Deckarddip, GrokVock, Domeniksi und Alimabum! Ich freue mich, Euch zu meinen Abonnenten zählen zu dürfen. Wahrscheinlich seit Ihr Freunde von Abbasrow, Alipi und Kliffet. Und da sind noch viele mehr. Ich habe Leser in ganz Russland!
葉卡捷琳堡. Jekaterinburg. Habe ich schon mal gehört. Russland. Links unten. Noch vier Stunden und zweiunddreißig Minuten, 2392 Meilen. Wir fliegen auf einer Höhe von 34.000 Fuß. Die Geschwindigkeit liegt aktuell bei 529 mph. Vor ein paar Stunden war links unten Novosibirsk (新西伯利亚). Etwas weiter Omsk, auch links. Und Surgut. Nie gehört. Rechts. Die Außentemperatur liegt bei minus 67 Grad. Fahrenheit. In Celsius macht das minus 55. Wie auch immer ziemlich kalt. Der Flieger von Cathay Pacific wird um sechs Uhr morgens in London (伦敦) landen. Cathay Pacific ist eine Fluggesellschaft mit Sitz in Hongkong. Die Filme in der Rückenlehne des Vordermanns sind meist chinesisch untertitelt. Die Städte auf dem Flight-tracking-Bildschirm sind abwechselnd englisch und chinesisch beschriftet. 莫斯科 (Moskau) da unten im Dunkeln.
Bestimmt sitzt Ihr und die in letzter Zeit so zahlreichen Neu-Abonennten meines Blogs da unten irgendwo. Mit dem Tolstoi-Zitat habe ich vermutlich den einen oder anderen Deutschkurs der dortigen Volkshochschule angelockt. Oder einen Online-Kurs. Dabei seid Ihr, die Ihr Euch angemeldet habt, bestimmt nur die Spitze des Eisbergs. Die Klassenbesten. Die sich auch nicht von den Rechenaufgaben meines Captcha-Plugins verwirren lassen. XII – acht = ?. Roboter schaffen sowas nicht, denke ich. Ihr seid zweifellos – несомненно – echte Menschen. Mit echten Adressen bei mail.ru, kobka-2018@mail.ru und skorobogat.eva@mail.ru zum Beispiel. Dabei ist bekannt, daß sich die meisten Leser sich nicht die Mühe machen mit einer Anmeldung. Viele, die meisten eben, klicken das mal an, weil sie gerade nichts Besseres zu tun haben. Oder weil die Lehrerin ihres Deutschkurses das empfohlen hat. Fühlen sich aber nicht angesprochen. Verstehe ich. Loriot ist vielleicht sehr spezieller deutscher Humor. Ich kann auch nicht jeden Blog aushalten. Trotzdem, russische Volkshochschulschüler sind brave Schüler. Wenn Eure Lehrerin sagt, schaut Euch das mal an, schaut Ihr Euch das mal an. Über tausend in ein paar Tagen. Das schaffen andere Texte nicht.
Prag links und Berlin, Hamburg. Im Hintergrund, auch links natürlich, am Horizont, München und sogar Basel. Ob man wirklich alle diese Städte sehen könnte aus über zehn Kilometer Höhe? Groningen rechts. Niederlande. Bin ich vor vielen Jahren mal durch gekommen auf dem Weg an die Nordsee. Manche IP-Adressen verortet das WordPress-Plugin nach Holland. Das kann ich verstehen. Das sind die Leser, die auch im Kurzurlaub an der Nordsee nicht auf mich verzichten wollen. Außerdem sprechen alle Holländer fließend deutsch.
Rechts immer mehr deutsche Städte: Gütersloh, Koblenz (科布倫茨), Aachen. Gütersloh! 居特斯洛. Wieso gerade Gütersloh? Warum nicht Unna? Oder Moers? Egal. Die Ankunft in London in weniger als einer Stunde.
In Koblenz und Köln habe ich ein paar Abonnenten. Zeigt mir der Plugin. Haben für meine Ohren normale Namen. Bei gängigen Anbietern. "Ladyatott" gehört da schon zu den Exoten – nichts für ungut, Ladyatott. Abonnenten kriegen eine Mail, wenn ein neuer Beitrag auf meiner Seite erscheint. Ganz Russland wird nun von automatischen Mails überschwemmt. mail.ru muß sowas sein wie yahoo oder web.de. Ausschließlich kyrillische Zeichen allerdings. Weniger bunt. Man kann sich da ein Postfach holen, alleinerzieher war noch frei. Oben ein Suchfeld. найти – finden. Ein Tolstoi-Zitat im Text und schon wird man im Quelltext-Fundus des Russen-google registriert. Sichert mir ein Millionenpublikum. 居特斯洛 im Text bringt vermutlich den Zugang zu ehrgeizigen Schülern zahlloser Deutschkurse der Volksrepublik China.
Schöne Grüße nach Novosibirsk. Und Shizuishan.
Ich glaube, die Söhne wären gerne vom Skytower in Auckland gesprungen. 225 Dollar. Mir schien das zu teuer, das war am Anfang unserer Reise, da wußte ich noch nicht, daß in Neuseeland alles überall teuer ist. Die müssen ja fast alles importieren außer Schafen. Ein kleines Bier für elf Dollar! Geht's noch? Neuseeland-Dollar nur, macht trotzdem über sieben Euro. Das geht vielleicht in Saint Tropez am Hafen, aber in Neuseeland? Queenstreet in Auckland, dachte ich, muß wohl die Reputation wie das Café de Paris in Saint Tropez haben, die können sich das rausnehmen. Das kleine Bier kostet überall in NZ elf Dollar. Meine Söhne durften schließlich in Queensstown von der Brücke springen. Kawarua Bridge Bungy. 43 Meter. Kawarua Bridge Bungy ist die erste kommerzielle Bungy-Installation überhaupt. 195 Dollar. Pro Kandidat. Weitere 90 die professionelle Film- und Fotodokumentation dazu. Auch pro Kandidat. Da hatte der Schwabe in mir schon längst resigniert. In NZ ist fast nichts umsonst. Das T-Shirt, I did it. Im merkantilen Wert von 20 Dollar immerhin. Mehr als tolle Erlebnisse kann man für Geld nicht bekommen. Die hatten die Söhne. Das T-Shirt werden sie ohnehin nur nachts tragen. Wenn überhaupt.
Ich könnte meinem Schwiegervater, Bildhauer, die Produktion von Making-of-Filmen vorschlagen. Als Ergänzung des künstlerischen Angebots. Immer wieder bekomme ich Mails geschrieben, wie nett das Video mit meiner Tochter wäre. Der Schwiegervater fertigt ein Porträt in Lehm an als Vorlage für den Bronzeguß. Könnte man sehr gut als Ergänzung zum Führerschein vermarkten, den Bronzeguß. Führerschein alleine zur Volljährigkeit reicht ja vielleicht nicht. Der Bronzeguß eher fürs Elternhaus. Nur so als Idee. Das Making-of dazu fast so gut wie ein Fotobuch über die letzten achtzehn Jahre. Zeitraffer. Zwei Stunden in zwei Minuten. Zusätzlich könnte man ein paar launige Kommentare vom Künstler selbst einspielen. Muß aber nicht sein. Musik vielleicht nach Wahl im Hintergrund. Kleiner Schwenk auf anwesende Familienangehörige, Mütter bringen sich gerne mal selbst ins Bild. Geht ab vierhundertneunundneunzig Euro. Nur um mal eine Größenordnung anzudeuten. Mehr als tolle Erlebnisse kann man für Geld nicht bekommen. Noch schöner, wenn sie bildlich festgehalten sind. Dokumentation auch bei Facebook, warum nicht. Auf USB-Stick oder zum Download bereitgestellt auf der Homepage neunundvierzig Euro extra. Darauf kommt's dann auch nicht mehr an. Eine Führung durch die Porträt-Sammlung ist natürlich inbegriffen. Gratis. Irgendwas muß umsonst sein. Irgendwas umsonst macht den härtesten Schwaben weich. Abschließend Häppchen zu einem Gläschen Apéritif. Auch umsonst. Einer der Beteiligten müßte sich seine Verkehrstüchtigkeit bewahren. Der Führerscheinneuling zum Beispiel.
Nach entsprechender Terminabsprache würde ich als Bildtechniker dazu jeweils einfliegen.
Все счастливые семьи похожи друг на друга, каждая несчастливая семья несчастлива по-своему. Tolstoi. Im Original. Anna Karenina. Die ersten Zeilen. Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich. Ich kann nur diesen einen Satz russisch. Winter 1983. Auf dem Weg von Rumänien nach Polen. Nachts um eins mußte ich im ersten Bahnhof auf der sowjetischen Seite aussteigen. Hatte kein Visum. Man hatte mir gesagt, im betreffenden Zug bräuchte man kein Visum, weil der abgeschlossen einfach durch die Sowjetunion durchfahren würde bis Polen. Habe ich geglaubt. Auch glauben wollen. Ziemlich blauäugig.
Hermann?
Ich heiße nicht Hermann. Könnte aber sein. Meinen Eltern waren alle möglichen denkwürdigen Vornamen für ihre Söhne zuzutrauen. Egal. Hermann sitzt in seinem Sessel und macht nichts. Sitzt da und guckt. Denkt vielleicht was. Im Hintergrund wirkt die Gattin in der Küche, die Tür halb geschlossen, trippelt von rechts nach links.
Ja?
Was machst du da?
Wie meint sie das? Ich sitze da und mache nichts. Denke vielleicht was. Obwohl, denken? Ich habe Bilder vom letzten Ski-Urlaub vor Augen, Vorstellungen von der bevorstehenden Reise nach Neuseeland. Sowas. Ist das denken? Muß ich jetzt darüber reden?
Nichts.
Nichts? Wieso nichts?
Muß ich denn immer was machen? Die ganze Zeit mache ich irgendwas. Arbeiten, Hausaufgaben, Müllrausbringen. Einmal muß auch Pause sein dürfen. Sitzen ohne machen.
Ich mache nichts.
Gar nichts?
Nein.
In zehn Tagen fliegen wir nach Neuseeland. Wir treffen den Erstgeborenen und feiern die Hochzeit von Isabelles und Jéjés Sohn. Wir werden Vulkane sehen, in heißen Quellen am Strand baden, den einen oder anderen Originalschauplatz aus Herr der Ringe besichtigen. Dreitausend Kilometer fahren von Auckland im Norden nach Queenstown im Süden. Die Landschaft wird unglaublich schön sein. Sagen alle, die schon mal dort waren. Ziemlich viel Schafe, ein paar Spuren von Ureinwohnern. Kiwis. Wir werden Bilder davon machen. Mit Landschaft und Schafen. Meine Frau wird Selfies machen. Ich werde lächeln.
Überhaupt nichts?
Nein, ich sitze hier.
Du sitzt da?
Ja.
Aber irgendwas machst du doch?
Nein.
Denkst du irgendwas?
Ich hatte zur Sicherheit doch ein paar Stangen Zigaretten – Kent, die weißen von Kent – mitgenommen. Und ein paar Pfund Bohnenkaffee von Aldi. Gegen Kent, die weißen von Kent, und Kaffeebohnen konnte man im spätsozialistischen Rumänien alles bekommen, was es eigentlich nicht gab. Mädchen würden ihre Unschuld dafür hergeben, hieß es. Mit ein paar Nylonstrümpfen als Zugabe. Ich hatte nie Nylonstrümpfe dabei. Schon weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß die Mädchen, die mich interessierten, für ein paar Schachteln Zigaretten und Nylonstrümpfe zu haben wären. Und die Mädchen, die vielleicht für ein paar Schachteln Zigaretten und Nylonstrümpfe zu haben gewesen wären, interessierten mich nicht.
Nichts besonderes.
Es könnte ja nicht schaden, wenn du mal etwas spazieren gingest.
Nein, nein.
Letztes Jahr reisten unsere Musikerfreunde während der gleichen zwei Wochen Februarferien nach Indien. Zur Einstimmung und Vorbereitung hatten sie sich zu Weihnachten prächtige Bildbände geschenkt und ein paar Reiseführer. Leider wäre die Reise beinahe schon in Paris zu Ende gewesen. Ohne Visa darf man nicht in den Flieger. Sie hatten versäumt, ihre schönen Reiseführer auch zu lesen. Die Kapitel "Praktische Hinweise". Musiker eben. So etwas würde meiner Frau und mir nie passieren. Dachte ich damals noch. Mir vielleicht, nicht meiner Frau.
Ich bringe dir deinen Mantel.
Nein, danke.
Aber es ist zu kalt ohne Mantel.
Im Zug nach Posen bekam die erstbeste Uniform zur Sicherheit ein paar Schachteln Kent. Das war der rumänische Schaffner. Unnötige Verschwendung, dachte ich mir dann. Mein Rückfahr-Ticket erster Klasse Schlafwagen für umgerechnet sechzehn Mark war ohnehin in Ordnung. Zu spät. Mein Abteil war erstaunlich sauber. Und erstaunlich warm. Die Fenster konnte man nicht öffnen. Na also, dachte ich. Stimmt ja wohl mit dem abgeschlossenen Zug durch die Sowjetunion. Nicht wirklich viel später hielt der Zug im Nirgendwo. Ringsum nur Schnee im Mondschein. Wahrscheinlich war das die Grenze zur Ukraine.
Ich gehe ja nicht spazieren.
Aber eben wolltest du doch noch?
Nein, du wolltest, daß ich spazieren gehe.
Ich? Mir ist es doch völlig egal, ob du spazieren gehst.
Die nächsten Uniformen waren sowjetische. Wollten meine Papiere sehen. Ich hatte keine außer meinem Paß, dem Schlafwagenticket und einer selbstgefälschten rumänischen Ausreiseerlaubnis. Personalausweis, Führerschein? Wollten sie nicht. Meine Kaffeebohnen und meine Kent winkten sie routiniert ab. Überzeugte Patrioten. Ich mußte erkennen, daß meine exotische Zigarettenmarke nur in Rumänien Wunder bewirken konnte. Auch meine Camel zum Eigenbedarf konnten das fehlende Transitvisum leider nicht ersetzen.
Gut.
Ich meine nur, es könnte dir nicht schaden, wenn du mal spazieren gehen würdest.
Nein, schaden könnte es nicht.
Meine Frau kann es nur ganz schlecht aushalten, wenn sie alleine "im Haus was machen muß" – Wäsche, wischen, kochen. Als ob ich nie was im Haus machen würde – Wäsche, wischen, kochen. Wenn sie wischt, werde ich meistens dazu angehalten, die Asche aus dem Kamin zu holen oder mich wenigstens um das Mittagessen zu kümmern. Wenigstens. Und wann ich denn mal wieder was schreiben würde in meinem Blog. Mir fällt eben nichts mehr ein. Demenz würde nicht unbedingt zur Krankheit gehören, meint sie. Bradyphrenie aber, erwidere ich. Das Denken geht noch, aber langsamer.
Also, was willst du denn nun?
Ich möchte hier sitzen.
Du kannst einen ja wahnsinnig machen.
Ach.
Im nächsten Bahnhof mußte ich aussteigen. Und saß dann in Was-weiß-ich-wo jenseits der rumänischen Grenze. Den Namen der Station habe ich vergessen, wenn ich ihn überhaupt mal kannte. Wahrscheinlich Cherepkivtsi. Mußte auf den Zug zurück nach Suceava warten. Die riesige Bahnhofshalle war warm, fast zu warm. Ich mußte eine neue Fahrkarte kaufen gegen schöne Dollars zum offiziellen Kurs. Bekam gegen meinen Zwanzig-Dollar-Schein keine Rubel, sondern nur ein paar rumänische Münzen und eine speckige zehn-Lei-Note zurück. Rubel als Wechselgeld würde ich ja ohnehin nicht ausführen dürfen. Lehrgeld. Bis zur Abfahrt meines Zugs zurück hatte ich noch gut drei Stunden zu warten.
Erst willst du spazieren gehen, dann wieder nicht. Dann soll ich deinen Mantel holen, dann wieder nicht. Was denn nun?
Ich möchte hier sitzen.
Und jetzt möchtest du plötzlich da sitzen.
Gar nicht plötzlich. Ich wollte immer nur hier sitzen.
Was willst du eigentlich in Neuseeland, wollte ich von meinem Erstgeborenen wissen. Da gibt's doch nichts außer Schafen, Hobbits und Bungee-Springer. Mein Sohn widersprach ganz entschieden. Die Natur! Ok, das sagen sie alle. Und vor allem, Neuseeland wäre ja auf der Südhalbkugel. Wenn ihr es hier kalt und unangenehm habt, habe ich den schönsten Sommer, warm und Sonne. Südhalbkugel stimmt. Auckland im Norden ist vom Äquator so weit entfernt wie zum Beispiel Tunis. Queenstown im Süden wie Lyon. Der Sommer dort hat jedoch nichts mit dem Sommer von Tunis oder Lyon gemeinsam. Klimamäßig. Eher Dublin oder Helsinki. Unter 25 Grad. Regen jeden zweiten Tag. Von wegen Sommer. Ich glaube, mein Sohn wollte einfach nur ganz weit weg.
Sitzen?
Ich möchte hier sitzen und mich entspannen.
Wenn du dich wirklich entspannen wolltest, würdest du nicht dauernd auf mich einreden.
Ich sag’ ja nichts mehr.
Die Wartezeit störte mich nicht weiter, ich saß ja schön im Warmen und hatte was zu lesen dabei. Anna Karenina. Und kam ins Gespräch mit gelangeweiltem uniformiertem Personal, soweit mein noch sehr kompakter rumänischer Wortschatz das eben zuließ. Wir plauderten über Rumänien, Ceaușescu, das erbärmliche Leben im rumänischen Sozialismus, meine Familie in Deutschland. Und natürlich über Tolstoi.
Jetzt hättest du doch mal Zeit, irgendwas zu tun, was dir Spaß macht.
Ja.
Liest du was?
Die Athmosphäre war nett. Entspannt. Lew Nikolajewitsch Tolstoi gehört zu den größten Schriftstellern aller Zeiten. Wir waren uns einig. Wahrscheinlich war ich der erste Kapitalist, der seit dem Krieg in diesem Grenzbahnhof ausgestiegen war. Einer der Beamten schrieb mir die ersten Zeilen auf russisch in mein Buch. Glaubte ich zumindest. Hat er mir zumindest als den Originaltext verkauft. Aber, wie gesagt, ich war ja blauäugig. Das war dem Personal sicher auch aufgefallen. Will ohne Visum durch die Sowjetunion! Blauäugiger geht ja wohl gar nicht!
Im Moment nicht.
Dann lies doch mal was.
Nachher. Nachher vielleicht.
Hol dir doch die Illustrierten.
Ich möchte erst noch etwas hier sitzen.
Vor ein paar Tagen ist meiner Frau beim Studium der praktischen Seiten des Reiseführers siedendheiß aufgefallen, daß wir für Neuseeland internationale Führerscheine benötigen. Zu unseren deutschen Führerscheinkarten stellt uns das niemand aus. Nicht mal das Konsulat in Marseille kann helfen. Wenn Sie keinen Wohnsitz in Deutschland mehr haben, müssen Sie Ihren deutschen Führerschein gegen einen französischen eintauschen. Und sich dann dazu einen internationalen holen. Geschätzter zeitlicher Aufwand drei Monate. Alternativ dazu reichen auch autorisierte Übersetzungen. In Neuseeland autorisierte Übersetzungen. Die man vor Ort wahrscheinlich innerhalb von ein paar Stunden haben könnte. Man würde Touristen ja nicht mit läppischen Formalitäten vergraulen. Die haben ja nichts außer Schafen, Hobbits und Touristen. Meine Frau wollte es jedoch nicht darauf ankommen lassen.
Soll ich sie dir holen?
Nein, nein, vielen Dank.
Will der Herr sich auch noch bedienen lassen, was? Ich renne den ganzen Tag hin und her. Du könntest wohl einmal aufstehen und dir die Illustrierten holen.
Ich möchte jetzt nicht lesen.
Mal möchtest du lesen, mal nicht.
Der Oberaufseherin im Bahnhof, erkenntlich an mehr Pelz an der Mütze, Sternen auf den Schultern und klischeekonformem Aufseherauftreten, gefiel die offensichtliche Fraternisierung ihres Personals mit dem Eindringling aus kapitalistischem Ausland nicht. Sie verbannte mich in eine immer noch große, aber zugige Vorhalle. Unbeheizt. Kontinentalwinter. Meine rudimentären Russischkenntnisse sind hart erkauft.
Ich möchte einfach hier sitzen.
Du kannst doch tun, was dir Spaß macht.
Das tue ich ja.
Dann quengel doch nicht dauernd so rum. Hermann? … Bist du taub?
Nein, nein.
Все счастливые семьи похожи друг на друга, каждая несчастливая семья несчастлива по-своему – Nieder mit der kommunistischen Partei Rumäniens und dem eingebildeten Schusterlehrling an ihrer Spitze! Hätte auch sein können. 1983 gab es google noch nicht. In diesem Fall hätten im Rahmen einer vorstellbaren Auseinandersetzung mit rumänischen Grenzbeamten meine Kaffeebohnen von Aldi und die exotischen Zigaretten zum schlagenden Argument werden können. Hat aber keiner kontrolliert. Der rumänische Zollbeamte interessierte sich nicht für fremdsprachliche Literatur.
Du tust eben nicht, was dir Spaß macht. Stattdessen sitzt du da.
Ich sitze hier, weil es mir Spaß macht.
Sei doch nicht gleich so aggressiv.
Ich bin doch nicht aggressiv.
Warum schreist du mich dann so an?
ICHSCHREIEDICHNICHTAN!
32 (zweiunddreißig) Stunden dauert die Reise nach Auckland. Vielleicht fällt mir unterwegs was für den Blog ein.
Erwartungsdruck, tatsächlicher oder eingebildeter, weiß man das schon genau? Demnächst vermutlich Abendessen, die essen ja so früh in Deutschland. Bestimmt warten sie unten schon, dabei hätte ich gerne mal ein paar Minuten für mich gehabt. Wir sind in Ulm. Bei Verwandtschaft, sie aus Norddeutschland, er schon immer hier in der Gegend. Schwabe, technisch orientiert, nach einem Bier weniger Nerd als man von einem Ingenieur erwarten würde. Sie selbst, Verwandte meiner Frau, macht was mit Sozialpädagogik, glaube ich, so einer der Berufe, die ich mir in ihren Inhalten nicht so richtig vorstellen kann, Beratung, Gespräch, Reintegration von Drogenkranken. Sie hatten den zehnten Hochzeitstag letztes Wochenende, alles im grünen Bereich, manchmal beklagt sie sich diskret über den rudimentären Kommunikationsbedarf ihres Gatten. Schwabe eben. Ingenieur. Das redet nicht so viel. Ich mag die beiden, sonst wäre ich ja nicht hingefahren. Zwei Kinder, Töchter, beide jünger als meine, sieben und neun. Mein Sohn glatt außen vor, zu klein die Töchter. Diese ständig im Wettstreit um die Aufmerksamkeit meiner Tochter. Schrilles Zetern, diskretes Kneifen und Schubsen. Mädchen eben. Auf dem Programm das Ulmer Münster, alle 768 Stufen, Maultaschen mit Kartoffelsalat von gestern, Kartoffelsalat ist am nächsten Tag sowieso noch besser, nicht wahr? Blautopf in Blaubeuren. Ça veut dire quoi, blotopf, fragen die Kinder. Das Blau soll bei Sonneneinstrahlung am besten zur Geltung kommen. Wirklich schön. Ganz unwirkliches, fast karibisches Lagunenblau. Sechzehn Grad. Man darf nicht reinspringen. Kinder sitzen auf der Absperrung und sagen Ameisenscheiße. Ameisenscheiße verhindert Grimassen und sieht auf dem Foto aus wie Lächeln. Später liegt der Topf im Schatten. Und das Blau ist noch viel blauer. Ganz ohne Nachbearbeitung. Und viel weniger Besucher.
Le soleil s'éclipse derrière la… – Die Sonne verschwindet hinter… – hinter was? Zurück aus dem Urlaub. Seit zwei Wochen. Dienst. Kreißsaal, halb drei Uhr nachts. Beschriftete Erstgebärende. Der Urlaub schon längst Geschichte.
Ein Bier vielleicht schon mal? Ja, gerne, ich komme gleich. Voilà, der Erwartungsdruck. Später, nach Mitternacht, alkoholisiert. Signifikant. Leider. Eigentlich hätte ich mich gerne mit dem einen Bier schon mal zufrieden gegeben. Dann hatte die Gastgeberin ihren Rotwein auf den Tisch gebracht. "Ihren" Rotwein. Was von Rewe. Ich versteh' ja nix von Wein, sagt sie, ich geh' da mehr nach dem Etikett. Ganz okay eigentlich der Wein für Ich versteh' ja nix von Wein. Das Etikett auch okay. Kann ich da Nein sagen? Erwartungsdruck. Zum Wein gibt's Fotobücher. Die Hochzeit, die ersten drei Jahre des ersten Kinds, die ersten drei Jahre des zweiten Kinds. Zweihundert Bilder jeweils, unwiderstehliches Sonderangebot auch von Rewe, glaube ich, oder Aldi. Nett, so Fotobücher. Wenn man sie nicht jeden Tag ansehen muß. Manche Statisten mir nicht unbekannt, Familie im weiteren Sinn immerhin, manche davon waren auch schon bei mir auf der Terrasse, manche sogar im Pool, manche kenne ich vom Namen, meine Frau bei der Hochzeit, me myself im Album zu den ersten drei Jahren des zweiten Kinds. Als Statist. Im Hintergrund noch die Palmen. Auch Geschichte mittlerweile. Und zweihundert Bilder zu einer Huskytour des Gatten in Nordfinnland. Geburtstagsgeschenk zum Fünfzigsten. Huskies. Schneelandschaft. Mitkämpfer, Jacob, knapp sechzig, und vier junge Frauen unter dreißig. Jasmina zum Beispiel, erstaunlich hübsch. Erstaunlich hübsch für den Kontext. Huskytour, welche junge Frau unter dreißig zieht sich sowas schon rein? In Nordfinnland. Und Lisa, die Hundeführerin. Bilder vorwiegend von der Schneelandschaft und den Hunden. Nordlicht. Manchmal Lisa. Wenig Jasmina. Was aber hätte eine erstaunlich hübsche Jasmina schon in der Sammlung von Familienalben verloren? Begleittext vom Abenteurer. Morgens mußte die Hundescheiße aufgesammelt werden. Nicht so schlimm, sagt der Abenteurer. War ja gefroren bei minus 17 Grad. Hundescheiße ist gefroren nicht so schlimm. Nicht. So. Schlimm.
Zehn Tage Deutschland. Ruhrgebiet, Schwaben, Baden.
Nur einen einzigen Tag davon hatte ich vorwiegend mit den Kindern, abgesehen mal vom üblichen Sitzen abends mit den Gastgebern. Kletterwald in der Nähe von Freiburg. Klettern in Bäumen, auf Seilen, wackligen Brücken, Seilrutschen, Mutproben, Tarzansprünge von Baum zu Baum, in zehn bis zwanzig Metern Höhe. Alles natürlich gesichert, immer zwei Haken am Seil, in der Nähe von Freiburg sogar mit Helm. Fanden meine Kinder albern, was soll uns denn hier auf den Kopf fallen? Haben sie recht. In Deutschland ist eben alles noch ein bißchen sicherer. Zum Abschluß Baggersee unterhalb des Kaiserstuhls. Wunderbar türkisfarbenes Wasser, fast klar, vielleicht zwanzig Grad, eher frisch. Hier darf man reinspringen. Sogar die Tochter kann das, obwohl sie das gar nicht gerne macht, wenn sie den Grund nicht sieht, so klar und in gerade Bahnen aufgeteilt wie in der piscine.
Später wieder sitzen am Bier. Mit dem Gastgeber und der Gattin. Der dritten. Das wechselt immer wieder mal. Alle fünf bis zehn Jahre. Die aber wird bleiben, vermute ich. Das passt schon. Bio-Verkäuferin, erwachsene, autonome Kinder außer Haus. Und sie kann mit dem Chaos des Gastgebers leben. Mit dem dschungelartigen Gelände hinter dem Haus. An manchen Stellen findet man angeblich Melonen, auch Bohnen und Salat, sogar Tomaten soll es irgendwo geben. Mittendrin eine Sitzgruppe. Die Platten, Natursandstein, kreativ verlegt, ein bißchen uneben. Jeder Stuhl wackelt. Macht nix. Die Gattin kann auch damit leben, daß seine Wohnung aussieht wie eine Baustelle. Nichts ist wirklich fertig. Seit Jahren. Jahrzehnten. Nichts funktioniert wirklich. Wasserhähne mit dem warmen Wasser auf der falschen Seite. Offene Steckdosen. Und, sagt die Gattin, angeblich hat sie vorher was aufgeräumt, normalerweise lägen Kleidungsstücke überall herum, Hemden, Socken, Unterhosen, wo sie ihm eben gerade vom Leib fallen. Macht dich das nicht wahnsinnig? – Noi, i mach des gern. – Häh? Gerne? Das meinst du nicht wirklich. – Doch, doch, Wäsche mache ich gerne. Ich lasse jetzt mal den starken schwäbischen Akzent der Gattin weg. Waschen, aufhängen, bügeln, falten und am Ende ist alles schön ordentlich im Schrank gestapelt. Das schön ordentlich Gestapelte befriedigt sie. Der Weg dahin macht ihr Freude. Ich erinnerte mich, daß sie mir das schon mal erzählt hatte. Ihre Schränke sehen tatsächlich auch von innen so aus. Und die des Gastgebers auch, übrigens. Gebügelt, gestapelt. Obwohl die Wohnung sonst nicht so aussieht, als wäre da kurz vorher mal jemand durchgegangen. Baustellen eben, offene Steckdosen, teilverlegtes Parkett, Lichtschalter mitten im Durchgang auf dem Boden. Die Gattin, ursprünglich nur Mieterin im Haus, hat ihre eigene Wohnung oben behalten. Da ist alles tiptop. Mal abgesehen vom Wasserhahn im Bad mit dem Warm auf der falschen Seite. Möglicherweise kann sie den technischen und organischen Dschungel in den Räumlichkeiten ihres Gatten nur so, aus sicherem Rückzugsterrain, aushalten.
Von der Mitte des linken Schulterblatts in Tiefblaugrau und schleifiger Schrift im Bogen bis in den Nacken. Mehr zum rechten Ohr hin. Le soleil s'éclipse derrière la… – das letzte Wort verschwindet unter der Kopfhaube. Während der Anlage meines Periduralkatheters bin ich immer wieder versucht, einen Blick unter diese Kopfhaube zu werfen, um eben dieses letzte Wort, derrière was denn, zu erfahren. Bestimmt irgendwas wahnsinnig Philosophisches, joie vielleicht oder beauté. Ich hätte mich bücken müssen und das hätte irgendwie blöde ausgesehen in den Augen der Hebamme und des Mannes zur Gebärenden mir genau gegenüber. Mit sterilem Handschuh den Rand der Haube mal eben anheben geht natürlich auch gar nicht.
Abends fiel die Familie französischer Freunde meinerseits im Dschungel ein. Musiker im Orchester der Oper von Toulon. Künstler mit der Mentalität dazu. Auf eine Stunde hin oder her kommt es nun wirklich nicht an. Franzosen. Auf einen Tag? Es wurde dann wirklich spät, nach neun, die Gastgeberin mühsam kompensiert. Unverkennbar unterzuckert. Der Deutsche sitzt um sieben Uhr am Tisch. Und hat Hunger. Unsere französische Familie hingegen hatte bis zum Vorabend nicht verinnerlicht, daß unser Rendezvous für den Mittwoch Abend geplant war. Seit Wochen geplant. Immer wieder nachgefragt, bleibt es dabei? Immer wieder bestätigt. Mercredi soir? – Oui, mercredi soir. Und nicht etwa Donnerstag. Für jeudi war Europa-Park geplant. Kein Verhandlungsspielraum meinerseits, weil unser Rückflug ab Basel für den Abend gebucht war. Mittwoch Morgen befand sich die Familie zwar bereits auf dem Rückweg einer Norwegen-Reise, aber noch irgendwo nördlich von Kopenhagen. Kopenhagen! Sie hatten ursprünglich geplant, sogar noch einen Abstecher nach Leipzig zu machen. Leipzig! Mittwoch. In die Stadt von Bach. Johann Sebastian. Da wollten sie als Musiker was besichtigen. Und dann erst weiter nach Stuttgart. Europa-Park ist doch irgendwo in der Nähe von Stuttgart? Ja, schon, irgendwo in der Nähe. Für jemanden, der gut fünftausend Kilometer nach einem Taschenatlas in drei Wochen fährt, ist der Europa-Park nur einen Katzensprung von Stuttgart entfernt. So mußten sie, ganz überraschend, von jenseits von Kopenhagen bis fast Freiburg fahren. Dreizehn Stunden. Die Kinder hinten kennen das. Spannung dabei bis auf die letzten Kilometer. Haben sie die sms mit der Wegbeschreibung bekommen, nehmen sie jetzt die richtige Abfahrt? Hektische Telefonate ab halb neun, nein, nach der Ampel nicht links, sondern rechts. Die Gastgeberin am Rande eines Nervenzusammenbruchs, hungrig, i ess jetz. Käs'schbätzle. Machen sie immer, wenn ich zu Besuch bin. Und nur das. Kein Entrée, kein Salat, kein Nachtisch. Franzosen haben andere Vorstellungen von einem Dîner. Die Käs'schbätzle aber selbst geschabt. Sehr schön mit Zwiebeln. Nicht mal Kaffee. Wenn die Käs'schbätzle weg sind, auf'gesse, ist das Dîner zu Ende. Ein Bier vielleicht noch. Um zehn mußte ihnen der Gastgeber die Wohnung im Dorf zeigen. Zoig dene doch mol die Zimmer. Damit war der Abend offiziell zu Ende. I muss jetz' schlofa. Und weg. Un peu rustique fanden die Musiker das alles. Das Dorf, die Wohnung, den Garten. Das Dîner. Rustique. Stimmt schon. Welten prallen aufeinander.
Ein paar Tage früher ganz am Anfang meines Urlaubs, waren wir in Bochum. Das Ruhrgebiet zeigte sich von seiner schönsten Seite. Sonne und Grün. Es gibt einen Stausee, vielbesuchtes Naherholungsgebiet, die Wasserqualität reicht noch immer nicht zum Schwimmen. Früher, also Ende des zweiten Jahrtausends gab es zwei Wege um diesen Stausee, einen für die Fußgänger, einen für die Radfahrer. Richtig schön war damals, früh morgens, vor der Arbeit noch, also deutlich vor sieben, Frühnebel über dem Wasser, Hasen und Rehe auf den Wiesen, per Inliner um den See zu fahren. Knapp 10 km. Meist fast alleine. Das gehört zu den Dingen, die mir wirklich fehlen in Frankreich. Der Stausee, der Frühnebel, das Inlinen um den See. Später am Tag war man schon weniger alleine. Und entweder wurde man von Fußgängern blockiert oder von Radfahrern weggeklingelt. Eher aggressives Ambiente. Mittlerweile gibt es einen dritten Weg, fast durchgehend, für die Inliner. Dort waren wir mit Freunden und ihrem Sohn. Einmal um den See. Sehr anstrengend. Für mich. Den Kindern war keine Anstrengung anzumerken. Wahrscheinlich liegt es an mangelnder Übung meinerseits. Oder an meiner Ausrüstung, zwanzig Jahre alt. Was ist denn mit dir los, fragten die Freunde am Ende, so kaputt, wie du aussiehst. Ob ich nicht mal mein Herz untersuchen lassen wollte. Keine Lippenzyanose allerdings, mußten sie zugeben, kein Hinweis auf ein akutes, lebensbedrohliches Problem. Kaputt eben. Die Räder drehen sich nicht mehr richtig an meinen Schuhen. Rutscht ihr doch erstmal zehn Kilometer auf abgebrauchten Rädern! Zuhause wollten sie trotzdem meinen Blutdruck messen. Normal der Blutdruck. Der Freund, auch vom Fach, wollte mich abhören. Eine Klappeninsuffizienz vielleicht oder eine Stenose. Vielleicht eine Aortenisthmusstenose. Wieso ausgerechnet Aortenisthmusstenose? Ist das nicht was Angeborenes? Egal, Aortenisthmusstenose am eigenen Stethoskop hätte dem Kollegen besonders gut gefallen. Er hat aber nichts gehört, der Kollege. Keine Stenose, keine Insuffizienz. Weil da nichts ist. Ich habe nichts am Herzen. Kaputte Räder, das ist alles.
So eine Péridurale dauert vielleicht zehn Minuten vom Desinfizieren des Bereichs unten am Rücken bis zum Verband. Nach dem Verband kommt die Haube ab – Le soleil s'éclipse derrière la… lune. La lune! Enttäuschend, ich hatte mir was Komplexeres erhofft, was Überraschenderes, was Philosophisches, mehr jedenfalls als einfach nur den Mond. Aber was soll man schon erwarten bei einem Tattoo? Was kann man schon bei einem Publikum erwarten, welches sich mit Schriftzügen versieht? Die Sonne verschwindet also hinter dem Mond. Sonnenfinsternis auf dem Rücken einer Erstgebärenden. Voilà, was sonst?
Im Schwäbischen bei einem Bruder und seiner Frau. Unsere Eltern zum Grillen. Das reicht denen. In der Kürze liegt die Würze. Einmal Grillen mit dem Sohn aus Frankreich pro Jahr reicht. Die Schwägerin hat zur großen Freude der Tochter zwei Hunde. Einer davon hat es mit dem Frauchen dazu auf den vierten Platz der deutschen Meisterschaft gebracht in Agility und Obedience. Wenn der zuviel rennt mit meiner Tochter, kommt er ins Schnaufen und muß Pause machen. Fordert die Schwägerin. Bestimmt Aortenisthmusstenose. Und die Tochter wartet brav, bis der Hund nicht mehr hechelt. Dürfen wir jetzt wieder spielen?
Zwischendurch touristische Einlagen. Fernsehturm in Stuttgart, Aufzug sechs Sekunden mit angetrunkenem Fahrstuhlführer. Ohne Hund. Spaziergang im Schönbuch, mit Hund. Die Kinder kennen Wald, wie er wirklich ist, nur von Besuchen in Deutschland. Schwimmen in einem Baggersee im Neckartal. Zu spät allerdings für Frühnebel und Rehe. Des Bruders Elektro-Spielzeug beschleunigt zwar in drei Komma neun Sekunden von Null auf Hundert, der Navi aber braucht google zum Denken. Ohne Funknetz gerät der Wagen direkt in eine google-Wüste. Der Naturpark Schönbuch macht google-Wüste auf den Touchscreen. Weg der Baggersee. Zu spät am See zum Schwimmen unter Frühnebel. Zu trüb das Wasser außerdem und zuviele Schwäne und Enten sagt die Tochter. Trop chou, zu süß, zwar, die Canardeaux, die kleinen Entchen, aber zuviele. Und stellenweise schwimmt Scheiße in kleinen Inseln. Entenscheiße.
Ein paar Minuten nach dem Stechen die Erfolgskontrolle. Fast halb vier.Ça va mieux? Geht's besser? – Ça va. Es geht. – Est-ce que ça va mieux? Ist es denn besser jetzt? – Ça va. Es geht. – Was eigentlich ist unklar an meiner Frage? Geht's besser ist eine klassische Ja-Nein-Frage. Aus meiner Sicht. Oui oder Non, allenfalls noch un peu mieux, ein bißchen besser, wären zulässige Antworten mit einer Péridurale neu im Rücken und Wehen im Bauch. Ça va, es geht, passt da nicht wirklich als Antwort. Ich muß es anders versuchen: Est-ce que vous avez moins mal? Haben Sie weniger Schmerzen? – Beaucoup moins, merci, docteur! Viel weniger, danke, Herr Doktor! Na also, geht doch. Ich vermute fundamentale Mentalitätsunterschiede. Meine Genetik gereicht mir nicht zum Franzosen.
Mein Sohn, elf Jahre, hatte auf dem Weg zum Schwimmtraining im Bad am Hafen behauptet, die Charles-de-Gaulle sei in Toulon. Würde er gerne mal in echt und aus der Nähe sehen. Die Charles-de-Gaulle ist der französische Flugzeugträger. Die Rolex der französischen Streitkräfte, vielleicht der Stolz der Grande Nation überhaupt. Daß sie gerade angekommen wäre, hätte ihm eine Schwimmkameradin erzählt. Weil man sie, die Charles-de-Gaulle, von da, wo wir gerade waren, direkt am Wasser, nicht weit vom Fährhafen, nicht sehen konnte, war ich mir sicher, seine Schwimmkameradin würde sich irren. Das wäre ein so riesiges Schiff, sagte ich, das müßte man von hier aus sehen. Man konnte andere riesige graue Schiffe sehen, die Siroco zum Beispiel, ein Landungsschiff, nicht aber die Charles-de-Gaulle. Wenn man sie nicht sähe, behauptete ich, wäre sie wohl nicht da. Andererseits ist sie oft in Toulon. Immer wieder muß dieses Schiff über viele Monate gewartet werden, immer wieder ist irgendwas kaputt. Auf ihrer Jungfernfahrt schon verlor sie einen ihrer Propeller im Atlantik. Wie peinlich. Wie eine Rolex mit abgefallenem Minutenzeiger.
Ein paar Tage später war ich morgens mit dem Fahrrad am Faron. Einmal rüber über den Berg. Macht keinen Spaß. Sportliche Aktivität eben. Der Anstieg sonnenexponiert, die Abfahrt zwar im Schatten unter Pinien, aber mit sehr vielen Kurven. Und vielen kleinen Steinchen auf der Straße. Das beste am Faron ist neben der Aussicht die Dusche danach. Auf halber Höhe, auf einer dieser langen Steigungsstrecken vor der nächsten Haarnadelkurve, eine Dreiergruppe auf Mountainbikes. Ich holte langsam auf. Passiert mir nicht oft, daß ich andere Radfahrer überhole. Zwei Männer, leicht übergewichtig, eine Frau. Auch leicht übergewichtig. Die Frau vorwiegend in Signal-Orange. Die Herren in einer Kombination aus Grautönen mit Schwarz. Ausländische Touristen. Franzosen können nur in grellbunter Alberto-Contador-Verkleidung radfahren. Außerdem Sandalenträger. Radfahrer in Sandalen! Kein Wunder, daß ich aufholte. Kann man in Sandalen woanders als an Nord- oder Ostsee radfahren? Sandalen mit Socken zudem! Holländer? Deutsche? Und dann kann ich sie hören. Ja, Deutsche. Vom Dialekt her Schwaben. Schwaben in Birkenstocks und Socken. Deutsche der Vorzeige-Kategorie. Die Dame muß ein Foto machen von der schönsten Rade Europas. Natürlich.
Guck' amol, d'Scharldegoll isch au do.
Mein Sohn hatte doch recht! Die Charles-de-Gaulle war in Toulon. Viel kleiner als ich dachte. Und das nicht nur wegen der Perspektive von hier oben. Macht sich auch gegenüber den Kähnen von Corsica Ferries nicht wirklich riesig aus. Ein bißchen größer, aber nicht beeindruckend groß. Kein Wunder, daß man sie nicht sehen kann vom Fährhafen aus.
Zwei Kurven später die Bergstation der Seilbahn. Toulon gönnt sich den Luxus einer Seilbahn! Von einem Privatmann in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts gebaut (Einweihung 1959), schafft diese Seilbahn mit zwei Kabinen im Pendelverkehr maximal 150 Personen pro Stunde. Von ungefähr März bis ungefähr Mitte November zwischen 10 und 19 Uhr. Abgesehen von mehreren technischen Revisionen im Juni, Juli und September über jeweils zwei oder mehr Tage. Abgesehen auch von den Tagen mit Mistral. Zuviel Wind hält der Téléphérique auch nicht aus. Die Talstation liegt im Norden der Stadt, deutlich außerhalb des Zentrums, mit einem winzigen Parkplatz. Dem nicht-automobilen Touristen bleibt der Bus. Linie 40. Nettes Extra, diese Seilbahn, aber vielleicht nicht zeitgemäß. So wie der Flugzeugträger.
An der Bergstation, unweit des Weltkriegs-Memorials, wartet eine Frau. Eher schlank, in vorwiegend Signal-Orange. Das gleiche Kostüm wie die Dame mit Fotoapparat vorhin. Aber mit Rennrad und Sportschuhen. Und ohne Socken. Hat ganz offensichtlich ihre Reisegruppe verloren. Sie sieht so aus, als wollte sie mich anquatschen. Passt mir nicht so. Mein Computer zeigt eine Pulsfrequenz von 154 an. Ab 140 rede ich nicht mehr so gerne.
Hello, excuse me, please!
Muß ich jetzt anhalten zum Plaudern? Als Franzose dürfte ich einfach weiterfahren. Als Franzose kann man aus Prinzip – wenn überhaupt – nur mißmutig auf ausländische Phonetik reagieren. Ich kann einen Satz sagen:
Bonjour! Vos amis né vont pas tarder. Ils étaient en train de prendre quelques photos.
Und das akzentfrei. Warum nur, fragte ich mich, spricht sie mich nicht gleich auf Französisch an? Ein Kilometer weiter, auf Höhe des Zoos, die Erkenntnis: es muß der Helm sein. In meinem Fall der fehlende Helm. Zu glaubhafter Tour-de-France-Verkleidung gehört der Helm. Ohne Helm ist ein beinahe so zuverlässiges Ausländer-Merkmal wie Birkenstocks in der Öffentlichkeit.
Klar, das hast Du Dir schon gedacht, cher ami! Ich würde dann doch nicht kaufen. Es ist schade, daß es verkauft werden muß, weil ja doch gute Erinnerungen damit verbunden sind. Jugenderinnerungen. Und natürlich liegt es idyllisch im Dorf, am Bach, ein bißchen Wald sogar dabei. Man muß sich aber auch darum kümmern. Immer wieder hinfahren, nur um nach dem Rechten zu sehen. Mal lüften, Mäuse verjagen, Dachziegel gerade rücken. Oder sich auf Nachbarn verlassen. Oder eine Agentur. Oder beides, Nachbarn und Agentur. Und schon hat man wieder Aufwand. Rechnungen von der Agentur, Aufmerksamkeiten für die Nachbarn. Nicht zu vergessen die Steuern, den Wasseranschluß, Strom. Wer hat außerdem schon 40 k einfach mal so übrig? 40 k für eine Doppelhaushälfte mit deutlichem Renovierungsstau, gut fünf Stunden Auto von zuhause. Ich hätte zur Zeit nicht mal das Auto für fünf Stunden zuverlässige Fahrt. Wann hatte ich das schon mal? Ich mußte schon mal ein Auto in Burgund stehen lassen und zwei Wochen später halbwegs repariert abholen. Kupplung kaputt. Meine Kinder sind nachhaltig traumatisiert. Burgund? Regen? Nie wieder! Mein Drittgeborener, damals knapp drei, brachte es auf den Punkt: es hat geregnet und Papa hat zwei Autos kaputtgemacht. Das zweite war das Deines Vaters, Gott sei seiner Seele gnädig. Und es war auch nur die Batterie. Aber das nur nebenbei. Gehört nur peripher zum Thema. Obwohl, das mit dem Regen passt natürlich schon in den Kontext. Weit weg und immer regnet es. Keiner würde mich besuchen kommen, keiner würde was wollen von mir. Weil es eben weit weg ist und immer regnet. Keine Palmen, kein Pool, keine Glotze. Kein Service. Weit weg, gerne Regen. "Karpatenhütte" nenne ich das. Die Hütte in den Karpaten. Die Karpaten, weil es da so schön ist, so ursprünglich, so weit weg. Die abgeschiedene Hütte, in die ich mich wünsche, wenn das Auto schon wieder abgeschleppt werden muß, zuhause die Spülmaschine geduldig auf eine Reparatur wartet und die Tochter das Resultat von neun mal acht hartnäckig auf 68 oder 93 schätzt. Fehlt noch, daß wieder keiner am Pool aufgeräumt hat und der Postbote zu faul war, wegen des Pakets von Amazon zu klingeln. In der Poststelle abzuholen, aber nicht vor Montag 15 Uhr. Vielleicht noch der Anruf einer Hebamme um 2:53 Uhr. – Die Karpatenhütte jetzt, bitte sofort! Weit weg, am liebsten alleine! Lasst mich doch einfach mal alle in Ruhe, kümmert Euch selbst um Euren Kram! Das Auto, das Einmaleins, die Péridurale. Was brauche ich schon von Amazon? Ich verschwinde für ein paar Wochen in meine Hütte. Alleine. Könnte dann auch in Burgund sein, die Karpatenhütte. Egal. Hauptsache weg und keiner kommt. Oder nur, wer mich wirklich sehen will. Trotz Regen.
Vor ein paar Jahren stand ich vor meiner Karpatenhütte. Hat sich letztendlich eine Bekannte geholt. Glaube ich. Ich habe nichts mehr davon gehört. Vielleicht besser so. Auch mit deutlichem Renovierungsbedarf, die Hütte. In den Karpaten, an deren nordöstlichem Ende, jenseits von Transsylvanien, Sibirien gefühlt fast in Sichtweite. Ehemalige Schäferhütte. Sie liegt auf zwei Hektar Wald und Weideland mit Blick über Hügel, Wälder und Täler auf den Sonnenuntergang hinter den umgebenden Zweitausendern. Schön da. Eine Art primitiver Blockhütte, gemauerter Kamin, Holzschindeln auf dem Dachgebälk. Vor der Eingangstür ein Vordach mit schön gestapeltem Brennholz. Da säße ich dann immer mit grandiosem Blick über die Landschaft, auf den Sonnenuntergang. Das Brennholz würde ich den Sommer über aus meinem Wald gezerrt und selbst gestapelt haben. Hinter der Hütte ein kleiner Anbau. Die sanitären Anlagen beschränken sich auf ein Plumpsklo. Innen ein einziger Raum, vielleicht zwölf Quadratmeter, ein Fenster. Auf den Holzdielen ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett. Vor dem Kamin ein kleiner gußeiserner Ofenherd, den jemand vor Jahrzehnten hier herauf geschleppt haben muß. Kein Strom. Fließend Wasser im Bach nebenan.
Wer braucht das schon länger als vielleicht drei Tage?
Vor drei Jahren, weil sie mein ewiges Gerede von der Karpatenhütte nicht mehr hören wollte, hat mir meine Frau eine pädagogische Woche in Irland geschenkt. Pädagogik zur Karpatenhütte. Winziges Ferienhäuschen. Am Ende einer Sackgasse zwischen Schafweiden. Direkter Blick westwärts über den Atlantik. Angeblich das westlichste Ferienhaus Irlands. Kamin, Küche, Doppelbett. Isolierglas, Fußbodenheizung. Vom Anbieter angepriesen als Toplocation für ungestörte Flitterwochen. Für mich "Experiencing solitude" – die Karpatenhütte, wie sie wirklich ist. Allein mit Schafen und Blick über Landschaft mit Gewässer. Hohe Regenwahrscheinlichkeit. Karpatenhütte in Irland. Nur Isolierglas und Fußbodenheizung passten nicht wirklich dazu. Das Flitterwochen-Doppelbett eigentlich auch nicht. Gar nicht eigentlich.
Zum Glück hatte ich ein Auto.
Eine Woche später kannte ich große Abschnitte des Ring of Kerry zwischen Killarney und Portmagee. Spektakuläre Landschaft. Massiver Tourismus. Viele große Busse auf schmalen Straßen. Außerdem war ich auf Sceilg Mhichíl. Skellig Michael ist eine baumlose Felsinsel knapp zwölf Fischerbootkilometer vor Portmagee. Wenig Tourismus. Machen nur die, die das wirklich wollen. Und die Leute von Star Wars VII hatten da letzten Sommer für ein paar Szenen einen Auftritt. Ab dem sechsten Jahrhundert lebten dort zwölf Mönche und ihr Abt in zugigen Steinhütten. Trockenmauerbauweise. Keiner kam sie besuchen. Nur die Wikinger waren um 823 da. Wurden aber abgewiesen. War zudem absolut ohne Interesse. Sogar für Wikinger. Dreizehn knochendürre Kerle in Wollkutten. Ein paar Schafe vielleicht. Keine Frauen.
Perfektes Karpatenhütten-Ambiente. Unbezahlbar. Aber: wer braucht das schon länger als vielleicht drei Tage?