Kopfgeld

Ein paar Tage mit den Kin­dern beim Ski­fah­ren. Zu dritt, die Mut­ter würde nach­kom­men. Um vier Uhr mor­gens im Auto, neun Uhr die ers­ten am Lift. Und dann das. Gleich am ers­ten Tag.

Nach fünf­zehn Minu­ten War­ten auf den Sohn hatte ich mich auf den Weg gemacht, pis­ten­auf­wärts. Gefühlt fünf­zehn Minu­ten, wahr­schein­lich waren es gerade mal fünf Minu­ten gewe­sen. Wenn man uner­war­tet war­ten muß, bläst sich jede Minute auf. Mein Sohn war mit dem Snow­board unter­wegs, noch etwas unge­übt und eher vor­sich­tig. Nor­ma­ler­weise aber war er höchs­tens eine halbe Minute hin­ter uns, sei­ner klei­nen Schwes­ter und mir. Nach fünf­zehn Minu­ten, wo bleibt er denn nur, hatte ich die Skib­in­dun­gen gelöst und war auf­ge­bro­chen, die Piste auf­wärts, zum Glück eher flach, keine zehn Pro­zent, blaue Piste. Offen­bar sicht­lich besorgt wir­kend und wer läuft schon Pis­ten auf­wärts, war ich ohne Unter­laß von mit­füh­len­den Pas­san­ten ange­spro­chen wor­den. Ja, da läge ein Kind auf der Piste, nicht mehr weit, drei­ßig Meter noch, aber les sécou­ris­tes, die Berg­ret­tung, würde sich schon um ihn küm­mern, sei bestimmt nicht so schlimm. Was, die Berg­ret­tung? So schlimm? Wenn einer mal in den Schnee fällt, kom­men die Sécou­ris­tes doch auch nicht gleich! Wahr­schein­lich was gebro­chen. Oder bewußt­los? Nein, wahr­schein­lich nichts gebro­chen. Wäre was gebro­chen, würde mein Sohn sich unter Schmer­zen win­den und wahr­schein­lich wei­nen, wür­den die Pas­san­ten nicht sagen, es sei bestimmt nicht so schlimm. Bewußt­los also. Schä­del-Hirn-Tauma wie Schumi vor drei Jah­ren! Sub­du­ra­les Häma­tom. Am Ende, nach ein paar Wochen Inten­sivst­me­di­zin, ist vom Hirn nicht mehr viel übrig. Oder pein­li­cher Sturz. Sein bes­ter Kum­pel spielt Fuß­ball im Ver­ein. Wenn der im Gar­ten beim Bol­zen mal über die eige­nen Füße stol­pert, insze­niert er das mit gro­ßer Thea­tra­lik. Fuß­bal­ler eben. Mein Sohn kann die Thea­tra­lik schon fast so gut wie sein Kum­pel. Sowas kann ich gut beschwich­ti­gen. Meist reicht igno­rie­ren. Noch blieb ein biß­chen Hoff­nung. Sicher hat­ten die Pas­san­ten recht. Nicht so schlimm. Trotz Berg­ret­tung. Wahr­schein­lich waren die zufäl­lig vor­bei­ge­kom­men. Wei­ter oben hat­ten wir einen Ski­fah­rer auf einer Trage gese­hen. Weit­räu­mig abge­rie­gelt von den roten Over­alls der Berg­ret­tung. Der Hub­schrau­ber über mir war bestimmt für den Unfall wei­ter oben unter­wegs.

Mein Sohn als Lie­gend­trans­port oder im Hub­schrau­ber wäre zu ärger­lich gewe­sen. Ein paar Stun­den zuvor, an der Kasse für die Pis­ten­kar­ten, hatte ich den Vor­schlag der Kas­sie­re­rin einer zusätz­li­chen Unfall­ver­si­che­rung noch zurück­ge­wie­sen. Ach was, wird schon gut­ge­hen. Geht seit vie­len Jah­ren ohne Ver­si­che­rung gut. Noch nie in all den Jah­ren waren wir auf die Hilfe der Berg­ret­tung ange­wie­sen. Über­mü­tig schien das jetzt. Geiz­krise. Schwa­ben­gene. Wegen ein paar Euro mehr pro Tag und Per­son. Als ob es dar­auf noch ange­kom­men wäre. Wenn sie mei­nen Sohn mit dem Hub­schrau­ber ins Tal bräch­ten, würde das ein Ver­mö­gen kos­ten. Hub­schrau­ber­zeit wird mei­nes Wis­sens nach Minu­ten berech­net.

Die drei­ßig Meter hatte ich schon längst geschafft, kein Sohn in Sicht, auch keine Ansamm­lung Schau­lus­ti­ger immer­hin. Nach einer wei­te­ren Links­kurve sah ich ihn. Noch gut fünf­zig Meter. Von wegen drei­ßig! Fran­zo­sen reden immer alles schön. Mein Sohn lag in Bauch­lage quer zur Fahrt­rich­tung auf der Piste. Bauch­lage! Warum das denn? Helm auf dem Kopf, die Arme dar­un­ter ver­schränkt. An den Füßen immer noch das Board. Ober­halb von ihm steckte ein Paar Ski gekreuzt im Schnee. Siche­rung der Unfall­stelle. Hier war ein Profi am Werk. Die Piste war ziem­lich schmal, mein Sohn mit­ten­drin. An sei­nem Kopf­ende kniete ein Mann im Schnee. Roter Ski­an­zug mit dem Emblem-Adler des Ski­ge­biets auf dem Rücken, Beschrif­tung "Sécou­riste", Weiß auf Rot, Berg­ret­tung. Er beugte sich über mei­nen Sohn und sprach mit ihm. Wah­schein­lich fragte er ein­fach ça va, t-as mal, t-as froid? Zum bestimmt hun­derts­ten Mal. Mein Sohn war etwas blass, das sah ich schon von wei­tem, hatte die Augen geschlos­sen. Würde doch hof­fent­lich nicht so schlimm sein wie es aus­sah. Was würde meine Frau sagen? Bauch­lage. Wenn einer was am Rücken hat, soll man seine Posi­tion nicht ver­än­dern. Mein Sohn reagiert auf die Anspra­che des Herrn im roten Ski­an­zug, gibt sich aller­dings wort­karg, genervt. Auch das sehe ich von wei­tem. Immer diese ewig glei­chen Fra­gen, ça-va-t-as-mal-t-as-froid. Wahr­schein­lich Schmer­zen irgendwo. Bestimmt am Fuß. Und kalt. Mir wäre kalt, wenn ich so im Schnee lie­gen müßte.

Bon­jour Mon­sieur. Der Herr im roten Over­all unter­rich­tete mich, daß das Team zur wei­te­ren Ver­sor­gung bereits unter­wegs wäre, jeden Moment ein­tref­fen sollte. Mit der coquille. Die Coquille ist wohl die Trage für den Schnee. Mit einem Ret­ter jeweils vorne und hin­ten. Akia auf deutsch. Mög­li­cher­weise eine Ver­let­zung der Wir­bel­säule, sagte er. Und wer ich über­haupt wäre? Je suis son père. Ich bin der Vater. Eigent­lich hätte er nach einem Aus­weis ver­lan­gen müs­sen. Bloß nicht anfas­sen, sagte er, gleich kommt das Team mit der coquille. Soweit durfte es nicht kom­men. Wenn man die ein­fach machen lässt, packen die mei­nen Sohn in ihre coquille, womög­lich in Bauch­lage, und ich kann ihn im Centre hos­pi­ta­lier von Bri­ançon wie­der ein­sam­meln. Das Centre hos­pi­ta­lier von Bri­ançon hat kei­nen guten Ruf. Kein Wun­der, wer will da schon arbei­ten, ist ja nichts los am Arsch der Welt. Wir hat­ten bei uns mal einen Kno­chen­chir­ur­gen, der von da kam. Marco. Ita­lie­ner. Zwei linke Hände. Nichts gegen Ita­lie­ner. Für Marco war jedes kaputte Hand­ge­lenk eine ganz kom­pli­zierte Frak­tur. Ganz kom­pli­ziert. Außer­dem kenne sol­che Betriebe des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens in Frank­reich. Ange­kom­men in Bri­ançon wür­den sie ihn, weil bis dahin wahr­schein­lich nichts mehr weh­tut, kein Krib­beln, keine Taub­heit, aus der Coquille holen und auf einen Stuhl im War­te­saal set­zen. Sich laut auf­re­gen über die inkom­pe­ten­ten, naja über­vor­sich­ti­gen, Kol­le­gen der Berg­ret­tung. Oder auf eine Prit­sche im Flur legen. Bes­ten­falls. Immer schön in Bauch­lage. Kann aber war­ten, ist ja kein lebens­be­droh­li­cher Not­fall. Atmet ja noch. Das War­ten in Betrie­ben des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens kann sich über Stun­den hin­zie­hen, kenne ich. Die Rönt­gen­ab­tei­lug wird dort genauso chro­nisch über­for­dert sein wie die in mei­nem Centre hos­pi­ta­lier ein biß­chen wei­ter im Süden. Wenn es sich irgend­wie ver­ant­wor­ten läßt, muß ich mei­nen Sohn aus den Fän­gen der Berg­ret­tung befreien. Würde mei­ner Frau nicht gefal­len, den Sohn im Kran­ken­haus von Bri­ançon besu­chen zu müs­sen. Kann man euch nicht ein­mal alleine las­sen? Zudem steht die Toch­ter immer noch unten am Lift.

Hallo Sohn, ça va, t-as mal, t-as froid? Mein Sohn war ansprech­bar. Jaha, es geht. Ja, Schmer­zen am Rücken und im Fuß. Und nein, mir ist nicht kalt. Ein Eis­bro­cken auf der Piste hatte ihn aus dem Gleich­ge­wicht gebracht. Rück­wärts auf die ver­eiste Piste geknallt. Konnte vor Schmer­zen zehn Sekun­den nicht mehr atmen. Sagte er. Zehn Sekun­den. Okay, wohl kein Ver­lust des Bewußt­seins. Ande­rer­seits, Schumi hat sich auch nicht sofort nach dem Sturz aus­ge­blen­det. Der Schmerz im Rücken klein loka­li­siert, kleine rote Stelle auf der Haut. Tut's da weh, wenn ich drü­cke? Nein. Mein Sohn ist durch­trai­nier­ter Sport­ler, der bricht sich so schnell nichts. Bei mir wäre das viel­leicht anders. Der linke Fuß tat weh. Die große Zehe. Kaum auf der Piste, tat ihm der linke Fuß schon weh. Fal­scher Schuh, wahr­schein­lich zu kurz. Schlecht gewählte Aus­rüs­tung kann einem beim Ski­fah­ren den gan­zen Tag ver­gäl­len. Kenn' ich.

Für mein Gefühl konnte man es ver­ant­wor­ten, ihn von sei­nem Board und aus der Bauch­lage zu befreien. Stop, stop, was machen Sie denn da. Der Berg­ret­ter war nicht ein­ver­stan­den. Je suis méde­cin, ça va aller. Ich bin Arzt, das wird schon gehen. Das reichte dem Berg­ret­ter. Eigent­lich etwas halb­her­zig, finde ich, sein Wider­stand, da könnte ja jeder kom­men, sagen, er wäre Arzt.

Kein Krib­beln, keine Taub­heit, etwas Schmerz. Im Fuß vor allem, am Rücken ging's. Etwas blaß der Junge. Wir werden's für heute gut sein las­sen mit dem Sport. Un cho­co­lat chaud zuhause ist auch schön. Auf eigene Ver­ant­wor­tung und gegen Unter­schrift durf­ten wir gehen. Der Sécou­riste kannte das offen­sicht­lich, hatte einen gan­zen Sta­pel ent­spre­chen­der Zet­tel im Post­kar­ten­for­mat dabei. Kei­ner will mit ihm blei­ben. Ich mußte ihn mit klam­men Hän­den aus­fül­len. Immer noch keine Aus­weis­kon­trolle. Wofür soll das also gut sein? Er gab sich zum Abschluß pam­pig. Ihre Schuld, wenn ihr Sohn am Ende im Roll­stuhl sitzt.

Wahr­schein­lich gibt es Kopf­geld für jedes Opfer von der Piste.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

9 Responses

  1. Uff, gut gegan­gen – ich fand meine Berg­ret­ter damals prima (wir hat­ten aus­nahms­weise eine Ver­si­che­rung, das muss­ten wir ja aus­nut­zen, so dass ich mir kurz vor Ende der Piste noch schnell die Bän­der riss) und den Alpen-Sport­arzt fand ich bes­ser als alle Doc­to­res hier "zu Hause" – any­way, ist ja gut aus­ge­gan­gen bei Euch.

    • Wenn man wirk­lich was hat, geris­sene Bän­der zum Bei­spiel, muss sich der Berg­ret­ter nicht wirk­lich anstren­gen, um viel­leicht sogar als char­mant durch­zu­ge­hen. Haupt­sa­che Hilfe und der Schmerz geht end­lich weg und jemand küm­mert sich, tout va bien se pas­ser. Ob Marco dann zwan­zig Minu­ten braucht oder vier Stun­den für einen kom­pli­zier­ten Bän­der­riß am Knie, kriegt man ja nicht mit unter Nar­kose.

  2. Sie sind aber nicht auf dem neu­es­ten Stand, Herr Diehl, Bän­der­riss wird gar nicht mehr ope­riert, der Sport-Doc sagte, nicht mal Olym­pia­ski­fah­rer wür­den heute noch ope­riert und ich solle ein­fach gleich lau­fen. Das habe ich dann ver­sucht und bin vor Schmerz gleich­mal in Ohn­macht gefal­len, ope­riert wurde ich trotz­dem nicht. Auch zuhause nicht.
    Schön ohne Pop-up! Danke! Aber dann Rechen­auf­ga­ben, wo ich doch dys­cal­cu­li­que bin … Römisch 7 und wie­viel ergibt ara­bisch 10?! Muss ich jetzt römi­sche oder ara­bi­sche Zif­fern ein­ge­ben?

    • Ich bin ja nicht Ortho­päde. Mir ist doch egal, was die ope­rie­ren wol­len. Ich mache die Nar­kose dazu. Wenn einer sagt, ich will das ope­rie­ren, betäube ich den Men­schen dazu. Meis­tens. Nur manch­mal sage ich stop, du spinnst wohl. Man­che Pati­en­ten wol­len gar nicht ope­riert wer­den. Man­che wür­den ihre Nar­kose nicht über­le­ben. Lie­ber ohne mich.
      Sieb­zehn. Oder 17. Oder XVII. Ara­bi­sche Zif­fern funk­tio­nie­ren immer. Ich habe das ergänzt, weil es so aus­sieht, als ob sich gerade alle rus­si­schen Deutsch­kurse auf mei­ner Seite abon­nie­ren woll­ten – @mail.ru. Kryp­ti­sche Namen. Ja, ich meine kryp­tisch und nicht etwa kyril­lisch. Hilft aber nicht wirk­lich. Gerade haben sich kasaev2018, kobka-2018 und g.strazhevskaya ange­mel­det. Viel­leicht dies­sel­ben, die auch die Wah­len bei den Amis durch­ein­an­der gebracht haben sol­len. Keine Ahnung, was sie nun bei mir wol­len. Lang­wei­len sich wahr­schein­lich.

  3. Ist doch toll, wenn man Sie in rus­si­schen Deutsch­kur­sen liest, so viele neue Leser auf einen Schlag, alle nachts um Drei – was haben Sie denn gegen die Kryp­ten, wenn das mal nicht ras­sis­tisch ist!
    Dies­mal muss beim Rech­nen auch noch gele­sen wer­den, das schaf­fen die Kryp­ten dann nicht, HA!
    ? und SIEBEN ist 13. Das nimmt schon alge­brai­sche Züge an. Wird von Kom­men­tar zu Kom­men­tar anspruchs­vol­ler. Beim nächs­ten Mal wol­len Sie eine Klam­mer aus­mul­ti­pli­ziert haben, was? So hält man sich auch die Leute vom Leib.

    • ۶ mal ? = ۳۶. Das schafft kaum einer.
      Als nächs­tes wer­den sich alle liby­schen Deutsch-für-Flücht­linge-Kurse bei mir anmel­den…

  4. Wer weiß, was Sie in ihrem angeb­lich rus­si­schen Satz (und in der Über­schrift) geschrie­ben haben, ein Code viel­leicht, und jetzt hält man Sie für einen Geheim­agen­ten. Bei mir kli­cken auch immer sehr eigen­ar­tige Flag­gen-Besu­cher auf den Ein­trag "c'est la guerre" –
    6 x ? = 24
    6 + x = VII

  5. Herr Diehl! Allein das Kli­cken auf Ihren "rus­si­schen" Arti­kel hat mir jetzt diverse "rus­si­sche Freunde" ein­ge­bracht, ich bin sicher, Sie (und Ihre Leser) wer­den über­wacht – man schlägt mir "hot Rus­sian Babes" vor. Man hält mich wohl für einen Mann. Alles wis­sen sie noch nicht von uns! Immer­hin.
    Heute ist die Ein­ser­reihe dran!
    2 x EINS = ?

    • Keine Hot Babes für mich. Die erle­digt mög­li­cher­weise der Spam­fil­ter auto­ma­tisch. Dafür Abbas­row und Far­mo­noi als neue User. Die lesen gerne nachts. 1:52 und 2:43 Uhr. MEZ. Da ist es auch in Now­go­rod noch lange dun­kel. Zah­len und Grund­re­chen­ar­ten beherr­schen sie offen­sicht­lich schon ganz gut.

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  1. Anke Kersting zu Le Faron