Kettensägenschmerz

16. März 2015 Von Alleinerzieher

Novem­ber.

Der Tag fängt nicht gut an. Ich werde vom Rap­peln mei­nes Zweit­ge­bo­re­nen im Trep­pen­haus wach. 6:42 Uhr. Statt 6:30 Uhr im Auto, 6:43 Uhr an der Zahn­bürste. 6:57 Uhr im Auto. Kein Kaf­fee. Viel zu spät eigent­lich für einen Mon­tag Mor­gen vor Mar­seille. 8:06 Uhr im War­te­zim­mer der Neu­ro­chir­ur­gie, La Timone, Uni­kli­nik von Mar­seille, fünfte Etage. Ein Bau wie im prä­ka­pi­ta­lis­ti­schen Ost­eu­ropa. Das Ambi­ente im War­te­zim­mer ent­spre­chend. Dazu rap­pel­voll. Für mich gibt es noch einen Steh­platz. Als ers­ter auf der Liste aber komme ich aber auch als ers­ter dran. Um 8:34 Uhr. Geht doch! Der Pro­fes­seur paßt zum prä­ka­pi­ta­lis­ti­schen Ambi­ente. Spe­cki­ger Kit­tel. Grunzt was. Sollte wohl Bon­jour hei­ßen. Stellt sich nicht vor. Schaut sich mei­nen Befund im Com­pu­ter an, die CD mit den Bil­dern. Sagt nichts. Ich solle mal mei­nen Pull­over aus­zie­hen. Da drü­ben. Hand­zei­chen. Set­zen auf die Liege. Auf dem Ein­mal­pa­pier der Liege hat schon mal jemand zumin­dest geses­sen. Er prüft die Reflexe, die grobe Kraft in den Armen, in den Fin­gern. Sei­ten­gleich, meine Kraft so gut wie die des Pro­fes­seur. Den Zau­ber mit Aus­zie­hen und Unter­su­chen spielt er ver­mut­lich nur, weil er weiß, daß ich Kol­lege bin. Anäs­the­sist. Das sind die, die gele­gent­lich sogar ein Ste­tho­skop ver­wen­den. Wie er selbst auch, ganz frü­her als Stu­dent. Im OP!

Keine Ope­ra­tion erst­mal, sagt der Pro­fes­seur schließ­lich. Nur, wenn ich dar­auf bestünde. Warum könnte man auf einer Ope­ra­tion bestehen? Wegen der Taub­heit zum Bei­spiel in den Fin­gern. Alter­na­tiv viel­leicht ein paar Infil­tra­tio­nen. Was er von Phy­sio­the­ra­pie hielte? Pfff, bringt nichts, sagt er. Okay, das ist ein Chir­urg. Der denkt mit dem Mes­ser. Arthro­dese oder Pro­these. Andere Alter­na­ti­ven geben die Struk­tu­ren die­ser Uni wohl nicht her.

Dan­ke­schön, au revoir. Viel­leicht.

Ein paar Wochen zuvor lag ich in einer Röhre, hatte Stöp­sel in den Ohren, trotz­dem ein Höl­len­lärm. Dazu und vor allem aber einen Höl­len­schmerz, ich würde sogar sagen "Ket­ten­sä­gen­schmerz", neun von zehn Punk­ten auf der Ana­logskala. In der Schul­ter, im Arm, bren­nen­des Krib­beln in den ers­ten drei Fin­gern links. Viel­leicht bin ich ja auch ein Weichei. Und dabei hatte ich mich davor rich­tig abge­dröhnt. Was die Schub­la­den der ortho­pä­di­schen Chir­ur­gie eben so her­ge­ben. Parazeta­mol mit Kodein, Tra­ma­dol und noch irgend­ein Schmerz­mit­tel. Hat nicht gereicht. Hätte ich mir doch nur einen Mor­phin-Patch geholt! 50 Mikro­gramm min­des­tens. Ket­ten­sä­gen­schmerz. Ich war nahe daran, den Panik-Knopf zu drü­cken. Wäre mir aber doch zu pein­lich gewe­sen. Das hätte sich in Win­des­eile im gan­zen Kran­ken­haus her­um­ge­spro­chen. Der Anäs­the­sist, der seine eige­nen Schmer­zen nicht unter Kon­trolle hat! Geht gar nicht. Wenn sie so nichts fin­den, ist da auch nichts, dachte ich mir. Und so lange wird das nicht mehr dau­ern. Fle­cken zäh­len am Röh­ren­him­mel half ein biß­chen. Wie eigent­lich kom­men da Fle­cken hin? Und mit den Zehen wackeln. Luft anhal­ten. Atmung kon­trol­lie­ren. Wenn man sich auf seine Atmung oder die Zehen kon­zen­triert, rückt der Schmerz ein biß­chen in den Hin­ter­grund. Dabei Hyper­ven­ti­la­tion ver­mei­den. "IRM" heißt das hier, MRT oder MRI im rest­li­chen Europa und sonstwo. Magnet­re­so­nanz-Tomo­gra­phie eben.

Wegen per­sis­tie­ren­der Schmer­zen im Schul­ter­be­reich, Schul­ter­blatt vor allem und Ober­arm. Aus­strah­lung bis in Dau­men, Zeige- und Mit­tel­fin­ger. Taub­heit im Zei­ge­fin­ger. Par­äs­the­sien. Und das seit April oder Mai. Hatte was Mit­tel­schwe­res geho­ben auf Über-Kopf-Niveau und ein Kna­cken gespürt, links oben irgendwo. Irgend­wie unter dem Schul­ter­blatt. Und seit­dem Schmer­zen. Mal mehr, mal weni­ger. Vor allem nach ein paar Kilo­me­tern auf dem Fahr­rad. Des­we­gen Ver­dacht auf Kar­pal­tun­nel­syn­drom. Ope­ra­tion Ende August unter Lokal­an­äs­the­sie. Der Blick ins eigene Hand­ge­lenk ist eine inter­es­sante Erfah­rung. Danach drei Wochen krank geschrie­ben. Auch schön. Aber keine Bes­se­rung. Auf Dauer ermü­dend, die­ser Schmerz. Immer.

IRM am Diens­tag im Novem­ber. End­lich.

Danach wollte ich nur noch nach Hause mit mei­ner Ket­ten­säge im Arm. Der Befund würde auch bis Don­ners­tag auf mich war­ten. Im Auto die Musik ganz laut. I can get no – satis­fac­tion. Hilft auch. Bes­ser als Atmen. Zuhause offen­bar immer noch ganz blaß. Was ist denn mit dir los?

Don­ners­tag

Vor­fall auf Höhe C7 der Befund. Links am Aus­tritt des Spi­nal­ner­ven. Könnte die Sym­pto­ma­tik erklä­ren. Ich konnte mir vor­stel­len, daß man das ope­rie­ren muß. Ich kann mir nicht vor­stel­len, das in Frank­reich ope­rie­ren zu las­sen. Zu gut kenne ich den Betrieb in öffent­li­chen Struk­tu­ren.

Ich brauchte eine Gegen­mei­nung aus Deutsch­land. Ich konnte mir vor­stel­len, mich even­tu­ell dort ope­rie­ren zu las­sen. Von ganz frü­her, aus mei­nem anäs­the­sio­lo­gi­schen Sand­kas­ten in West­fa­len sozu­sa­gen, habe ich einen Kum­pel. Inzwi­schen Fast-Chef der Anäs­the­sie in einem Kran­ken­haus des nord­öst­li­chen Ruhr­ge­biets. Er arbei­tet mit dem Neu­ro­chir­ur­gen zusam­men, der ihn selbst auch an der Wir­bel­säule ope­riert hat. Und ist zufrie­den mit dem Resul­tat. Pati­en­ten­zu­frie­den­heit ist die beste Wer­bung. Der Neu­ro­chir­urg sah sich meine Bil­der an. Tele­fon­sprech­stunde am Abend. Aus dem Auto. Jugend­li­che Stimme, ange­nehm. Sagt das Glei­che wie der Pro­fes­seur in Mar­seille. Etwas detail­lier­ter: Meine Band­schei­ben­schä­den wären ja schon älter. Da wäre ja auf fast jeder Ebene was. Man­ches knö­chern orga­ni­siert. Ob ich nicht auch Schwin­del­at­ta­cken hätte? Kopf­schmer­zen? Seh­stö­run­gen? Andere Aus­fälle? Fühlte mich mit einem Mal unglaub­lich alt. Ich bin quasi ein Fos­sil, leben­des Gen­ma­te­rial des letz­ten Dino­sau­ri­ers. Nein, nein, so meinte er das nicht, sagte die jugend­li­che Stimme. Wir­bel­säu­len­pro­bleme wären die Krank­heit des jun­gen Men­schen. Aha. Sehr char­mant.

Der Neu­ro­chir­urg im nord­öst­li­chen Ruhr­ge­biet emp­fahl abschlie­ßend einen Zyklus von fünf bis sechs Peri­ra­di­ku­lär-Infil­tra­tio­nen unter CT-Kon­trolle. Im Abstand von jeweils einer Woche. Dann Phy­sio­the­ra­pie. Ein ope­ra­ti­ver Ein­griff wäre eher sel­ten not­wen­dig. Würde er dann aber auch machen. Er hat schon Amis und Japa­ner ope­riert. Aus der gan­zen Welt kom­men sie zu ihm. Wow.

Also doch Nadeln im Hals? Viel­leicht doch erst­mal zuwar­ten.

Eine andere Kol­le­gin mit viel Erfah­rung aus einer Frank­fur­ter Schmerz­am­bu­lanz favo­ri­siert den dort prak­ti­zier­ten inter­dis­zi­pli­nä­ren The­ra­pie­an­satz. Che­mie und Psy­cho­the­ra­pie. Phy­sio­the­ra­pie und Ent­span­nungs­übun­gen. Mul­ti­modal nennt sie das. Wir sind in Frank­reich. Mul­ti­modal in die­sem Sinne gibt es hier nicht. Geht gar nicht. Da nüß­ten sich die betei­lig­ten The­ra­peu­ten ja unter­ein­an­der irgend­wie abspre­chen! Blei­ben regel­mä­ßige Ter­mine mit einer Phy­sio­the­ra­peu­tin.

Im Dezem­ber hatte ich einen Fri­seur­ter­min. Nach­mit­tags um zwei. War drin­gend nötig. Wenn Pfle­ger­kol­le­gen mir im OP unge­be­ten über­ste­hende Locken abschnei­den und, vor allem, wenn Pati­en­ten mich mit Madame anspre­chen, ist der Fri­seur­ter­min unab­wend­bar. Davor hatte ich eben noch was zu erle­di­gen. Kin­der und Senio­ren haben immer "eben noch" was zu erle­di­gen. Plötz­lich 13:57 Uhr. Ich hasse es, Men­schen war­ten zu las­sen. Auch die Coif­feuse. Plötz­lich mußte ich ren­nen. Knapp fünf­hun­dert Meter ins Dorf. Und war ganz über­rascht, daß mir der Arm nicht weh­tat. Keine Ket­ten­säge, kein bren­nen­des Krib­beln bis in die Fin­ger­spit­zen.

Time is non-toxic.

Ich würde mich nicht in den Hals ste­chen las­sen. Und ihn auch nicht auf­schnei­den las­sen, den Hals. Ich würde wei­ter zuwar­ten. Ent­schied ich. Und mich solange mas­sie­ren las­sen. Von Lyliane. Mit Y. Das ist meine Phy­sio­the­ra­peu­tin. Sie hat mei­ner Toch­ter, als die noch ganz klein war und ver­rotzt, ein paar Mal mas­sen­weise Schleim aus der Lunge gewrun­gen. War grau­en­haft anzu­se­hen. Hat aber gewirkt. Pati­en­ten­zu­frie­den­heit ist die beste Wer­bung. Die Spie­le­reien mit den Elek­tro­den am Rücken lie­ßen wir aus. Bringt nichts. Rücken­mas­sie­ren ist bes­ser. Sie behaup­tete, das wäre ja alles ganz atro­phiert. Hat mir nicht gefal­len. Atro­phierte Ver­stei­ne­rung. Dino­sau­rier. Nur noch Kno­chen. Zuviel davon. Inter­es­sant war außer Mas­sage Lylia­nes "Trak­tion" an der Hals­wir­bel­säule. Etwas schmerz­haft. Ziem­lich sogar. Ket­ten­sä­gen­ni­veau. In der Schul­ter, im Arm, bren­nen­des Krib­beln in den ers­ten drei Fin­gern links. Aber ich hatte das Gefühl, daß das hilft. Danach war es bes­ser.

Ich kann wie­der Rad­fah­ren. Schon län­ger inzwi­schen. Manch­mal, mehr pro­phy­lak­tisch, sehe ich noch die Phy­sio­the­ra­peu­tin für Mas­sage am Rücken und Trak­tion an der Hals­wir­bel­säule. Manch­mal signa­li­siert die Ket­ten­säge mit­tels eines dis­kre­ten Krib­belns in der Schul­ter, daß sie durch­aus noch prä­sent ist.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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