seh­bar gewe­sen. Anfän­ger haben mehr Kom­pli­ka­tio­nen. Manch­mal sind sie schick­sals­haft, Pech. Das ent­spricht im Flie­ger den Tur­bu­len­zen an der Schlecht­wet­ter­front, dem ran­da­lie­ren­den Kegel­klub auf dem Flug nach Mal­lorca. Dem Aus­fall von Trieb­wer­ken, der Bom­ben­dro­hung. Zuver­sicht hilft dann noch, ist aber nicht alleine ziel­füh­rend. Inner­halb von Sekun­den müs­sen Pilot oder Anäs­the­sist ihr Sudoku weg­le­gen, die läs­ti­gen Alarme aus­stel­len und andere wich­tige Ent­schei­dun­gen tref­fen, Maß­nah­men ergrei­fen. Vor­zugs­weise die rich­ti­gen Ent­schei­dun­gen, die rich­ti­gen Maß­nah­men. Gerade noch Sudoku, gerade noch Hände in den Hosen­ta­schen, plötz­lich Stress. An mei­nem ers­ten Tag in mei­ner ers­ten Stelle fasste der Ober­arzt zusam­men, sein zwei­ter Lehr­satz: die Tätig­keit des Anäs­the­sis­ten besteht aus Jah­ren der Lan­ge­weile im flie­gen­den Wech­sel mit Sekun­den der Angst.

Ein guter und ein schlech­ter Anäs­the­sist, ein Inter­nist und ein Radio­loge sit­zen um einen Tisch, auf dem 50.000 € lie­gen. Wer bekommt das Geld?

Die Lösung: der schlechte Anäs­the­sist. Der schlechte Anäs­the­sist kriegt die Kohle. Weil: einen guten gibt's nicht. Hahaha. Der Inter­nist ist zu lang­sam. Bis der mal fer­tig gedacht und aller­lei Even­tua­li­tä­ten abge­wo­gen hat, haben schon längst andere zuge­grif­fen. Hahaha. Und der Radio­loge? Macht doch für sowe­nig Geld kei­nen Fin­ger krumm. Und noch­mal: Hahaha. Der is gut, was? Kann man mit allen mög­li­chen medi­zi­ni­schen Spe­zia­li­tä­ten machen. Geht zum Bei­spiel ana­log mit Chir­urg, Psych­ia­ter und Patho­loge. Wie's halt gerade passt.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Für Aila, Sep­tem­ber-Heft der Rivie­r­a­Zeit, 3.986 Zei­chen:

Zwei Chir­ur­gen auf dem Weg zum OP. Liegt da ein toter Anäs­the­sist. Sagt der eine Chir­urg zum ande­ren: Ste­cken wir ihm die Hände in die Hosen­ta­schen, dann sieht es aus wie ein Arbeits­un­fall.

Das geht als Witz. Chir­ur­gen sehen uns ja sel­ten mal arbei­ten. Nur immer mit den Hän­den in den Taschen. Chir­ur­gen haben ihren Auf­tritt erst, wenn wir fer­tig sind. Wenn der Pati­ent schläft. Und sind schon wie­der weg, wenn wir den Pati­en­ten wach machen. Kann man ver­glei­chen mit Pilo­ten im Flie­ger. Wenn der Flie­ger erst­mal oben ist, war­tet der Pilot bis zur Lan­dung. Dreht viel­leicht mal an irgend­ei­nem Knopf, legt kleine Kipp­schal­ter um. Quatscht vor allem mit dem Kopi­lo­ten und der Ste­war­dess, ich bräuchte jetzt mal 'nen Kaf­fee. Legt sich schla­fen. Erst zur Lan­dung muss er wie­der da sein. Wie der Anäs­the­sist. Der Anäs­the­sist kann bis dahin Sudo­kus lösen oder in der Rivie­r­a­Zeit blät­tern, Fach­li­te­ra­tur stu­die­ren. Der Schwes­tern­schü­le­rin die Anäs­the­sie erklä­ren. Außer­dem über das grüne Tuch hin­weg den Chir­ur­gen bei der Arbeit zuse­hen. Gerne auch hilf­rei­che Hin­weise for­mu­lie­ren, viel­leicht soll­test du zum nächs­ten Mal noch mal bei you­tube gucken, wor­auf es beim Blind­darm ankommt. Hände in den Taschen.

Wäh­rend der OP fragt der Anäs­the­sist den Chir­ur­gen: "Weisst Du was der Unter­schied zwi­schen uns bei­den ist?" Der Chir­urg ant­wor­tet genervt: "Ich hab' keine Ahnung". Dar­auf der Anäs­the­sist: "Rich­tig!" – Es gibt eigent­lich keine guten Arzt­witze.

Wenn der Chir­urg schreien muss, weil er Über­blick und Kon­trolle zu ver­lie­ren droht, kann der Anäs­the­sist ihm trös­tend zur Seite ste­hen. Kommt aber nur sel­ten vor. Ich meine, dass der Chir­urg Über­blick und Kon­trolle zu ver­lie­ren droht. Ganz, ganz sel­ten. Ehr­lich. Ver­ständ­nis gehört zu unse­ren Kern­kom­pe­ten­zen. Für Pati­en­ten sowieso. Aber auch für die Chir­ur­gen. Manch­mal sind die Arbeits­be­din­gun­gen nicht so gut. Das Licht schlecht ein­ge­stellt. Die Mes­ser stumpf. Der Assis­tent so unge­schickt, die Schwes­ter so blond. Ich kann so nicht arbei­ten. Da kann man schon mal ner­vös wer­den. Dann ist der Anäs­the­sist gefragt. Zuspruch. Hände in den Taschen ver­mit­teln Zuver­sicht. Manch­mal glaubt der Chir­urg, die Nar­kose selbst wäre die Ursa­che allen Übels, der Pati­ent schläft nicht, kön­nen Sie viel­leicht mal ein biss­chen mehr Nar­kose machen. Dann muss der Anäs­the­sist die Hände aus den Taschen neh­men, Geschäf­tig­keit jen­seits des grü­nen Tuchs pro­du­zie­ren, Anwei­sun­gen ans Pfle­ge­per­so­nal flüs­tern, an Räd­chen dre­hen, viel­leicht sogar was sprit­zen. Ist aber meis­tens nicht nötig. Drei Minu­ten Abwar­ten reicht fast immer. So müsste es bes­ser sein. Auf die Psy­cho­lo­gie kommt es an. Hände in den Kit­tel­ta­schen.

Manch­mal ist Anäs­the­sie ein biss­chen lang­wei­lig. Rou­tine eben. Blind­darm, Hüfte, Man­deln, Abtrei­bung. Kurz­stre­cke. Von Stutt­gart nach Düs­sel­dorf, von Ham­burg nach Mün­chen. Manch­mal ist die Sicht schlecht, mal gibt es Scher­winde. Rou­tine. Tau­sende von Malen geübt. Und manch­mal geht was schief. Blut­bad. Der Chir­urg kol­la­biert. Der Pati­ent wacht auf. Herz­still­stand. Kann alles pas­sie­ren. Manch­mal sind Kom­pli­ka­tio­nen vor­her­seh­bar, wären vor­her­seh­bar gewe­sen. Anfän­ger haben mehr Kom­pli­ka­tio­nen. Manch­mal sind sie schick­sals­haft, Pech. Das ent­spricht im Flie­ger den Tur­bu­len­zen an der Schlecht­wet­ter­front, dem ran­da­lie­ren­den Kegel­klub auf dem Flug nach Mal­lorca. Dem Aus­fall von Trieb­wer­ken, der Bom­ben­dro­hung. Zuver­sicht hilft dann noch, ist aber nicht alleine ziel­füh­rend. Inner­halb von Sekun­den müs­sen wir unser Sudoku weg­le­gen und Ent­schei­dun­gen tref­fen, Maß­nah­men ergrei­fen. Vor­zugs­weise die rich­ti­gen Ent­schei­dun­gen, die rich­ti­gen Maß­nah­men. Gerade noch Sudoku, gerade noch Hände in den Hosen­ta­schen, plötz­lich Stress. An mei­nem ers­ten Tag in der Anäs­the­sie fasste der Ober­arzt zusam­men: die Tätig­keit des Anäs­the­sis­ten besteht aus Jah­ren der Lan­ge­weile im flie­gen­den Wech­sel mit Sekun­den der Angst.

Ein guter und ein schlech­ter Anäs­the­sist, ein Inter­nist und ein Radio­loge sit­zen um einen Tisch, auf dem 50.000 € lie­gen. Wer bekommt das Geld?

Parosmie

Banane. Ganz klar. Zur Aus­wahl hätte es noch Ana­nas, Orange und Zitrone gege­ben. Ein Mul­ti­ple Choice Test. Zwölf Gerü­che in Snif­fin' Sticks. Der Pro­fes­sor hält mir Stifte, die aus­se­hen wie dicke Filz­stifte, unter die Nase und zeigt mir eine Karte dazu. Vier Gerü­che zur Aus­wahl. Ich muß den rich­ti­gen aus­wäh­len. Banane, ganz klar, Ant­wort C. Banane. Der Pro­fes­sor macht ein Kreuz auf dem Aus­wer­tungs­bo­gen. C.

Ter­min beim Par­kin­son-Pro­fes­sor. Renom­mierte Kli­nik süd­west­lich von Ber­lin. Bekann­ter von Stu­di­en­kol­le­gen. Der Pro­fes­sor sollte mir sagen, dass das kein Par­kin­son ist im Arm. Hätte mir gefal­len. Zahn­rad­phä­no­men und ein biss­chen Inten­ti­ons­tre­mor bei bestimm­ten Bewe­gun­gen im Ellen­bo­gen links – und nur da – pas­sen auch zum Kor­sa­kow. Trin­ken Sie mal ein biß­chen weni­ger. Ich trinke doch schon lange nichts mehr. Naja, nicht mehr soviel. Nicht mehr jeden Tag, meine ich. Meine Leber­werte sind super. Dann leben Sie eben mit dem Zahn­rad­phä­no­men. Und die Bil­der aus dem Kopf? Bei sol­chen Bil­dern kommt es auf prä­zise Ein­hal­tung der Stan­dards bei der Erstel­lung an, könnte er sagen, der Pro­fes­sor. Prä­zise, wäre ich ihm ins Wort gefal­len, prä­zise! Die habe ich in Frank­reich machen las­sen, die Bil­der, in Süd­frank­reich! Prä­zise und Süd­frank­reich, das passt gar nicht. Klar, könnte er sagen, der Pro­fes­sor, weiß ich doch, ich habe drei Jahre in Mont­pel­lier stu­diert, die Bil­der kön­nen Sie im Prin­zip ver­ges­sen. Wahr­schein­lich liegt es doch ein­fach an Ihren maro­den Hals­wir­beln. Kom­men Sie doch in einem Jahr wie­der, ach was, in fünf Jah­ren, wenn Sie immer noch was haben am Arm. Hätte der Pro­fes­sor gesagt haben kön­nen.

Der Bei­pack­zet­tel von Azilect beschreibt eine Fülle von mög­li­chen Neben­wir­kun­gen, sehr häu­fig auf­tre­tende, mehr als ein Pati­ent von zehn, bis gele­gent­lich, einer von tau­send. Stö­run­gen der Impuls­kon­trolle unter The­ra­pie mit Azilect fin­den an meh­re­ren Stel­len im Bei­pack­zet­tel Erwäh­nung. Ich zitiere: "Es gab Fälle von Pati­en­ten, die wäh­rend der Ein­nahme von einem oder meh­re­rer Arz­nei­mit­tel zur Behand­lung der Par­kin­son-Krank­heit, nicht in der Lage waren, dem Impuls, dem Trieb oder der Ver­su­chung zu wider­ste­hen, bestimmte Dinge zu tun, die Ihnen selbst oder ande­ren scha­den kön­nen. Dies bezeich­net man als Impuls­kon­troll­stö­run­gen. Bei Pati­en­ten, die das Prä­pa­rat und/oder andere Arz­nei­mit­tel zur Behand­lung der Par­kin­son-Krank­heit ein­neh­men, wurde fol­gen­des beob­ach­tet: zwang­hafte Gedan­ken und impul­si­ves Ver­hal­ten, star­ker Drang zur Spiel­sucht […], ver­än­der­tes oder gestei­ger­tes sexu­el­les Inter­esse und Ver­hal­ten, das Sie und andere stark beun­ru­higt, wie zum Bei­spiel ein gestei­ger­ter Sexu­al­trieb."

Wie Män­ner eben so sind. Wis­sen wir ja. Ich meine, spä­tes­tens, wenn die Impuls­kon­trolle erst­mal weg­fällt. Neu­lich saß ich, spät­abends, im Büro der Heb­am­men mit Nacima, ziem­lich jung, ich könnte ihr Vater sein. Es gibt Gren­zen, Impuls­kon­trolle hin oder her. Obwohl, wer weiß, wenn sie mir was ins Ohr flüs­tern würde? Hal­lu­zi­na­tio­nen gehö­ren auch zu den Neben­wir­kun­gen, Kate­go­rie sehr sel­ten, ein Pati­ent von zehn­tau­send. Wir waren beide beschäf­tigt mit Papier­kram, für eine Nie­der­kunft macht das gefühlt hun­dert Sei­ten. Der Kin­der­arzt kam dazu, erstaun­lich, fand ich, was hat der noch zu so spä­ter Stunde hier zu suchen? Er schloss die Tür zum Büro hin­ter sich, sagte bon­jour und erzählte einen Witz. Ganz unver­mit­telt.

Der Pro­fes­sor hatte uns mit einem Bon­jour in erstaun­lich kor­rek­ter Aus­spra­che begrüßt. Beim unge­üb­ten Deut­schen klingt bon­jour meist wie Boschua. Pro­fes­sor eben, ver­mut­lich min­des­tens vier­spra­chig. Deutsch und Eng­lisch sowieso, Fran­zö­sisch ein biss­chen, bestimmt Spa­nisch. Ein paar Jahre wis­sen­schaft­li­cher Auf­ent­halt in Bar­ce­lona, ließ er an geeig­ne­ter Stelle ein­flie­ßen. Sehr pro­fes­sio­nelle Aura. Sys­te­ma­ti­sche Fra­gen zu Ana­mnese, Schwer­punkt Fami­li­en­ana­mnese. Eltern, Brü­der, Kin­der. Beruf, Kar­riere, und wieso gerade Frank­reich. Lebens­ge­wohn­hei­ten, Niko­tin, Alko­hol. Kon­sti­pa­tion, Para­s­om­nien? Alles wird notiert. Kör­per­li­che Unter­su­chung, die übli­chen Spiele bis zu den Seh­nen­re­fle­xen und Babin­ski. Kenne ich schon. Aus dem Stu­dium noch. Links im Arm der Rigor. Der Voll­stän­dig­keit hal­ber führt der Pro­fes­sor den der stan­dar­di­sier­ten Test des Geruch­sinns durch.

Lakritz, Laven­del, Gras oder Nelke? Von die­sen Gerü­chen habe ich klare Vor­stel­lun­gen. Der Stift riecht nach nichts. Nach nichts Bestimm­tem, nichts, was ich defi­nie­ren könnte. Nichts als Ant­wort geht nicht. Leder, Pilze, Geräu­cher­tes, Sesamöl. Auch nichts. Ich muß raten. Womög­lich würde mir es der Pro­fes­sor übel­neh­men, wenn ich mich nach dem Ver­falls­da­tum sei­ner Stifte zu erkun­digte.

Ein Sper­ma­to­zyt fin­det sich ein­sam wie­der im Kopf eines Man­nes. Kenn' ich schon, sagte ich schnell. Nacima sagte nichts. Der Witz ging wei­ter. Wie um was zu sagen in unser kon­zen­trier­tes Schwei­gen über den Papie­ren. Oder weil er den gan­zen Tag schon nichts ande­res den­ken konnte als die­sen so wahn­sin­nig komi­schen Witz, war viel­leicht auf einem der Radio­sen­der gewe­sen am Mor­gen, Ché­rie FM oder NRJ. Die nei­gen zu sowas, nicht nur um die Früh­stücks­zeit. Um halb acht mor­gens gerät die auch Schwät­zer­gruppe bei Mis­tral FM, bei mei­nen Kin­dern belieb­ter Lokal­sen­der von Tou­lon, gerne in eine schlüpf­rige Stim­mung. Immer, wenn ich mit den Kin­der im Auto sitze zur Schule. Wie­viel Pro­zent der Fran­zo­sen ver­wen­den regel­mä­ßig Sext­oys? C'est quoi, fragt die Toch­ter dann von hin­ten, des sext­oys?

Das Ergeb­nis war ein­deu­tig. Sie­ben von zwölf Gerü­chen habe ich nicht erkannt. Ab drei schöpft der Neu­ro­loge Ver­dacht. Für den Pro­fes­sor schien das aller­dings nur noch das i-Tüp­fel­chen der Dia­gnose dar­zu­stel­len. Es zählt vor allem natür­lich die Kli­nik. Der Rigor, das Zahn­rad­phä­no­men. Das reicht eigent­lich schon zur Dia­gno­se­stel­lung. Auch die Grüße der Bekann­ten von frü­her, die ich ein­flie­ßen ließ, um den Pro­fes­sor wohl­wol­lend zu stim­men, konn­ten nicht an sei­ner Über­zeu­gung rüt­teln. Idio­pa­thi­sches Par­kin­son­syn­drom. Eine eher milde Ver­laufs­form zwar, aber, dar­auf sollte ich vor­be­rei­tet sein, die rechte Seite wäre frü­her oder spä­ter auch betrof­fen. Und nicht nur das. Im War­te­zim­mer waren in einer Regal­wand eine ganze Reihe Bro­schü­ren zum Umgang mit der Krank­heit expo­niert. The­men wie Sport, Ernäh­rung, Logo­pä­die. Spei­chel­fluß, Unruhe, Demenz. Die Bro­schü­ren ver­mit­teln einen Ein­druck von dem, was da noch alles kom­men kann. Stö­run­gen der Impuls­kon­trolle gehö­ren da noch zu den kleins­ten Übeln. Anlage einer Ernäh­rungs­sonde. Bei Aus­fluß von Spei­se­brei aus der Nase. Spei­se­brei. Aus der Nase. Der Pro­fes­sor fand beschwich­ti­gende Worte. Außer Azilect erst­mal keine The­ra­pie. Er per­sön­lich würde mit Azilect anfan­gen. Die Stu­dien dies­be­züg­lich seien nicht so ein­deu­tig, der Nut­zen wis­sen­schaft­lich nur ten­den­zi­ell nach­weis­bar. Aus sei­ner Erfah­rung würde Azilect Ver­bes­se­rung brin­gen. Könnte man aber – aus wis­sen­schaft­li­cher Sicht – auch guten Gewis­sens blei­ben las­sen. Klang ein biss­chen nach Homöo­pa­thie. Was nicht so recht zu den Neben­wir­kun­gen aus dem Bei­pack­zet­tel pas­sen mag.

Ich kannte ihn wirk­lich schon, den Witz. Nicht rich­tig wit­zig, gar nicht wit­zig eigent­lich. Was soll das schon wer­den, wenn Sper­ma­to­zy­ten drin vor­kom­men? Im Witz, meine ich. Der Kin­der­arzt liegt alters­mä­ßig unge­fähr in mei­ner Genera­tion, obwohl er sich gerne aus­ge­spro­chen jugend­lich gibt mit zer­schlis­se­nen Jeans zu offe­nen Bir­ken­stocks, klei­nem Pfer­de­schwanz und selbst­ge­bas­tel­tem Sai­ten­in­stru­ment. Ob er damit sei­nen klei­nen Pati­en­ten was von Sper­ma­to­zy­ten vor­singt? Könnte trotz beton­ter Jugend­lich­keit einen nor­ma­len Par­kin­son­kan­di­da­ten abge­ben. Viel­leicht schon län­ger unter Azilect. So fängt's womög­lich an, dachte ich, wenn die Impuls­kon­trolle ver­lo­ren­geht zwi­schen­zeit­lich. Mit pein­li­chen Wit­zen. Per­sön­lich werde ich ver­su­chen, pein­li­che Witze aus­zu­las­sen. Witze über­haupt am bes­ten.

Auf dem Weg zum Flug­ha­fen ver­suchte meinte Frau mich zu trös­ten, sie hätte ver­mut­lich genauso schlecht abge­schnit­ten im Riech­test. Ich habe keine Ahnung, warum sie das ver­mu­tet, viele Gerü­che waren ja nun wirk­lich ein­deu­tig. Den Fisch aus dem Snif­fin' Stick Num­mer 12 hatte ich zuhause noch in der Nase.

Par­os­mie.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Nathatlon

Der Papa von Paul trägt ein T-Shirt "Offi­ciel", blau auf weiß. Er bedient die rote Blech­kiste auf dem Plas­tik­stuhl jen­seits der Bar­riere vor mir. Grü­ner Plas­tik­stuhl. Ver­bli­che­nes Grün, deut­li­che Gebrauchs­spu­ren. Die rote Kiste ist so groß wie ein gro­ßer Schuh­kar­ton, Berg­stie­fel Größe 48. Mit einem schwar­zen Tra­ge­griff oben­auf, dimen­sio­niert für min­des­tens zehn Kilo­gramm. Außer­dem eine Leuchte in Warn­orange. Es han­delt sich um ein Gerät der Firma Swiss Timing. Start Time III. Plas­tik­stuhl und Schuh­kar­ton pas­sen zum tech­ni­schen Niveau des Schwimm­bads, Piscine "Port mar­chand", Tou­lon. 25-Meter-Becken in der Halle. Tro­pen­klima. Wahr­schein­lich 26 Grad. Gefühlt 32. Sicher hun­dert Pro­zent Luft­feuch­tig­keit. An einer der Längs­sei­ten die Tri­büne. Vier Stu­fen nack­ter Beton. Wenn man nicht ganz oben sitzt, kann man sich nicht anleh­nen. Hat statt­des­sen stän­dig die nack­ten Füße ande­rer Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ger im Rücken. Mit der Zeit sagen sie nicht ein­mal mehr Par­don.

Nath­at­lon heißt die Ver­an­stal­tung. Ins­ge­samt sind über vier Ter­mine zehn Dis­zi­pli­nen zu schwim­men. Die vier Schwimm­stile über ver­schie­dene Distan­zen. Ihre Resul­tate gereich­ten der Toch­ter letz­tes Jahr zur Qua­li­fi­ka­tion für ein regio­na­les Ereig­nis in Fos sur Mer.

Durch die Glas­front gegen­über der Tri­büne öff­net sich die Sicht auf den Hafen von Tou­lon unter grauem Him­mel. Ein Schiff von Cor­sica Fer­ries schiebt sich, ganz nah und groß, von rechts nach links durchs Bild. Und die Charles-de-Gaulle ist mal wie­der da. Der Flug­zeug­trä­ger. Liegt vor Anker rechts, zur Stadt hin. War­tungs­ar­bei­ten. Soll acht­zehn Monate dau­ern. Kos­tet eine Mil­li­arde Euros. Soll dann aber tech­nisch auf dem Niveau des 21. Jahr­hun­derts sein. Acht­zehn Monate, wenn nie­mand streikt bis dahin. Die­ser Flug­zeug­trä­ger erin­nert so ein biß­chen an das Pro­jekt des Haupt­stadt­flug­ha­fens in Ber­lin. Fass ohne Boden. Als ob Frank­reich nicht genug wirk­li­che Pro­bleme hätte. Immer­hin aber schwimmt das Ding.

Die rote Kiste von Pauls Papa ver­fügt über ein paar Schal­ter und eine ganze Reihe ver­schie­de­ner Anschlüsse. Ein mul­ti­funk­tio­na­les Gerät schwei­ze­ri­scher Prä­zi­si­ons­ar­beit. Pauls Papa ent­wirrt gut zehn Meter wei­ßen Kabels und schließt ein klo­bi­ges Hand­ge­rät, rot und schwarz, mit zwei Knöp­fen, rot und grün, an der Buchse "micro­phone" an. Wäh­rend des Auf­wär­mens wer­den die Medail­len für die Wett­kämpfe vom Vor­mit­tag ver­teilt. Eine Sil­ber­me­daille für den Sohn, Gold, Sil­ber und Bronze für die Toch­ter. Die Toch­ter ist ehr­gei­zi­ger, obwohl fast jedem Trai­ning exzes­sive Dis­kus­sio­nen zu Sinn und Zweck vor­an­ge­hen. Prä­pu­ber­tär. Zu anstren­gend, keine Lust sowieso. Schwim­men nächs­tes Jahr ohne mich. Lie­ber Ten­nis. Oder Gym­nas­tik. Oder nur noch Rei­ten. Wie auch immer, kein Schwim­men. Ver­stehe ich sehr gut. Es gibt kaum etwas Lang­wei­li­ge­res als Schwim­men.

Die Maschine ver­stärkt das "à vos mar­ques", auf die Plätze, von Pauls Papa auf Hal­len­laut­stärke und pro­du­ziert unmit­tel­bar im Anschluß auf Knopf­druck, grü­ner Knopf, ein Trö­ten. Dazu ein kur­zes Auf­blit­zen der Warn­leuchte. In ande­ren sport­li­chen Ein­rich­tun­gen des Dépar­te­ments muß der Offi­ciel ohne Laut­spre­cher­kiste aus­kom­men. Als Hilfs­mit­tel gibt es dort nur Tril­ler­pfei­fen. Im Schwimm­sport­kom­plex Port mar­chand gibt es auch ein beheiz­tes Außen­be­cken bei­nahe olym­pi­scher Abmes­sun­gen. Kann lei­der nicht mal für Wett­be­werbe auf Distrikts­ni­veau ver­wen­det wer­den. Der Archi­tekt hatte die Mate­ri­al­stärke der Flie­sen nicht oder falsch kal­ku­liert. Nun feh­len ein paar Zen­ti­me­ter auf fünf­zig Meter. Bei­nahe olym­pisch. Aber beheizt. Im neuen Flug­ha­fen von Ber­lin sol­len die Roll­trep­pen eine Stufe zu kurz sein. Und die Kli­ma­an­lage funk­tio­niert auch noch immer nicht rich­tig.

Das erste à vos mar­ques mit Tröte und Leuchte von Pauls Papa an die­sem Nach­mit­tag gilt den acht­hun­dert Metern Frei­stil Mes­sieurs. Um den Wett­be­werb ange­sichts zahl­rei­cher Kan­di­da­ten zu beschleu­ni­gen, las­sen sie jeweils zwei Schwim­mer pro Bahn star­ten. Fünf Bah­nen, zehn Schwi­mer. Meine Kin­der has­sen das, weil man sich so leicht in die Quere kommt. Gut zehn Minu­ten pro Serie. Ziem­lich lang­wei­lig für alle Betei­lig­ten, ins­be­son­dere die Zuschauer. Noch lang­wei­li­ger sind die 1.500 Meter. Sech­zig Län­gen im 25-Meter-Becken! Schon auf den ers­ten Län­gen wird dabei deut­lich, wer das Ren­nen wohl machen wird. Kei­nes mei­ner Kin­der schwimmt die acht­hun­dert Meter. Aus unse­rem Club schwimmt nur Paul, ein gro­ßer Rot­haa­ri­ger, mit. Drit­ter von zehn Schwim­mern.

Ich habe kurz nicht auf­ge­passt, eine sms beant­wor­tet, den Start ver­passt. Mein Sohn ist im Was­ser. Hun­dert Meter Frei­stil der Her­ren. Hält sich gut, zwei­ter Platz. Medaille. Dann hun­dert Meter Rücken der Damen. Meine Toch­ter ist die ein­zige aus­län­di­sche Teil­neh­me­rin des Wett­be­werbs. Seit Jah­ren wird sie im offi­zi­el­len Pro­gramm in der Spalte Natio­na­lité als alle­mande gelis­tet. Keine Ahnung warum. Obwohl sie über­zeugte Fran­zö­sin ist. Dank mei­ner Toch­ter wird jedes Pro­vin­zschwim­men zur inter­na­tio­na­len Kom­pe­ti­tion. Meine Toch­ter erste ihrer Serie von fünf Schwim­me­rin­nen.

À vos mar­ques, Tröte, Leuchte. Schon wie­der die Toch­ter. Fünf­zig Meter Schmet­ter­ling. Schlech­ter Start. Holt aber auf zum drit­ten Platz. Die Toch­ter ist ehr­gei­zig. Dank ihres Jahr­gangs reicht es bestimmt wie­der zu einer Medaille. Ob sie wirk­lich auf­hö­ren will nächs­tes Jahr? Na ja, viel­leicht doch nicht. Viel­leicht weni­ger oft zum Trai­ning. Viel­leicht. Vier Mal zwei Stun­den pro Woche sind, muß ich zuge­ben, wirk­lich viel.

Und dazu immer diese Wett­be­werbe, ganze Sonn­tage lang.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Beaufort 5

Aus dem Fens­ter eines der Kin­der­zim­mer oben im Haus hat man einen Blick auf das Wahr­zei­chen des Dorfs, einen soli­tä­ren Ande­sit-Fel­sen mit Burg­ruine und Kapelle. Auf dem Turm weht Blau-Weiß-Rot und die Flagge der Pro­vence, gelb und rot in senk­rech­ten Strei­fen. Das Haus liegt am Fuße eines lang­ge­streck­ten Hügels im Wind­schat­ten, in einer wind­ge­schütz­ten Zone zumin­dest. Der Erbauer hat sich – vor bald 150 Jah­ren – ernst­hafte Gedan­ken gemacht zu Pla­zie­rung und Aus­rich­tung sei­nes Land­hau­ses. Bei uns ist immer viel weni­ger Wind als an der Küste, im Flach­land zur Küste, aber auch schon weni­ger als im Dorf selbst. Wenn im Dorf der Wind Staub und Blät­ter durch die Gas­sen treibt, kön­nen wir noch ohne Beein­träch­ti­gung auf der Ter­rasse essen. Mit einem Blick auf die Flag­gen kann ich vor­herr­schende Wind­rich­tung und -stärke beur­tei­len. Es gibt eigent­lich nur zwei Wind­rich­tun­gen. Von rechts, West­wind, und von links, Ost­wind. Star­ker West­wind ist meist Mis­tral, Ost­wind, egal wel­cher Inten­si­tät, ist ein Vor­bote schlech­ten Wet­ters. Der Him­mel ist – wie auf dem Foto übri­gens – bei Ost­wind bes­ten­falls mil­chig­blau, meist zie­hen schnell Wol­ken auf. Mis­tral ist kalt und macht den Him­mel strah­lend blau. Keine Wol­ken. Regen ist bei Mis­tral ziem­lich unwahr­schein­lich.

Ich durfte Alb­ans neues Fahr­rad mit Kar­bon­rah­men aus­pro­bie­ren. Alban wohnt mit sei­ner Fami­lie am Coudon. Der Coudon ist einer der Hügel um Tou­lon. Alban wohnt hoch genug, um von sei­ner Ter­rasse aus das Meer sehen zu kön­nen. Unsere Tour führte Rich­tung Pier­refeu und zurück. Gut zwei Stun­den. Am Ende zwangs­läu­fig eine Stei­gung. Stei­gung zum Ende einer Tour macht mir wenig Spaß. Bei Mis­tral als Gegen­wind macht mir Stei­gung am Ende einer Tour noch weni­ger Spaß. Gleich würde mich seine Frau fra­gen: Und? Wie fährt man auf Kar­bon? Pour voir la bou­lan­gère le matin et ses copains au ter­rain de boule l'après-midi papi n'a pas besoin d'un vélo en car­bone. Um die Bäcke­rin zu sehen am Mor­gen und seine Kum­pels am Nach­mit­tag auf dem Boule-Platz, braucht Opa kein Kar­bon­rad. Wäre eine schöne Ant­wort, dachte ich, im Schweiße mei­nes Ange­sichts auf dem letz­ten Kilo­me­ter Stei­gung, Alban weit vor­aus, leicht­fü­ßig auf sei­nem alten Alu­rad. Die zehn Jahre Alters­un­ter­schied zu Alban fühl­ten sich an wie viel­leicht drei­ßig.

Ich hätte einen Blick aus dem Fens­ter des Kin­der­zim­mers wer­fen sol­len. Beau­fort 5 min­des­tens. Blauer Him­mel. Mis­tral. Ich hätte absa­gen kön­nen. Kopf­schmer­zen, Dienst ganz über­ra­schend, irgend­was. Zu spät. Rich­tung und Stärke des Winds beein­flus­sen zum Rad­fah­ren maß­geb­lich meine Wahl der Route. Ost­wind ist gut für eine Stre­cke um Cap Garonne an der Küste, Mis­tral wäre gut gewe­sen für eine Tour über den Faron. In bei­den Fäl­len hat man den Wind zum Rück­weg im Rücken. Rücken­wind am Ende ist gut für die Moti­va­tion unter­wegs.

Alban ist einer von denen, die für mei­nen Draht­esel nur einen mit­lei­di­gen Blick übrig haben. Einer von denen, die am Sams­tag-Nach­mit­tag mit zwei, drei Kol­le­gen mal eben zu einer 150-Kilo­me­ter-Tour ins hüge­lige Hin­ter­land auf­bre­chen. Zum Abschluß die Tour noch eben mit einem Abste­cher über Faron (584 Meter) und Coudon (702 Meter) abrun­den. Dabei schien mir mein aktu­el­les Rad im Ver­gleich zum Vor­gän­ger schon wie ein Quan­ten­sprung, über­all Shi­mano dran. Damit könnte Rad­fah­ren ja kei­nen Spaß machen, sagt Alban. Wann ich mir denn end­lich ein rich­ti­ges Fahr­rad gön­nen würde, bald wäre doch Ostern. Die glei­che Frage hatte er mir schon letz­tes Jahr immer wie­der gestellt. Bald wäre doch Weih­nach­ten. Ein rich­ti­ges Fahr­rad ist für sol­che Leute ein Fahr­rad mit Kar­bon­rah­men. Der Rah­men wiegt dann weni­ger als ein Kilo. Ins­ge­samt sechs Kilo­gramm Fahr­rad-High­tech. Alban hat sich eines gekauft für etwas über drei­tau­send Euro. Ziem­lich viel, finde ich. Für ein Fahr­rad. Man kann noch viel mehr aus­ge­ben für ein Fahr­rad, ich weiß.

Ob es nicht schlauer wäre, ein paar Kilo abzu­neh­men? Nein, nein, sagt Alban, und das habe ich auch schon von ande­ren Kar­bon­rad­fah­rern gehört, es wäre ja nicht nur das Gewicht, ein Kar­bon­rah­men sei viel stei­fer, des­we­gen viel har­scher und direk­ter, das Fahr­rad also viel­leicht unbe­quem, aber dafür auch reak­ti­ons­freu­di­ger. Reak­ti­ons­freu­di­ger? Ja, die Reak­ti­ons­freude merkt man zum Bei­spiel beim Beschleu­ni­gen in der Stei­gung. Beschleu­ni­gen in der Stei­gung? Achso. Pas­siert mir nicht so oft. Auf den letz­ten Metern einer Stei­gung, wenn das Ende in Sicht­weite vor mir liegt, steige ich manch­mal noch in die Pedale. Als End­spurt, ein letz­tes Auf­bäu­men. Soviele andere Fak­to­ren kämen da noch ins Spiel, auf­grund des stei­fe­ren Rah­mens würde so ein Kar­bon­fahr­rad eine ganz andere Dyna­mik ent­wi­ckeln kön­nen, ein direk­te­res Anspre­chen. Dyna­mik? Ja, ergänzt Alban mit mis­sio­na­ri­schem Eifer, eine viel bes­sere Iner­tie. Iner­tie? Den Begriff Iner­tie habe ich vor vie­len Jah­ren schon mal gehört, im Stu­dium, Bio­phy­sik. Und schon damals nicht wirk­lich ver­stan­den. Damals gab es noch kein wiki­pe­dia. Iner­tie ist auf Deutsch Träg­heit. Je schwe­rer ein Kör­per, desto trä­ger. So ein­fach. Schwere Kör­per set­zen sich schwe­rer in Bewe­gung. Hat was mit dem Gewicht zu tun. Mein Sohn stu­diert Inge­nieur. Iner­tie kam auch mal vor. Mein Sohn sagt, das sei Quatsch mit der Iner­tie beim Fahr­rad. Augen­wi­sche­rei. Kar­bon­rä­der sind eben leich­ter. Leich­ter macht bes­sere Iner­tie, logisch. Klingt gut und kei­ner ver­steht, was wirk­lich gemeint ist. Muß aber was ganz Tol­les sein, sonst würde man ja nicht drei­tau­send Euro dafür aus­ge­ben müs­sen.

Und? Wie fährt sich Kar­bon? – Pour voir la bou­lan­gère le matin et ses copains au ter­rain de boule l'après-midi papi n'a pas besoin d'un vélo en car­bone. Für mei­nen sport­li­chen Anspruch tut's auch eine tech­ni­sche Anti­qui­tät. Und viel­leicht drei, vier Kilo weni­ger Eigen­ge­wicht zum Som­mer hin und über­haupt. Drei, vier Kilo weni­ger Eigen­ge­wicht sind sicher auch gut für meine per­sön­li­che Iner­tie.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Gekürzte Ver­sion für Heft Nr. 301, Mai/Juni, der Riviera Zeit

Aus dem Fens­ter des Kin­der­zim­mers oben hat man einen Blick auf das Wahr­zei­chen des Dorfs, einen Fel­sen mit Burg­ruine und Kapelle. Auf dem Turm weht Blau-Weiß-Rot und die Flagge der Pro­vence, gelb und rot in senk­rech­ten Strei­fen. Mit einem Blick auf die Flag­gen kann ich vor­herr­schende Wind­rich­tung und -stärke beur­tei­len. Es gibt eigent­lich nur zwei Wind­rich­tun­gen. Der Ost­wind ist gut für eine Stre­cke um Cap Garonne an der Küste, Mis­tral, der kalte West­wind, für eine Tour über den Faron. In bei­den Fäl­len hat man den Wind zum Rück­weg im Rücken. Rücken­wind am Ende ist gut für die Moti­va­tion unter­wegs.

Neu­lich durfte ich Alb­ans neues Fahr­rad mit Kar­bon­rah­men aus­pro­bie­ren. Alban wohnt mit an einem der Hügel hin­ter Tou­lon, hoch genug für vue mer von sei­ner Ter­rasse aus. Unsere Tour führte Rich­tung Pier­refeu und zurück. Gut zwei Stun­den. Am Ende zwangs­läu­fig eine Stei­gung. Stei­gung zum Ende einer Tour macht mir wenig Spaß. Noch weni­ger bei Mis­tral als Gegen­wind. Gleich würde mich seine Frau fra­gen: Und? Wie fährt man auf Kar­bon? Pour voir la bou­lan­gère le matin et ses copains au ter­rain de boule l'après-midi papi n'a pas besoin d'un vélo en car­bone. Um die Bäcke­rin zu sehen am Mor­gen und seine Kum­pels am Nach­mit­tag am Boule-Platz, braucht Opa kein Kar­bon­rad. Wäre eine pas­sende Ant­wort, dachte ich, im Schweiße mei­nes Ange­sichts auf dem letz­ten Kilo­me­ter Stei­gung, Alban weit vor­aus, leicht­fü­ßig auf sei­nem alten Alu­rad.

Ich hätte einen Blick aus dem Fens­ter des Kin­der­zim­mers wer­fen sol­len. Blauer Him­mel. Mis­tral. Beau­fort 5 min­des­tens. Ich hätte absa­gen kön­nen. Kopf­schmer­zen, Dienst ganz über­ra­schend, irgend­was. Zu spät.

Alban ist einer von denen, die für mei­nen Draht­esel nur einen mit­lei­di­gen Blick übrig haben. Einer von denen, die am Sams­tag-Nach­mit­tag mit zwei, drei Kol­le­gen mal eben zu einer Tour ins hüge­lige Hin­ter­land auf­bre­chen. Zum Abschluß die Tour noch eben mit einem Abste­cher über den Coudon (702 Meter) abrun­den. Mit sowas könnte Rad­fah­ren ja kei­nen Spaß machen, sagt Alban. Wann ich mir denn end­lich ein rich­ti­ges Fahr­rad gön­nen würde, bald wäre doch Ostern. Die glei­che Frage hatte er mir schon letz­tes Jahr immer wie­der gestellt. Bald wäre doch Weih­nach­ten. Ein rich­ti­ges Fahr­rad ist für sol­che Leute ein Fahr­rad mit Kar­bon­rah­men. Der Rah­men wiegt dann weni­ger als ein Kilo. Alban hat sich eines gekauft für über drei­tau­send Euro. Ziem­lich teuer, finde ich.

Ob es nicht schlauer wäre, ein paar Kilo abzu­neh­men? Nein, nein, sagt Alban, es wäre ja nicht nur das Gewicht, ein Kar­bon­rah­men sei viel stei­fer, des­we­gen viel direk­ter, das Fahr­rad also viel­leicht unbe­quem, aber dafür reak­ti­ons­freu­di­ger. Reak­ti­ons­freu­di­ger? Ja, die Reak­ti­ons­freude merkt man zum Bei­spiel beim Beschleu­ni­gen in der Stei­gung. Beschleu­ni­gen? In der Stei­gung? Pas­siert mir nicht so oft. Auf den letz­ten Metern einer Stei­gung, wenn das Ende in Sicht­weite vor mir liegt, steige ich manch­mal noch in die Pedale. Soviele andere Fak­to­ren kämen da noch ins Spiel, auf­grund des stei­fe­ren Rah­mens würde so ein Kar­bon­fahr­rad eine ganz andere Dyna­mik ent­wi­ckeln kön­nen, ein direk­te­res Anspre­chen. Dyna­mik? Ja, ergänzt Alban mit mis­sio­na­ri­schem Eifer, eine viel bes­sere Iner­tie. Iner­tie? Den Begriff habe ich vor vie­len Jah­ren schon mal gehört, im Stu­dium, Bio­phy­sik. Und schon damals nicht wirk­lich ver­stan­den. Damals gab es noch kein wiki­pe­dia. Iner­tie ist Träg­heit. Schwere Kör­per set­zen sich schwe­rer in Bewe­gung. Mein Sohn stu­diert Inge­nieur. Iner­tie kam auch mal vor. Mein Sohn sagt, das sei Quatsch mit der Iner­tie beim Fahr­rad. Augen­wi­sche­rei. Kar­bon­rä­der sind eben leich­ter und somit phy­si­ka­lisch weni­ger träge. Iner­tie klingt gut und kei­ner ver­steht, was wirk­lich gemeint ist. Muß aber was ganz Tol­les sein, sonst würde man ja nicht soviel Geld dafür aus­ge­ben wollen.

Und? Wie fährt sich Kar­bon? – Pour voir la bou­lan­gère le matin et ses copains au ter­rain de pétan­que l'après-midi papi n'a pas besoin d'un vélo en car­bone. Für mei­nen sport­li­chen Anspruch tut's auch eine tech­ni­sche Anti­qui­tät.

Shizuishan

Guten Mor­gen,

Deckard­dip, Grok­Vock, Dome­niksi und Ali­mabum! Ich freue mich, Euch zu mei­nen Abon­nen­ten zäh­len zu dür­fen. Wahr­schein­lich seit Ihr Freunde von Abbas­row, Alipi und Klif­fet. Und da sind noch viele mehr. Ich habe Leser in ganz Russ­land!

葉卡捷琳堡. Jeka­te­rin­burg. Habe ich schon mal gehört. Russ­land. Links unten. Noch vier Stun­den und zwei­und­drei­ßig Minu­ten, 2392 Mei­len. Wir flie­gen auf einer Höhe von 34.000 Fuß. Die Geschwin­dig­keit liegt aktu­ell bei 529 mph. Vor ein paar Stun­den war links unten Novo­si­birsk (新西伯利亚). Etwas wei­ter Omsk, auch links. Und Sur­gut. Nie gehört. Rechts. Die Außen­tem­pe­ra­tur liegt bei minus 67 Grad. Fah­ren­heit. In Cel­sius macht das minus 55. Wie auch immer ziem­lich kalt. Der Flie­ger von Cathay Paci­fic wird um sechs Uhr mor­gens in Lon­don (伦敦) lan­den. Cathay Paci­fic ist eine Flug­ge­sell­schaft mit Sitz in Hong­kong. Die Filme in der Rücken­lehne des Vor­der­manns sind meist chi­ne­sisch unter­ti­telt. Die Städte auf dem Flight-tracking-Bild­schirm sind abwech­selnd eng­lisch und chi­ne­sisch beschrif­tet. 莫斯科 (Mos­kau) da unten im Dun­keln.

Bestimmt sitzt Ihr und die in letz­ter Zeit so zahl­rei­chen Neu-Abo­nenn­ten mei­nes Blogs da unten irgendwo. Mit dem Tol­stoi-Zitat habe ich ver­mut­lich den einen oder ande­ren Deutsch­kurs der dor­ti­gen Volks­hoch­schule ange­lockt. Oder einen Online-Kurs. Dabei seid Ihr, die Ihr Euch ange­mel­det habt, bestimmt nur die Spitze des Eis­bergs. Die Klas­sen­bes­ten. Die sich auch nicht von den Rechen­auf­ga­ben mei­nes Cap­t­cha-Plugins ver­wir­ren las­sen. XII – acht = ?. Robo­ter schaf­fen sowas nicht, denke ich. Ihr seid zwei­fel­los – несомненно – echte Men­schen. Mit ech­ten Adres­sen bei mail​.ru, kobka-​2018@​mail.​ru und skorobogat.​eva@​mail.​ru zum Bei­spiel. Dabei ist bekannt, daß sich die meis­ten Leser sich nicht die Mühe machen mit einer Anmel­dung. Viele, die meis­ten eben, kli­cken das mal an, weil sie gerade nichts Bes­se­res zu tun haben. Oder weil die Leh­re­rin ihres Deutsch­kur­ses das emp­foh­len hat. Füh­len sich aber nicht ange­spro­chen. Ver­stehe ich. Loriot ist viel­leicht sehr spe­zi­el­ler deut­scher Humor. Ich kann auch nicht jeden Blog aus­hal­ten. Trotz­dem, rus­si­sche Volks­hoch­schul­schü­ler sind brave Schü­ler. Wenn Eure Leh­re­rin sagt, schaut Euch das mal an, schaut Ihr Euch das mal an. Über tau­send in ein paar Tagen. Das schaf­fen andere Texte nicht.

Prag links und Ber­lin, Ham­burg. Im Hin­ter­grund, auch links natür­lich, am Hori­zont, Mün­chen und sogar Basel. Ob man wirk­lich alle diese Städte sehen könnte aus über zehn Kilo­me­ter Höhe? Gro­nin­gen rechts. Nie­der­lande. Bin ich vor vie­len Jah­ren mal durch gekom­men auf dem Weg an die Nord­see. Man­che IP-Adres­sen ver­or­tet das Word­Press-Plugin nach Hol­land. Das kann ich ver­ste­hen. Das sind die Leser, die auch im Kurz­ur­laub an der Nord­see nicht auf mich ver­zich­ten wol­len. Außer­dem spre­chen alle Hol­län­der flie­ßend deutsch.

Rechts immer mehr deut­sche Städte: Güters­loh, Koblenz (科布倫茨), Aachen. Güters­loh! 居特斯洛. Wieso gerade Güters­loh? Warum nicht Unna? Oder Moers? Egal. Die Ankunft in Lon­don in weni­ger als einer Stunde.

In Koblenz und Köln habe ich ein paar Abon­nen­ten. Zeigt mir der Plugin. Haben für meine Ohren nor­male Namen. Bei gän­gi­gen Anbie­tern. "Ladya­tott" gehört da schon zu den Exo­ten – nichts für ungut, Ladya­tott. Abon­nen­ten krie­gen eine Mail, wenn ein neuer Bei­trag auf mei­ner Seite erscheint. Ganz Russ­land wird nun von auto­ma­ti­schen Mails über­schwemmt. mail​.ru muß sowas sein wie yahoo oder web​.de. Aus­schließ­lich kyril­li­sche Zei­chen aller­dings. Weni­ger bunt. Man kann sich da ein Post­fach holen, allein­er­zie­her war noch frei. Oben ein Such­feld. найти – fin­den. Ein Tol­stoi-Zitat im Text und schon wird man im Quell­text-Fun­dus des Rus­sen-google regis­triert. Sichert mir ein Mil­lio­nen­pu­bli­kum. 居特斯洛 im Text bringt ver­mut­lich den Zugang zu ehr­gei­zi­gen Schü­lern zahl­lo­ser Deutsch­kurse der Volks­re­pu­blik China.

Schöne Grüße nach Novo­si­birsk. Und Shi­zuis­han.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Apéritif

Ich glaube, die Söhne wären gerne vom Sky­to­wer in Auck­land gesprun­gen. 225 Dol­lar. Mir schien das zu teuer, das war am Anfang unse­rer Reise, da wußte ich noch nicht, daß in Neu­see­land alles über­all teuer ist. Die müs­sen ja fast alles impor­tie­ren außer Scha­fen. Ein klei­nes Bier für elf Dol­lar! Geht's noch? Neu­see­land-Dol­lar nur, macht trotz­dem über sie­ben Euro. Das geht viel­leicht in Saint Tro­pez am Hafen, aber in Neu­see­land? Queenstreet in Auck­land, dachte ich, muß wohl die Repu­ta­tion wie das Café de Paris in Saint Tro­pez haben, die kön­nen sich das raus­neh­men. Das kleine Bier kos­tet über­all in NZ elf Dol­lar. Meine Söhne durf­ten schließ­lich in Queens­stown von der Brü­cke sprin­gen. Kawa­rua Bridge Bungy. 43 Meter. Kawa­rua Bridge Bungy ist die erste kom­mer­zi­elle Bungy-Instal­la­tion über­haupt. 195 Dol­lar. Pro Kan­di­dat. Wei­tere 90 die pro­fes­sio­nelle Film- und Foto­do­ku­men­ta­tion dazu. Auch pro Kan­di­dat. Da hatte der Schwabe in mir schon längst resi­gniert. In NZ ist fast nichts umsonst. Das T-Shirt, I did it. Im mer­kan­ti­len Wert von 20 Dol­lar immer­hin. Mehr als tolle Erleb­nisse kann man für Geld nicht bekom­men. Die hat­ten die Söhne. Das T-Shirt wer­den sie ohne­hin nur nachts tra­gen. Wenn über­haupt.

Ich könnte mei­nem Schwie­ger­va­ter, Bild­hauer, die Pro­duk­tion von Making-of-Fil­men vor­schla­gen. Als Ergän­zung des künst­le­ri­schen Ange­bots. Immer wie­der bekomme ich Mails geschrie­ben, wie nett das Video mit mei­ner Toch­ter wäre. Der Schwie­ger­va­ter fer­tigt ein Por­trät in Lehm an als Vor­lage für den Bron­ze­guß. Könnte man sehr gut als Ergän­zung zum Füh­rer­schein ver­mark­ten, den Bron­ze­guß. Füh­rer­schein alleine zur Voll­jäh­rig­keit reicht ja viel­leicht nicht. Der Bron­ze­guß eher fürs Eltern­haus. Nur so als Idee. Das Making-of dazu fast so gut wie ein Foto­buch über die letz­ten acht­zehn Jahre. Zeit­raf­fer. Zwei Stun­den in zwei Minu­ten. Zusätz­lich könnte man ein paar lau­nige Kom­men­tare vom Künst­ler selbst ein­spie­len. Muß aber nicht sein. Musik viel­leicht nach Wahl im Hin­ter­grund. Klei­ner Schwenk auf anwe­sende Fami­li­en­an­ge­hö­rige, Müt­ter brin­gen sich gerne mal selbst ins Bild. Geht ab vier­hun­dert­neun­und­neun­zig Euro. Nur um mal eine Grö­ßen­ord­nung anzu­deu­ten. Mehr als tolle Erleb­nisse kann man für Geld nicht bekom­men. Noch schö­ner, wenn sie bild­lich fest­ge­hal­ten sind. Doku­men­ta­tion auch bei Face­book, warum nicht. Auf USB-Stick oder zum Down­load bereit­ge­stellt auf der Home­page neun­und­vier­zig Euro extra. Dar­auf kommt's dann auch nicht mehr an. Eine Füh­rung durch die Por­trät-Samm­lung ist natür­lich inbe­grif­fen. Gra­tis. Irgend­was muß umsonst sein. Irgend­was umsonst macht den här­tes­ten Schwa­ben weich. Abschlie­ßend Häpp­chen zu einem Gläs­chen Apé­ri­tif. Auch umsonst. Einer der Betei­lig­ten müßte sich seine Ver­kehrstüch­tig­keit bewah­ren. Der Füh­rer­schein­neu­ling zum Bei­spiel.

Nach ent­spre­chen­der Ter­min­ab­spra­che würde ich als Bild­tech­ni­ker dazu jeweils ein­flie­gen.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Cherepkivtsi

Все счастливые семьи похожи друг на друга, каждая несчастливая семья несчастлива по-своему. Tol­stoi. Im Ori­gi­nal. Anna Kare­nina. Die ers­ten Zei­len. Alle glück­li­chen Fami­lien glei­chen ein­an­der, jede unglück­li­che Fami­lie ist auf ihre eigene Weise unglück­lich. Ich kann nur die­sen einen Satz rus­sisch. Win­ter 1983. Auf dem Weg von Rumä­nien nach Polen. Nachts um eins mußte ich im ers­ten Bahn­hof auf der sowje­ti­schen Seite aus­stei­gen. Hatte kein Visum. Man hatte mir gesagt, im betref­fen­den Zug bräuchte man kein Visum, weil der abge­schlos­sen ein­fach durch die Sowjet­union durch­fah­ren würde bis Polen. Habe ich geglaubt. Auch glau­ben wol­len. Ziem­lich blau­äu­gig.

Her­mann?

Ich heiße nicht Her­mann. Könnte aber sein. Mei­nen Eltern waren alle mög­li­chen denk­wür­di­gen Vor­na­men für ihre Söhne zuzu­trauen. Egal. Her­mann sitzt in sei­nem Ses­sel und macht nichts. Sitzt da und guckt. Denkt viel­leicht was. Im Hin­ter­grund wirkt die Gat­tin in der Küche, die Tür halb geschlos­sen, trip­pelt von rechts nach links.

Ja?

Was machst du da?

Wie meint sie das? Ich sitze da und mache nichts. Denke viel­leicht was. Obwohl, den­ken? Ich habe Bil­der vom letz­ten Ski-Urlaub vor Augen, Vor­stel­lun­gen von der bevor­ste­hen­den Reise nach Neu­see­land. Sowas. Ist das den­ken? Muß ich jetzt dar­über reden?

Nichts.

Nichts? Wieso nichts?

Muß ich denn immer was machen? Die ganze Zeit mache ich irgend­was. Arbei­ten, Haus­auf­ga­ben, Müll­raus­brin­gen. Ein­mal muß auch Pause sein dür­fen. Sit­zen ohne machen.

Ich mache nichts.

Gar nichts?

Nein.

In zehn Tagen flie­gen wir nach Neu­see­land. Wir tref­fen den Erst­ge­bo­re­nen und fei­ern die Hoch­zeit von Isa­bel­les und Jéjés Sohn. Wir wer­den Vul­kane sehen, in hei­ßen Quel­len am Strand baden, den einen oder ande­ren Ori­gi­nal­schau­platz aus Herr der Ringe besich­ti­gen. Drei­tau­send Kilo­me­ter fah­ren von Auck­land im Nor­den nach Queens­town im Süden. Die Land­schaft wird unglaub­lich schön sein. Sagen alle, die schon mal dort waren. Ziem­lich viel Schafe, ein paar Spu­ren von Urein­woh­nern. Kiwis. Wir wer­den Bil­der davon machen. Mit Land­schaft und Scha­fen. Meine Frau wird Sel­fies machen. Ich werde lächeln.

Über­haupt nichts?

Nein, ich sitze hier.

Du sitzt da?

Ja.

Aber irgend­was machst du doch?

Nein.

Denkst du irgend­was?

Ich hatte zur Sicher­heit doch ein paar Stan­gen Ziga­ret­ten – Kent, die wei­ßen von Kent – mit­ge­nom­men. Und ein paar Pfund Boh­nen­kaf­fee von Aldi. Gegen Kent, die wei­ßen von Kent, und Kaf­fee­boh­nen konnte man im spät­so­zia­lis­ti­schen Rumä­nien alles bekom­men, was es eigent­lich nicht gab. Mäd­chen wür­den ihre Unschuld dafür her­ge­ben, hieß es. Mit ein paar Nylon­strümp­fen als Zugabe. Ich hatte nie Nylon­strümpfe dabei. Schon weil ich mir nicht vor­stel­len konnte, daß die Mäd­chen, die mich inter­es­sier­ten, für ein paar Schach­teln Ziga­ret­ten und Nylon­strümpfe zu haben wären. Und die Mäd­chen, die viel­leicht für ein paar Schach­teln Ziga­ret­ten und Nylon­strümpfe zu haben gewe­sen wären, inter­es­sier­ten mich nicht.

Nichts beson­de­res.

Es könnte ja nicht scha­den, wenn du mal etwas spa­zie­ren gin­gest.

Nein, nein.

Letz­tes Jahr reis­ten unsere Musik­er­freunde wäh­rend der glei­chen zwei Wochen Febru­ar­fe­rien nach Indien. Zur Ein­stim­mung und Vor­be­rei­tung hat­ten sie sich zu Weih­nach­ten präch­tige Bild­bände geschenkt und ein paar Rei­se­füh­rer. Lei­der wäre die Reise bei­nahe schon in Paris zu Ende gewe­sen. Ohne Visa darf man nicht in den Flie­ger. Sie hat­ten ver­säumt, ihre schö­nen Rei­se­füh­rer auch zu lesen. Die Kapi­tel "Prak­ti­sche Hin­weise". Musi­ker eben. So etwas würde mei­ner Frau und mir nie pas­sie­ren. Dachte ich damals noch. Mir viel­leicht, nicht mei­ner Frau.

Ich bringe dir dei­nen Man­tel.

Nein, danke.

Aber es ist zu kalt ohne Man­tel.

Im Zug nach Posen bekam die erst­beste Uni­form zur Sicher­heit ein paar Schach­teln Kent. Das war der rumä­ni­sche Schaff­ner. Unnö­tige Ver­schwen­dung, dachte ich mir dann. Mein Rück­fahr-Ticket ers­ter Klasse Schlaf­wa­gen für umge­rech­net sech­zehn Mark war ohne­hin in Ord­nung. Zu spät. Mein Abteil war erstaun­lich sau­ber. Und erstaun­lich warm. Die Fens­ter konnte man nicht öff­nen. Na also, dachte ich. Stimmt ja wohl mit dem abge­schlos­se­nen Zug durch die Sowjet­union. Nicht wirk­lich viel spä­ter hielt der Zug im Nir­gendwo. Ringsum nur Schnee im Mond­schein. Wahr­schein­lich war das die Grenze zur Ukraine.

Ich gehe ja nicht spa­zie­ren.

Aber eben woll­test du doch noch?

Nein, du woll­test, daß ich spa­zie­ren gehe.

Ich? Mir ist es doch völ­lig egal, ob du spa­zie­ren gehst.

Die nächs­ten Uni­for­men waren sowje­ti­sche. Woll­ten meine Papiere sehen. Ich hatte keine außer mei­nem Paß, dem Schlaf­wa­gen­ti­cket und einer selbst­ge­fälsch­ten rumä­ni­schen Aus­rei­se­er­laub­nis. Per­so­nal­aus­weis, Füh­rer­schein? Woll­ten sie nicht. Meine Kaf­fee­boh­nen und meine Kent wink­ten sie rou­ti­niert ab. Über­zeugte Patrio­ten. Ich mußte erken­nen, daß meine exo­ti­sche Ziga­ret­ten­marke nur in Rumä­nien Wun­der bewir­ken konnte. Auch meine Camel zum Eigen­be­darf konn­ten das feh­lende Tran­sit­vi­sum lei­der nicht erset­zen.

Gut.

Ich meine nur, es könnte dir nicht scha­den, wenn du mal spa­zie­ren gehen wür­dest.

Nein, scha­den könnte es nicht.

Meine Frau kann es nur ganz schlecht aus­hal­ten, wenn sie alleine "im Haus was machen muß" – Wäsche, wischen, kochen. Als ob ich nie was im Haus machen würde – Wäsche, wischen, kochen. Wenn sie wischt, werde ich meis­tens dazu ange­hal­ten, die Asche aus dem Kamin zu holen oder mich wenigs­tens um das Mit­tag­essen zu küm­mern. Wenigs­tens. Und wann ich denn mal wie­der was schrei­ben würde in mei­nem Blog. Mir fällt eben nichts mehr ein. Demenz würde nicht unbe­dingt zur Krank­heit gehö­ren, meint sie. Bra­dy­phre­nie aber, erwi­dere ich. Das Den­ken geht noch, aber lang­sa­mer.

Also, was willst du denn nun?

Ich möchte hier sit­zen.

Du kannst einen ja wahn­sin­nig machen.

Ach.

Im nächs­ten Bahn­hof mußte ich aus­stei­gen. Und saß dann in Was-weiß-ich-wo jen­seits der rumä­ni­schen Grenze. Den Namen der Sta­tion habe ich ver­ges­sen, wenn ich ihn über­haupt mal kannte. Wahr­schein­lich Che­rep­kivtsi. Mußte auf den Zug zurück nach Suceava war­ten. Die rie­sige Bahn­hofs­halle war warm, fast zu warm. Ich mußte eine neue Fahr­karte kau­fen gegen schöne Dol­lars zum offi­zi­el­len Kurs. Bekam gegen mei­nen Zwan­zig-Dol­lar-Schein keine Rubel, son­dern nur ein paar rumä­ni­sche Mün­zen und eine spe­ckige zehn-Lei-Note zurück. Rubel als Wech­sel­geld würde ich ja ohne­hin nicht aus­füh­ren dür­fen. Lehr­geld. Bis zur Abfahrt mei­nes Zugs zurück hatte ich noch gut drei Stun­den zu war­ten.

Erst willst du spa­zie­ren gehen, dann wie­der nicht. Dann soll ich dei­nen Man­tel holen, dann wie­der nicht. Was denn nun?

Ich möchte hier sit­zen.

Und jetzt möch­test du plötz­lich da sit­zen.

Gar nicht plötz­lich. Ich wollte immer nur hier sit­zen.

Was willst du eigent­lich in Neu­see­land, wollte ich von mei­nem Erst­ge­bo­re­nen wis­sen. Da gibt's doch nichts außer Scha­fen, Hob­bits und Bun­gee-Sprin­ger. Mein Sohn wider­sprach ganz ent­schie­den. Die Natur! Ok, das sagen sie alle. Und vor allem, Neu­see­land wäre ja auf der Süd­halb­ku­gel. Wenn ihr es hier kalt und unan­ge­nehm habt, habe ich den schöns­ten Som­mer, warm und Sonne. Süd­halb­ku­gel stimmt. Auck­land im Nor­den ist vom Äqua­tor so weit ent­fernt wie zum Bei­spiel Tunis. Queens­town im Süden wie Lyon. Der Som­mer dort hat jedoch nichts mit dem Som­mer von Tunis oder Lyon gemein­sam. Kli­ma­mä­ßig. Eher Dub­lin oder Hel­sinki. Unter 25 Grad. Regen jeden zwei­ten Tag. Von wegen Som­mer. Ich glaube, mein Sohn wollte ein­fach nur ganz weit weg.

Sit­zen?

Ich möchte hier sit­zen und mich ent­span­nen.

Wenn du dich wirk­lich ent­span­nen woll­test, wür­dest du nicht dau­ernd auf mich ein­re­den.

Ich sag’ ja nichts mehr.

Die War­te­zeit störte mich nicht wei­ter, ich saß ja schön im War­men und hatte was zu lesen dabei. Anna Kare­nina. Und kam ins Gespräch mit gelan­ge­weil­tem uni­for­mier­tem Per­so­nal, soweit mein noch sehr kom­pak­ter rumä­ni­scher Wort­schatz das eben zuließ. Wir plau­der­ten über Rumä­nien, Ceaușescu, das erbärm­li­che Leben im rumä­ni­schen Sozia­lis­mus, meine Fami­lie in Deutsch­land. Und natür­lich über Tol­stoi.

Jetzt hät­test du doch mal Zeit, irgend­was zu tun, was dir Spaß macht.

Ja.

Liest du was?

Die Ath­mo­sphäre war nett. Ent­spannt. Lew Niko­la­je­witsch Tol­stoi gehört zu den größ­ten Schrift­stel­lern aller Zei­ten. Wir waren uns einig. Wahr­schein­lich war ich der erste Kapi­ta­list, der seit dem Krieg in die­sem Grenz­bahn­hof aus­ge­stie­gen war. Einer der Beam­ten schrieb mir die ers­ten Zei­len auf rus­sisch in mein Buch. Glaubte ich zumin­dest. Hat er mir zumin­dest als den Ori­gi­nal­text ver­kauft. Aber, wie gesagt, ich war ja blau­äu­gig. Das war dem Per­so­nal sicher auch auf­ge­fal­len. Will ohne Visum durch die Sowjet­union! Blau­äu­gi­ger geht ja wohl gar nicht!

Im Moment nicht.

Dann lies doch mal was.

Nach­her. Nach­her viel­leicht.

Hol dir doch die Illus­trier­ten.

Ich möchte erst noch etwas hier sit­zen.

Vor ein paar Tagen ist mei­ner Frau beim Stu­dium der prak­ti­schen Sei­ten des Rei­se­füh­rers sie­dendheiß auf­ge­fal­len, daß wir für Neu­see­land inter­na­tio­nale Füh­rer­scheine benö­ti­gen. Zu unse­ren deut­schen Füh­rer­schein­kar­ten stellt uns das nie­mand aus. Nicht mal das Kon­su­lat in Mar­seille kann hel­fen. Wenn Sie kei­nen Wohn­sitz in Deutsch­land mehr haben, müs­sen Sie Ihren deut­schen Füh­rer­schein gegen einen fran­zö­si­schen ein­tau­schen. Und sich dann dazu einen inter­na­tio­na­len holen. Geschätz­ter zeit­li­cher Auf­wand drei Monate. Alter­na­tiv dazu rei­chen auch auto­ri­sierte Über­set­zun­gen. In Neu­see­land auto­ri­sierte Über­set­zun­gen. Die man vor Ort wahr­schein­lich inner­halb von ein paar Stun­den haben könnte. Man würde Tou­ris­ten ja nicht mit läp­pi­schen For­ma­li­tä­ten ver­grau­len. Die haben ja nichts außer Scha­fen, Hob­bits und Tou­ris­ten. Meine Frau wollte es jedoch nicht dar­auf ankom­men las­sen.

Soll ich sie dir holen?

Nein, nein, vie­len Dank.

Will der Herr sich auch noch bedie­nen las­sen, was? Ich renne den gan­zen Tag hin und her. Du könn­test wohl ein­mal auf­ste­hen und dir die Illus­trier­ten holen.

Ich möchte jetzt nicht lesen.

Mal möch­test du lesen, mal nicht.

Der Ober­auf­se­he­rin im Bahn­hof, erkennt­lich an mehr Pelz an der Mütze, Ster­nen auf den Schul­tern und kli­schee­kon­for­mem Auf­se­her­auf­tre­ten, gefiel die offen­sicht­li­che Fra­ter­ni­sie­rung ihres Per­so­nals mit dem Ein­dring­ling aus kapi­ta­lis­ti­schem Aus­land nicht. Sie ver­bannte mich in eine immer noch große, aber zugige Vor­halle. Unbe­heizt. Kon­ti­nen­tal­win­ter. Meine rudi­men­tä­ren Rus­sisch­kennt­nisse sind hart erkauft.

Ich möchte ein­fach hier sit­zen.

Du kannst doch tun, was dir Spaß macht.

Das tue ich ja.

Dann quen­gel doch nicht dau­ernd so rum. Her­mann? … Bist du taub?

Nein, nein.

Все счастливые семьи похожи друг на друга, каждая несчастливая семья несчастлива по-своему – Nie­der mit der kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Rumä­ni­ens und dem ein­ge­bil­de­ten Schus­ter­lehr­ling an ihrer Spitze! Hätte auch sein kön­nen. 1983 gab es google noch nicht. In die­sem Fall hät­ten im Rah­men einer vor­stell­ba­ren Aus­ein­an­der­set­zung mit rumä­ni­schen Grenz­be­am­ten meine Kaf­fee­boh­nen von Aldi und die exo­ti­schen Ziga­ret­ten zum schla­gen­den Argu­ment wer­den kön­nen. Hat aber kei­ner kon­trol­liert. Der rumä­ni­sche Zoll­be­amte inter­es­sierte sich nicht für fremd­sprach­li­che Lite­ra­tur.

Du tust eben nicht, was dir Spaß macht. Statt­des­sen sitzt du da.

Ich sitze hier, weil es mir Spaß macht.

Sei doch nicht gleich so aggres­siv.

Ich bin doch nicht aggres­siv.

Warum schreist du mich dann so an?

ICH SCHREIE DICH NICHT AN!

32 (zwei­und­drei­ßig) Stun­den dau­ert die Reise nach Auck­land. Viel­leicht fällt mir unter­wegs was für den Blog ein.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Kopfgeld

Ein paar Tage mit den Kin­dern beim Ski­fah­ren. Zu dritt, die Mut­ter würde nach­kom­men. Um vier Uhr mor­gens im Auto, neun Uhr die ers­ten am Lift. Und dann das. Gleich am ers­ten Tag.

Nach fünf­zehn Minu­ten War­ten auf den Sohn hatte ich mich auf den Weg gemacht, pis­ten­auf­wärts. Gefühlt fünf­zehn Minu­ten, wahr­schein­lich waren es gerade mal fünf Minu­ten gewe­sen. Wenn man uner­war­tet war­ten muß, bläst sich jede Minute auf. Mein Sohn war mit dem Snow­board unter­wegs, noch etwas unge­übt und eher vor­sich­tig. Nor­ma­ler­weise aber war er höchs­tens eine halbe Minute hin­ter uns, sei­ner klei­nen Schwes­ter und mir. Nach fünf­zehn Minu­ten, wo bleibt er denn nur, hatte ich die Skib­in­dun­gen gelöst und war auf­ge­bro­chen, die Piste auf­wärts, zum Glück eher flach, keine zehn Pro­zent, blaue Piste. Offen­bar sicht­lich besorgt wir­kend und wer läuft schon Pis­ten auf­wärts, war ich ohne Unter­laß von mit­füh­len­den Pas­san­ten ange­spro­chen wor­den. Ja, da läge ein Kind auf der Piste, nicht mehr weit, drei­ßig Meter noch, aber les sécou­ris­tes, die Berg­ret­tung, würde sich schon um ihn küm­mern, sei bestimmt nicht so schlimm. Was, die Berg­ret­tung? So schlimm? Wenn einer mal in den Schnee fällt, kom­men die Sécou­ris­tes doch auch nicht gleich! Wahr­schein­lich was gebro­chen. Oder bewußt­los? Nein, wahr­schein­lich nichts gebro­chen. Wäre was gebro­chen, würde mein Sohn sich unter Schmer­zen win­den und wahr­schein­lich wei­nen, wür­den die Pas­san­ten nicht sagen, es sei bestimmt nicht so schlimm. Bewußt­los also. Schä­del-Hirn-Tauma wie Schumi vor drei Jah­ren! Sub­du­ra­les Häma­tom. Am Ende, nach ein paar Wochen Inten­sivst­me­di­zin, ist vom Hirn nicht mehr viel übrig. Oder pein­li­cher Sturz. Sein bes­ter Kum­pel spielt Fuß­ball im Ver­ein. Wenn der im Gar­ten beim Bol­zen mal über die eige­nen Füße stol­pert, insze­niert er das mit gro­ßer Thea­tra­lik. Fuß­bal­ler eben. Mein Sohn kann die Thea­tra­lik schon fast so gut wie sein Kum­pel. Sowas kann ich gut beschwich­ti­gen. Meist reicht igno­rie­ren. Noch blieb ein biß­chen Hoff­nung. Sicher hat­ten die Pas­san­ten recht. Nicht so schlimm. Trotz Berg­ret­tung. Wahr­schein­lich waren die zufäl­lig vor­bei­ge­kom­men. Wei­ter oben hat­ten wir einen Ski­fah­rer auf einer Trage gese­hen. Weit­räu­mig abge­rie­gelt von den roten Over­alls der Berg­ret­tung. Der Hub­schrau­ber über mir war bestimmt für den Unfall wei­ter oben unter­wegs.

Mein Sohn als Lie­gend­trans­port oder im Hub­schrau­ber wäre zu ärger­lich gewe­sen. Ein paar Stun­den zuvor, an der Kasse für die Pis­ten­kar­ten, hatte ich den Vor­schlag der Kas­sie­re­rin einer zusätz­li­chen Unfall­ver­si­che­rung noch zurück­ge­wie­sen. Ach was, wird schon gut­ge­hen. Geht seit vie­len Jah­ren ohne Ver­si­che­rung gut. Noch nie in all den Jah­ren waren wir auf die Hilfe der Berg­ret­tung ange­wie­sen. Über­mü­tig schien das jetzt. Geiz­krise. Schwa­ben­gene. Wegen ein paar Euro mehr pro Tag und Per­son. Als ob es dar­auf noch ange­kom­men wäre. Wenn sie mei­nen Sohn mit dem Hub­schrau­ber ins Tal bräch­ten, würde das ein Ver­mö­gen kos­ten. Hub­schrau­ber­zeit wird mei­nes Wis­sens nach Minu­ten berech­net.

Die drei­ßig Meter hatte ich schon längst geschafft, kein Sohn in Sicht, auch keine Ansamm­lung Schau­lus­ti­ger immer­hin. Nach einer wei­te­ren Links­kurve sah ich ihn. Noch gut fünf­zig Meter. Von wegen drei­ßig! Fran­zo­sen reden immer alles schön. Mein Sohn lag in Bauch­lage quer zur Fahrt­rich­tung auf der Piste. Bauch­lage! Warum das denn? Helm auf dem Kopf, die Arme dar­un­ter ver­schränkt. An den Füßen immer noch das Board. Ober­halb von ihm steckte ein Paar Ski gekreuzt im Schnee. Siche­rung der Unfall­stelle. Hier war ein Profi am Werk. Die Piste war ziem­lich schmal, mein Sohn mit­ten­drin. An sei­nem Kopf­ende kniete ein Mann im Schnee. Roter Ski­an­zug mit dem Emblem-Adler des Ski­ge­biets auf dem Rücken, Beschrif­tung "Sécou­riste", Weiß auf Rot, Berg­ret­tung. Er beugte sich über mei­nen Sohn und sprach mit ihm. Wah­schein­lich fragte er ein­fach ça va, t-as mal, t-as froid? Zum bestimmt hun­derts­ten Mal. Mein Sohn war etwas blass, das sah ich schon von wei­tem, hatte die Augen geschlos­sen. Würde doch hof­fent­lich nicht so schlimm sein wie es aus­sah. Was würde meine Frau sagen? Bauch­lage. Wenn einer was am Rücken hat, soll man seine Posi­tion nicht ver­än­dern. Mein Sohn reagiert auf die Anspra­che des Herrn im roten Ski­an­zug, gibt sich aller­dings wort­karg, genervt. Auch das sehe ich von wei­tem. Immer diese ewig glei­chen Fra­gen, ça-va-t-as-mal-t-as-froid. Wahr­schein­lich Schmer­zen irgendwo. Bestimmt am Fuß. Und kalt. Mir wäre kalt, wenn ich so im Schnee lie­gen müßte.

Bon­jour Mon­sieur. Der Herr im roten Over­all unter­rich­tete mich, daß das Team zur wei­te­ren Ver­sor­gung bereits unter­wegs wäre, jeden Moment ein­tref­fen sollte. Mit der coquille. Die Coquille ist wohl die Trage für den Schnee. Mit einem Ret­ter jeweils vorne und hin­ten. Akia auf deutsch. Mög­li­cher­weise eine Ver­let­zung der Wir­bel­säule, sagte er. Und wer ich über­haupt wäre? Je suis son père. Ich bin der Vater. Eigent­lich hätte er nach einem Aus­weis ver­lan­gen müs­sen. Bloß nicht anfas­sen, sagte er, gleich kommt das Team mit der coquille. Soweit durfte es nicht kom­men. Wenn man die ein­fach machen lässt, packen die mei­nen Sohn in ihre coquille, womög­lich in Bauch­lage, und ich kann ihn im Centre hos­pi­ta­lier von Bri­ançon wie­der ein­sam­meln. Das Centre hos­pi­ta­lier von Bri­ançon hat kei­nen guten Ruf. Kein Wun­der, wer will da schon arbei­ten, ist ja nichts los am Arsch der Welt. Wir hat­ten bei uns mal einen Kno­chen­chir­ur­gen, der von da kam. Marco. Ita­lie­ner. Zwei linke Hände. Nichts gegen Ita­lie­ner. Für Marco war jedes kaputte Hand­ge­lenk eine ganz kom­pli­zierte Frak­tur. Ganz kom­pli­ziert. Außer­dem kenne sol­che Betriebe des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens in Frank­reich. Ange­kom­men in Bri­ançon wür­den sie ihn, weil bis dahin wahr­schein­lich nichts mehr weh­tut, kein Krib­beln, keine Taub­heit, aus der Coquille holen und auf einen Stuhl im War­te­saal set­zen. Sich laut auf­re­gen über die inkom­pe­ten­ten, naja über­vor­sich­ti­gen, Kol­le­gen der Berg­ret­tung. Oder auf eine Prit­sche im Flur legen. Bes­ten­falls. Immer schön in Bauch­lage. Kann aber war­ten, ist ja kein lebens­be­droh­li­cher Not­fall. Atmet ja noch. Das War­ten in Betrie­ben des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens kann sich über Stun­den hin­zie­hen, kenne ich. Die Rönt­gen­ab­tei­lug wird dort genauso chro­nisch über­for­dert sein wie die in mei­nem Centre hos­pi­ta­lier ein biß­chen wei­ter im Süden. Wenn es sich irgend­wie ver­ant­wor­ten läßt, muß ich mei­nen Sohn aus den Fän­gen der Berg­ret­tung befreien. Würde mei­ner Frau nicht gefal­len, den Sohn im Kran­ken­haus von Bri­ançon besu­chen zu müs­sen. Kann man euch nicht ein­mal alleine las­sen? Zudem steht die Toch­ter immer noch unten am Lift.

Hallo Sohn, ça va, t-as mal, t-as froid? Mein Sohn war ansprech­bar. Jaha, es geht. Ja, Schmer­zen am Rücken und im Fuß. Und nein, mir ist nicht kalt. Ein Eis­bro­cken auf der Piste hatte ihn aus dem Gleich­ge­wicht gebracht. Rück­wärts auf die ver­eiste Piste geknallt. Konnte vor Schmer­zen zehn Sekun­den nicht mehr atmen. Sagte er. Zehn Sekun­den. Okay, wohl kein Ver­lust des Bewußt­seins. Ande­rer­seits, Schumi hat sich auch nicht sofort nach dem Sturz aus­ge­blen­det. Der Schmerz im Rücken klein loka­li­siert, kleine rote Stelle auf der Haut. Tut's da weh, wenn ich drü­cke? Nein. Mein Sohn ist durch­trai­nier­ter Sport­ler, der bricht sich so schnell nichts. Bei mir wäre das viel­leicht anders. Der linke Fuß tat weh. Die große Zehe. Kaum auf der Piste, tat ihm der linke Fuß schon weh. Fal­scher Schuh, wahr­schein­lich zu kurz. Schlecht gewählte Aus­rüs­tung kann einem beim Ski­fah­ren den gan­zen Tag ver­gäl­len. Kenn' ich.

Für mein Gefühl konnte man es ver­ant­wor­ten, ihn von sei­nem Board und aus der Bauch­lage zu befreien. Stop, stop, was machen Sie denn da. Der Berg­ret­ter war nicht ein­ver­stan­den. Je suis méde­cin, ça va aller. Ich bin Arzt, das wird schon gehen. Das reichte dem Berg­ret­ter. Eigent­lich etwas halb­her­zig, finde ich, sein Wider­stand, da könnte ja jeder kom­men, sagen, er wäre Arzt.

Kein Krib­beln, keine Taub­heit, etwas Schmerz. Im Fuß vor allem, am Rücken ging's. Etwas blaß der Junge. Wir werden's für heute gut sein las­sen mit dem Sport. Un cho­co­lat chaud zuhause ist auch schön. Auf eigene Ver­ant­wor­tung und gegen Unter­schrift durf­ten wir gehen. Der Sécou­riste kannte das offen­sicht­lich, hatte einen gan­zen Sta­pel ent­spre­chen­der Zet­tel im Post­kar­ten­for­mat dabei. Kei­ner will mit ihm blei­ben. Ich mußte ihn mit klam­men Hän­den aus­fül­len. Immer noch keine Aus­weis­kon­trolle. Wofür soll das also gut sein? Er gab sich zum Abschluß pam­pig. Ihre Schuld, wenn ihr Sohn am Ende im Roll­stuhl sitzt.

Wahr­schein­lich gibt es Kopf­geld für jedes Opfer von der Piste.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Hoffnung

Mitt­woch

12:50 Uhr Ren­dez­vous in der méde­cine nucléaire, Nukle­ar­me­di­zin. Fens­ter­lose War­te­ni­sche an der Kreu­zung von zwei Flu­ren. Neben einer Tür mit einem Papp­schild "Accueil" ist ein klei­ner Auto­mat zur Ver­gabe von War­te­num­mern. C016. Wieso C? Gibt es hier noch andere Türen? Über­haupt, ich sehe kei­nen ein­zi­gen Moni­tor für die Anzeige der aktu­ell auf­ge­ru­fe­nen Num­mer. Noch bevor ich jedoch in die Pati­en­ten­runde der War­te­ni­sche fra­gen kann, was ich nun mit mei­ner Num­mer anzu­fan­gen hätte, öff­net eine junge Frau die Tür. C'est vous la seize? Sind Sie die Sech­zehn? Die junge Frau trägt ein Namens­schild. Sabrina. Erfas­sung der Per­so­na­lien, Unter­schrift für die digi­tale Wei­ter­gabe mei­ner Resul­tate an den Neu­ro­lo­gen. Wie fort­schritt­lich! Ob ich meine Resul­tate nicht auch digi­tal haben dürfte? Das geht lei­der nicht, sagt Sabrina lächelnd, lei­der nicht ohne die Auto­ri­sa­tion des Dok­tor C., der mich gleich sehen würde. Das würde ich doch ver­ste­hen. Natür­lich ver­stehe ich das. Es geziemt sich für Pati­en­ten, Ver­ständ­nis auf­zu­brin­gen. War­ten im War­te­be­reich. Ein dicker älte­rer Herr wird halb ent­blößt auf einer Prit­sche vor­ge­scho­ben. Er trägt Win­deln und stöhnt vor Schmer­zen. Das tut so weh, oh, mein Kopf, das tut so weh! Sehr ermu­ti­gend. In der Radio­lo­gie hilft einem kei­ner. Die inter­es­sie­ren sich für ihre Bil­der und sonst nichts. Der bran­car­dier, der Prit­schen­schie­ber legt einen klei­nen Stop ein, wech­selt char­mante Worte im Accueil mit Sabrina und ihren Kol­le­gin­nen, wäh­rend der ältere Herr in Win­deln mit­ten auf der Kreu­zung stöhnt. Das tut so weh, oh, mein Kopf, das tut so weh! Der Prit­schen­schie­ber hat den Lehr­gang zum wür­di­gen Umgang mit Pati­en­ten offen­sicht­lich ver­säumt. Oder nichts ver­stan­den.

Mon­sieur Diäl?

13:27 Uhr der Dok­tor. Dok­tor C.. Mond­ge­sicht mit Voll­bart. Sieht aus wie direkt aus dem Stu­dium. Gibt mir eine Kap­sel, die ich schlu­cken soll mit etwas Was­ser. Car­bi­dopa 100 mg. Soll eine Stunde ein­wir­ken. Zur bes­se­ren Fixie­rung des radio­ak­ti­ven Dopa­mins. Nach der Injek­tion des radio­ak­ti­ven Dopa­mins werde ich wei­tere ein­ein­halb Stun­den war­ten müs­sen. Zur Fixie­rung der Iso­tope. Die eigent­li­che Unter­su­chung funk­tio­niert wie ein Kern­spin oder CT und dau­ert nur etwa 15 Minu­ten. Neben­wir­kun­gen? Nein, eigent­lich nicht. Die von mir dann aus­ge­hende Radio­ak­ti­vi­tät würde mei­nen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen nicht scha­den. Und mir selbst? Non, nor­ma­le­ment non.

War­te­ni­sche.

Mon­sieur Diehl?

Die Schwes­ter fünf Minu­ten spä­ter – immer­hin spricht sie mei­nen Namen rich­tig aus – gelei­tet mich in eine Art Labor. Hélène. Infu­sion in der Ellen­beuge. Die radio­ak­tive Injek­tion soll jetzt gleich erfol­gen, main­ten­ant, kün­digt sie an. Auch wenn main­ten­ant im medi­ter­ra­nen Ver­ständ­nis ganz all­ge­mein eine andere Bedeu­tungs­schwere hat als rechts des Rheins und nicht "Jetzt und Sofort" heißt, son­dern durch­aus Spiel­räume von einer Vier­tel- bis hal­ben Stunde bie­tet, steht main­ten­ant im Wider­spruch zu der Stunde War­te­zeit, von wel­cher der Dok­tor eben sprach. Ah, bon, sagt Hélène, hat der Dok­tor das gesagt? Geht weg. Und kommt nach einer guten hal­ben Stunde wie­der. Jetzt wäre es wohl soweit. Na dann. Plau­dert noch was. Über mei­nen Akzent und von wo ich denn käme. Stutt­gart? Ken­nen Sie das? Nein, aber ihr Mann kennt das, der war mit dem Mili­tär damals nicht weit von Stutt­gart. Viele Män­ner die­ser Genera­tion schei­nen mit dem Mili­tär damals in Kaser­nen nicht weit von Stutt­gart gewe­sen zu sein. Oder Tübin­gen. Sig­ma­rin­gen. Hélène war zwei Mal in Trè­ves, Trier. Die Aus­tausch­part­ne­rin, auch die Eltern, sprach so gut Fran­zö­sisch, daß sie nichts gelernt hätte. Über­haupt wären die Fran­zo­sen ja so schlecht in Spra­chen, stellt sie fest. Was aber auch an dem mise­ra­blen Unter­richt in der Schule läge. Der durch­schnitt­li­che Fran­zose koket­tiert gerne mit der man­geln­den Sprach­be­ga­bung sei­nes Volks und dem mise­ra­blen Unter­richt in der Schule. Dann ist genug geplau­dert. Es folgt die radio­ak­tive Injek­tion aus einer mons­trö­sen Maschine mit Stahl­zy­lin­dern. Main­ten­ant. Sieht aus wie ein Modell aus den frü­hen Anfän­gen der Nukle­ar­me­di­zin. Ein­schließ­lich der medi­ter­ra­nen Vier­tel­stunde für Jetzt kommt das am Ende schon hin mit der Stunde Ein­wirk­zeit.

Bis zuletzt hatte ich gehofft, es wäre viel­leicht doch alles Quatsch, Ein­bil­dung, ein Irr­tum. Die Hoff­nung gehört zu chro­ni­schen Krank­hei­ten wie der Hori­zont zur Wüste. Obwohl ich es natür­lich bes­ser weiß. exams_requests-php-1Eigent­lich. Hin­ter dem Hori­zont geht die Wüste genauso wei­ter. Ins­ge­samt zuwe­nig Anrei­che­rung des Iso­tops, sagt der Nukle­ar­me­di­zi­ner Dok­tor C. und wird es auch schrei­ben in sei­nem Befund, rechts noch weni­ger als links. Die Bil­der sind der Beweis. Soll die Sym­pto­ma­tik links erklä­ren. Die meis­ten Ner­ven­fa­sern aus dem Hirn kreu­zen irgendwo auf die Gegen­seite. Okay. Ich habe damit gerech­net. Trotz­dem, schade.

Frei­tag

Der Voll­stän­dig­keit hal­ber und weil mir eine Freun­din von ganz frü­her, aus der medi­zi­ni­schen Sand­kiste quasi, jetzt Neu­ro­lo­gin in Ber­lin, dazu gera­ten hatte, war ich bei der Echo­kar­dio­gra­phie. Sie hat sich mitt­ler­weile zwar mehr auf Psych­ia­trie spe­zia­li­siert, hatte aber auch lange mit Par­kin­son zu tun und Par­kin­son sei ja das täg­lich Brot des Neu­ro­lo­gen, sagt sie. Die Neu­ro­lo­gin sagt, Herz­pro­bleme soll­ten im Rah­men der Par­kin­son-Dia­gnos­tik aus­ge­schlos­sen wer­den, ins­be­son­dere ein Fora­men ovale. Das Fora­men ovale, latei­nisch für ova­les Loch, ist ein Loch zwi­schen zwei Herz­kam­mern, den Vor­hö­fen. Das Loch braucht man im Mut­ter­leib, solange die Lun­gen noch nicht in Betrieb sind. Nach der Geburt sollte sich das inner­halb von ein paar Tagen bis Wochen ver­schlie­ßen. Wenn nicht, kann das spä­ter zu Schlag­an­fäl­len füh­ren. Oder kann eben, wie es scheint, irgend­was mit Par­kin­son zu tun haben. Habe ich noch nie gehört vor­her, wozu aber sonst die Herz­dia­gnos­tik? Ich habe der Neu­ro­lo­gin in Ber­lin viel­leicht nicht rich­tig zuge­hört. Oder nicht rich­tig nach­ge­fragt. Pati­en­ten fra­gen immer viel zu wenig. Und wun­dern sich nach­her, daß sie nichts ver­stan­den haben.

Patrick B., im Centre hos­pi­ta­lier der Kar­dio­loge mei­nes Ver­trau­ens, macht die Echo­kar­dio­gra­phie. Patrick B. könnte auch Par­kin­son­pa­ti­ent sein. Kla­rer Fall von Hypo­mi­mie, Mas­ken­ge­sicht, cha­rak­te­ris­tisch für Par­kin­son. Ich kenne mich damit aus. Patrick lächelt nicht oft. Liegt viel­leicht an der knap­pen Aus­stat­tung sei­ner Abtei­lung. Momen­tan ver­fügt er zum Bei­spiel nicht über seine Sonde für trans­ö­so­pha­geale Echo­gra­phie. Ist kaputt gegan­gen, er war­tet seit drei Mona­ten auf Ersatz oder Repa­ra­tur. Wir sind eine öffent­li­che Struk­tur, viel­leicht gibt es gerade nicht genug Geld für die Repa­ra­tur. Trans­ö­so­pha­geal? Eine Sono­gra­phie-Sonde für die Spei­se­röhre, weil man so dem Her­zen und ins­be­son­dere dem even­tu­el­len Loch noch näher kommt als trans­t­hora­kal, durch die Brust­wand. Gilt wohl als die Methode der Wahl, um das Loch zu fin­den, wenn es da eines gibt. Patrick hat eine andere Methode, die er der trans­ö­so­pha­gea­len Echo­gra­phie ohne­hin zumin­dest für eben­bür­tig hält, wenn nicht gar über­le­gen. Viel­leicht macht er aus der Not eine Tugend. Die Schwes­ter, Pas­cale, inji­ziert mir Flüs­sig­keit mit win­zig klei­nen Luft­bläs­chen in die Vene. Kann man in der Echo­gra­phie sehr schön sehen, die Bläs­chen erschei­nen wie Schnee­ge­stö­ber. Nor­ma­ler­weise nur in den rech­ten Herz­kam­mern. Wenn da ein Loch ist, auch links. Vier Injek­tio­nen. Zwei Mal unauf­fäl­lig. Und dann doch ein Zwei­fel. Sind da nicht doch Bläs­chen links? Sind das viel­leicht Arte­fakte, Fehl­mes­sun­gen, frage ich. Auf unse­ren Nar­kose-Moni­to­ren gibt es stän­dig Fehl­mes­sun­gen. Blut­druck 143 zu 132 gibt es nicht, eigen­ar­ti­ges EKG, nein, trotz­dem kein Herz­still­stand, wahr­schein­lich hat sich eine Elek­trode gelöst. Patrick aber ist sich ganz sicher: Kla­res Nein. In der Kar­dio­lo­gie gibt es keine Arte­fakte. Ein ganz klei­nes Loch viel­leicht. Er wird sei­nen Freund, den Pro­fes­sor in Mar­seille fra­gen. Mein Neu­ro­loge hat auch einen Freund in Mar­seille. Das gehört irgend­wie dazu. Und wenn da ein Loch ist, auch ganz klein, wird das abge­dich­tet und mein Par­kin­son ver­schwin­det wie von selbst. Bestimmt.

Die Hoff­nung gehört zu chro­ni­schen Krank­hei­ten wie der Hori­zont zur Wüste. Irgendwo muß die Oase doch sein.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Dienstfähig

Novem­ber

8:40 Uhr. Ter­min bei der Betriebs­ärz­tin, Mar­gue­rite C.. Méde­cine du tra­vail. Die gibt sich immer so ein biß­chen belei­digt, wenn sie mich sieht, weil das eigent­lich jähr­lich sein sollte, der Ter­min. Alle Jahre wie­der schickt sie mir eine Ein­la­dung und zwei, drei Erin­ne­run­gen. Vom Prin­zip muß sie mir jedes Jahr meine Arbeist­fä­hig­keit beschei­ni­gen. In Deutsch­land dürfte ich ver­mut­lich ohne die Arbeits­fä­hig­keits­be­schei­ni­gung über­haupt nicht mehr arbei­ten. Der Arbeit­ge­ber würde sich womög­lich sogar straf­bar machen, mit Mit­ar­bei­tern, deren Arbeits­fä­hig­keits­be­schei­ni­gung län­ger als 42 Tage abge­lau­fen ist. In Deutsch­land. In den Jah­ren seit Februar 2000 ist es unser zwei­tes Mal. Vor fünf Jah­ren war ich schon mal in die­sem Büro. Natür­lich sehen wir uns immer wie­der auf irgend­wel­chen Flu­ren, ist ja eher über­sicht­lich hier im Centre hos­pi­ta­lier, ich weiß, wie sie heißt und wie das heißt, was sie macht, ohne genau zu wis­sen, was Méde­cine du tra­vail wirk­lich ist, wie bei sovie­len Jobs, die noch mehr im Hin­ter­grund statt­fin­den als mei­ner.

Mar­gue­rite C. hat ihre Büros mit einer Schwes­ter und einer Sekre­tä­rin in der ehe­ma­li­gen Direk­to­ren­villa direkt am Hub­schrau­ber­lan­de­platz. Ich käme bestimmt wegen der Grippe-Imp­fung. Schien ein biß­chen belei­digt, als ich dies ver­neinte. Zur Rou­ti­ne­un­ter­su­chung also, wäre ja schön, daß ich auch mal auf ihre Ein­la­dun­gen reagie­ren würde, ich wäre ja nicht wirk­lich dazu ver­pflich­tet, aber es schiene ihr doch sinn­voll. Das könn­ten wir dann natür­lich auch gleich erle­di­gen, fand ich, sprach ihr von mei­ner Ver­dachts­dia­gnose und fragte, was es wohl von ihrer Seite aus zu beach­ten gäbe. Außer Belei­digt kann Mar­gue­rite Betrof­fen. Sogar sprach­lose Betrof­fen­heit. Dabei bin ich noch gar nicht tot. Mein Arm ver­hält sich unauf­fäl­lig, meine Mimik fällt dem Nicht­spe­zia­lis­ten noch nicht als redu­ziert auf. Und den Spei­chel­fa­den aus dem lin­ken Mund­win­kel habe ich auch meis­tens unter Kon­trolle. Mar­gue­rite ver­zich­tete auf gezielte Fra­gen aus dem neu­ro­lo­gi­schen Reper­toire und die Prü­fung der Reflexe. Hat von Neu­rol­gie sicher auch nicht mehr Ahnung als ich. Maß hin­ge­gen den Blut­druck, leicht erhöht, bestimmt der Stress, sagte sie lächelnd, und horchte Herz und Lunge, soweit gut. Ob ich denn aus­rei­chend ver­si­chert wäre. Ver­si­chert? Na, inca­pa­cité, inva­li­dité und so. Ich? Arbeits­un­fä­hig? Schwer­be­hin­dert? Früh­rent­ner? Eigent­lich bin ich unver­wund­bar. Ich mache das alles nur für mei­nen Blog, pas­siert ja sonst nichts! Quelle idée! Keine Ver­si­che­rung? Sprach­lo­ses Erstau­nen. Wenn das mal nicht zu spät ist jetzt für Ver­si­che­run­gen, wer nimmt Sie denn noch? Im jet­zi­gen Zustand? Zum Vor­ge­hen bei einer even­tu­el­len vor­zei­ti­gen Beren­tung hat sie ein paar Boschü­ren, die könnte ich mir ja mal durch­se­hen, eilt ja noch nicht, auch im Inter­net gäbe es viel Infor­ma­tio­nen dazu.

Zum Abschluß wünscht sie, auf dem Lau­fen­den gehal­ten zu wer­den, tenez-moi au cou­rant, und stellt mir die Beschei­ni­gung aus, gelb: apte, dienst­fä­hig. Bön cou­rage. Sicher bes­ser so, was würde ich denn den gan­zen Tag machen, arbeits­un­fä­hig zuhause? Meine Frau hat da schon Vor­stel­lun­gen: Tan­zen viel­leicht oder Tai Chi. Gym­nas­tik sowieso. Bei you­tube – Stich­wort "par­kin­son übun­gen" – gibt es Anlei­tun­gen. Ganz oben auf der Liste, über 75.000 Auf­rufe, eine junge Frau in lila T-Shirt, dazu drei ange­graute Kugel­bäu­che in tür­kis, orange und grün. Fünf Fol­gen leichte Übun­gen zur Kör­per­kon­trolle auf grau­blauem Tep­pich­bo­den. Dann doch lie­ber apte.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr