Kopfgeld

Ein paar Tage mit den Kin­dern beim Ski­fah­ren. Zu dritt, die Mut­ter würde nach­kom­men. Um vier Uhr mor­gens im Auto, neun Uhr die ers­ten am Lift. Und dann das. Gleich am ers­ten Tag.

Nach fünf­zehn Minu­ten War­ten auf den Sohn hatte ich mich auf den Weg gemacht, pis­ten­auf­wärts. Gefühlt fünf­zehn Minu­ten, wahr­schein­lich waren es gerade mal fünf Minu­ten gewe­sen. Wenn man uner­war­tet war­ten muß, bläst sich jede Minute auf. Mein Sohn war mit dem Snow­board unter­wegs, noch etwas unge­übt und eher vor­sich­tig. Nor­ma­ler­weise aber war er höchs­tens eine halbe Minute hin­ter uns, sei­ner klei­nen Schwes­ter und mir. Nach fünf­zehn Minu­ten, wo bleibt er denn nur, hatte ich die Skib­in­dun­gen gelöst und war auf­ge­bro­chen, die Piste auf­wärts, zum Glück eher flach, keine zehn Pro­zent, blaue Piste. Offen­bar sicht­lich besorgt wir­kend und wer läuft schon Pis­ten auf­wärts, war ich ohne Unter­laß von mit­füh­len­den Pas­san­ten ange­spro­chen wor­den. Ja, da läge ein Kind auf der Piste, nicht mehr weit, drei­ßig Meter noch, aber les sécou­ris­tes, die Berg­ret­tung, würde sich schon um ihn küm­mern, sei bestimmt nicht so schlimm. Was, die Berg­ret­tung? So schlimm? Wenn einer mal in den Schnee fällt, kom­men die Sécou­ris­tes doch auch nicht gleich! Wahr­schein­lich was gebro­chen. Oder bewußt­los? Nein, wahr­schein­lich nichts gebro­chen. Wäre was gebro­chen, würde mein Sohn sich unter Schmer­zen win­den und wahr­schein­lich wei­nen, wür­den die Pas­san­ten nicht sagen, es sei bestimmt nicht so schlimm. Bewußt­los also. Schä­del-Hirn-Tauma wie Schumi vor drei Jah­ren! Sub­du­ra­les Häma­tom. Am Ende, nach ein paar Wochen Inten­sivst­me­di­zin, ist vom Hirn nicht mehr viel übrig. Oder pein­li­cher Sturz. Sein bes­ter Kum­pel spielt Fuß­ball im Ver­ein. Wenn der im Gar­ten beim Bol­zen mal über die eige­nen Füße stol­pert, insze­niert er das mit gro­ßer Thea­tra­lik. Fuß­bal­ler eben. Mein Sohn kann die Thea­tra­lik schon fast so gut wie sein Kum­pel. Sowas kann ich gut beschwich­ti­gen. Meist reicht igno­rie­ren. Noch blieb ein biß­chen Hoff­nung. Sicher hat­ten die Pas­san­ten recht. Nicht so schlimm. Trotz Berg­ret­tung. Wahr­schein­lich waren die zufäl­lig vor­bei­ge­kom­men. Wei­ter oben hat­ten wir einen Ski­fah­rer auf einer Trage gese­hen. Weit­räu­mig abge­rie­gelt von den roten Over­alls der Berg­ret­tung. Der Hub­schrau­ber über mir war bestimmt für den Unfall wei­ter oben unter­wegs.

Mein Sohn als Lie­gend­trans­port oder im Hub­schrau­ber wäre zu ärger­lich gewe­sen. Ein paar Stun­den zuvor, an der Kasse für die Pis­ten­kar­ten, hatte ich den Vor­schlag der Kas­sie­re­rin einer zusätz­li­chen Unfall­ver­si­che­rung noch zurück­ge­wie­sen. Ach was, wird schon gut­ge­hen. Geht seit vie­len Jah­ren ohne Ver­si­che­rung gut. Noch nie in all den Jah­ren waren wir auf die Hilfe der Berg­ret­tung ange­wie­sen. Über­mü­tig schien das jetzt. Geiz­krise. Schwa­ben­gene. Wegen ein paar Euro mehr pro Tag und Per­son. Als ob es dar­auf noch ange­kom­men wäre. Wenn sie mei­nen Sohn mit dem Hub­schrau­ber ins Tal bräch­ten, würde das ein Ver­mö­gen kos­ten. Hub­schrau­ber­zeit wird mei­nes Wis­sens nach Minu­ten berech­net.

Die drei­ßig Meter hatte ich schon längst geschafft, kein Sohn in Sicht, auch keine Ansamm­lung Schau­lus­ti­ger immer­hin. Nach einer wei­te­ren Links­kurve sah ich ihn. Noch gut fünf­zig Meter. Von wegen drei­ßig! Fran­zo­sen reden immer alles schön. Mein Sohn lag in Bauch­lage quer zur Fahrt­rich­tung auf der Piste. Bauch­lage! Warum das denn? Helm auf dem Kopf, die Arme dar­un­ter ver­schränkt. An den Füßen immer noch das Board. Ober­halb von ihm steckte ein Paar Ski gekreuzt im Schnee. Siche­rung der Unfall­stelle. Hier war ein Profi am Werk. Die Piste war ziem­lich schmal, mein Sohn mit­ten­drin. An sei­nem Kopf­ende kniete ein Mann im Schnee. Roter Ski­an­zug mit dem Emblem-Adler des Ski­ge­biets auf dem Rücken, Beschrif­tung "Sécou­riste", Weiß auf Rot, Berg­ret­tung. Er beugte sich über mei­nen Sohn und sprach mit ihm. Wah­schein­lich fragte er ein­fach ça va, t-as mal, t-as froid? Zum bestimmt hun­derts­ten Mal. Mein Sohn war etwas blass, das sah ich schon von wei­tem, hatte die Augen geschlos­sen. Würde doch hof­fent­lich nicht so schlimm sein wie es aus­sah. Was würde meine Frau sagen? Bauch­lage. Wenn einer was am Rücken hat, soll man seine Posi­tion nicht ver­än­dern. Mein Sohn reagiert auf die Anspra­che des Herrn im roten Ski­an­zug, gibt sich aller­dings wort­karg, genervt. Auch das sehe ich von wei­tem. Immer diese ewig glei­chen Fra­gen, ça-va-t-as-mal-t-as-froid. Wahr­schein­lich Schmer­zen irgendwo. Bestimmt am Fuß. Und kalt. Mir wäre kalt, wenn ich so im Schnee lie­gen müßte.

Bon­jour Mon­sieur. Der Herr im roten Over­all unter­rich­tete mich, daß das Team zur wei­te­ren Ver­sor­gung bereits unter­wegs wäre, jeden Moment ein­tref­fen sollte. Mit der coquille. Die Coquille ist wohl die Trage für den Schnee. Mit einem Ret­ter jeweils vorne und hin­ten. Akia auf deutsch. Mög­li­cher­weise eine Ver­let­zung der Wir­bel­säule, sagte er. Und wer ich über­haupt wäre? Je suis son père. Ich bin der Vater. Eigent­lich hätte er nach einem Aus­weis ver­lan­gen müs­sen. Bloß nicht anfas­sen, sagte er, gleich kommt das Team mit der coquille. Soweit durfte es nicht kom­men. Wenn man die ein­fach machen lässt, packen die mei­nen Sohn in ihre coquille, womög­lich in Bauch­lage, und ich kann ihn im Centre hos­pi­ta­lier von Bri­ançon wie­der ein­sam­meln. Das Centre hos­pi­ta­lier von Bri­ançon hat kei­nen guten Ruf. Kein Wun­der, wer will da schon arbei­ten, ist ja nichts los am Arsch der Welt. Wir hat­ten bei uns mal einen Kno­chen­chir­ur­gen, der von da kam. Marco. Ita­lie­ner. Zwei linke Hände. Nichts gegen Ita­lie­ner. Für Marco war jedes kaputte Hand­ge­lenk eine ganz kom­pli­zierte Frak­tur. Ganz kom­pli­ziert. Außer­dem kenne sol­che Betriebe des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens in Frank­reich. Ange­kom­men in Bri­ançon wür­den sie ihn, weil bis dahin wahr­schein­lich nichts mehr weh­tut, kein Krib­beln, keine Taub­heit, aus der Coquille holen und auf einen Stuhl im War­te­saal set­zen. Sich laut auf­re­gen über die inkom­pe­ten­ten, naja über­vor­sich­ti­gen, Kol­le­gen der Berg­ret­tung. Oder auf eine Prit­sche im Flur legen. Bes­ten­falls. Immer schön in Bauch­lage. Kann aber war­ten, ist ja kein lebens­be­droh­li­cher Not­fall. Atmet ja noch. Das War­ten in Betrie­ben des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens kann sich über Stun­den hin­zie­hen, kenne ich. Die Rönt­gen­ab­tei­lug wird dort genauso chro­nisch über­for­dert sein wie die in mei­nem Centre hos­pi­ta­lier ein biß­chen wei­ter im Süden. Wenn es sich irgend­wie ver­ant­wor­ten läßt, muß ich mei­nen Sohn aus den Fän­gen der Berg­ret­tung befreien. Würde mei­ner Frau nicht gefal­len, den Sohn im Kran­ken­haus von Bri­ançon besu­chen zu müs­sen. Kann man euch nicht ein­mal alleine las­sen? Zudem steht die Toch­ter immer noch unten am Lift.

Hallo Sohn, ça va, t-as mal, t-as froid? Mein Sohn war ansprech­bar. Jaha, es geht. Ja, Schmer­zen am Rücken und im Fuß. Und nein, mir ist nicht kalt. Ein Eis­bro­cken auf der Piste hatte ihn aus dem Gleich­ge­wicht gebracht. Rück­wärts auf die ver­eiste Piste geknallt. Konnte vor Schmer­zen zehn Sekun­den nicht mehr atmen. Sagte er. Zehn Sekun­den. Okay, wohl kein Ver­lust des Bewußt­seins. Ande­rer­seits, Schumi hat sich auch nicht sofort nach dem Sturz aus­ge­blen­det. Der Schmerz im Rücken klein loka­li­siert, kleine rote Stelle auf der Haut. Tut's da weh, wenn ich drü­cke? Nein. Mein Sohn ist durch­trai­nier­ter Sport­ler, der bricht sich so schnell nichts. Bei mir wäre das viel­leicht anders. Der linke Fuß tat weh. Die große Zehe. Kaum auf der Piste, tat ihm der linke Fuß schon weh. Fal­scher Schuh, wahr­schein­lich zu kurz. Schlecht gewählte Aus­rüs­tung kann einem beim Ski­fah­ren den gan­zen Tag ver­gäl­len. Kenn' ich.

Für mein Gefühl konnte man es ver­ant­wor­ten, ihn von sei­nem Board und aus der Bauch­lage zu befreien. Stop, stop, was machen Sie denn da. Der Berg­ret­ter war nicht ein­ver­stan­den. Je suis méde­cin, ça va aller. Ich bin Arzt, das wird schon gehen. Das reichte dem Berg­ret­ter. Eigent­lich etwas halb­her­zig, finde ich, sein Wider­stand, da könnte ja jeder kom­men, sagen, er wäre Arzt.

Kein Krib­beln, keine Taub­heit, etwas Schmerz. Im Fuß vor allem, am Rücken ging's. Etwas blaß der Junge. Wir werden's für heute gut sein las­sen mit dem Sport. Un cho­co­lat chaud zuhause ist auch schön. Auf eigene Ver­ant­wor­tung und gegen Unter­schrift durf­ten wir gehen. Der Sécou­riste kannte das offen­sicht­lich, hatte einen gan­zen Sta­pel ent­spre­chen­der Zet­tel im Post­kar­ten­for­mat dabei. Kei­ner will mit ihm blei­ben. Ich mußte ihn mit klam­men Hän­den aus­fül­len. Immer noch keine Aus­weis­kon­trolle. Wofür soll das also gut sein? Er gab sich zum Abschluß pam­pig. Ihre Schuld, wenn ihr Sohn am Ende im Roll­stuhl sitzt.

Wahr­schein­lich gibt es Kopf­geld für jedes Opfer von der Piste.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Hoffnung

Mitt­woch

12:50 Uhr Ren­dez­vous in der méde­cine nucléaire, Nukle­ar­me­di­zin. Fens­ter­lose War­te­ni­sche an der Kreu­zung von zwei Flu­ren. Neben einer Tür mit einem Papp­schild "Accueil" ist ein klei­ner Auto­mat zur Ver­gabe von War­te­num­mern. C016. Wieso C? Gibt es hier noch andere Türen? Über­haupt, ich sehe kei­nen ein­zi­gen Moni­tor für die Anzeige der aktu­ell auf­ge­ru­fe­nen Num­mer. Noch bevor ich jedoch in die Pati­en­ten­runde der War­te­ni­sche fra­gen kann, was ich nun mit mei­ner Num­mer anzu­fan­gen hätte, öff­net eine junge Frau die Tür. C'est vous la seize? Sind Sie die Sech­zehn? Die junge Frau trägt ein Namens­schild. Sabrina. Erfas­sung der Per­so­na­lien, Unter­schrift für die digi­tale Wei­ter­gabe mei­ner Resul­tate an den Neu­ro­lo­gen. Wie fort­schritt­lich! Ob ich meine Resul­tate nicht auch digi­tal haben dürfte? Das geht lei­der nicht, sagt Sabrina lächelnd, lei­der nicht ohne die Auto­ri­sa­tion des Dok­tor C., der mich gleich sehen würde. Das würde ich doch ver­ste­hen. Natür­lich ver­stehe ich das. Es geziemt sich für Pati­en­ten, Ver­ständ­nis auf­zu­brin­gen. War­ten im War­te­be­reich. Ein dicker älte­rer Herr wird halb ent­blößt auf einer Prit­sche vor­ge­scho­ben. Er trägt Win­deln und stöhnt vor Schmer­zen. Das tut so weh, oh, mein Kopf, das tut so weh! Sehr ermu­ti­gend. In der Radio­lo­gie hilft einem kei­ner. Die inter­es­sie­ren sich für ihre Bil­der und sonst nichts. Der bran­car­dier, der Prit­schen­schie­ber legt einen klei­nen Stop ein, wech­selt char­mante Worte im Accueil mit Sabrina und ihren Kol­le­gin­nen, wäh­rend der ältere Herr in Win­deln mit­ten auf der Kreu­zung stöhnt. Das tut so weh, oh, mein Kopf, das tut so weh! Der Prit­schen­schie­ber hat den Lehr­gang zum wür­di­gen Umgang mit Pati­en­ten offen­sicht­lich ver­säumt. Oder nichts ver­stan­den.

Mon­sieur Diäl?

13:27 Uhr der Dok­tor. Dok­tor C.. Mond­ge­sicht mit Voll­bart. Sieht aus wie direkt aus dem Stu­dium. Gibt mir eine Kap­sel, die ich schlu­cken soll mit etwas Was­ser. Car­bi­dopa 100 mg. Soll eine Stunde ein­wir­ken. Zur bes­se­ren Fixie­rung des radio­ak­ti­ven Dopa­mins. Nach der Injek­tion des radio­ak­ti­ven Dopa­mins werde ich wei­tere ein­ein­halb Stun­den war­ten müs­sen. Zur Fixie­rung der Iso­tope. Die eigent­li­che Unter­su­chung funk­tio­niert wie ein Kern­spin oder CT und dau­ert nur etwa 15 Minu­ten. Neben­wir­kun­gen? Nein, eigent­lich nicht. Die von mir dann aus­ge­hende Radio­ak­ti­vi­tät würde mei­nen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen nicht scha­den. Und mir selbst? Non, nor­ma­le­ment non.

War­te­ni­sche.

Mon­sieur Diehl?

Die Schwes­ter fünf Minu­ten spä­ter – immer­hin spricht sie mei­nen Namen rich­tig aus – gelei­tet mich in eine Art Labor. Hélène. Infu­sion in der Ellen­beuge. Die radio­ak­tive Injek­tion soll jetzt gleich erfol­gen, main­ten­ant, kün­digt sie an. Auch wenn main­ten­ant im medi­ter­ra­nen Ver­ständ­nis ganz all­ge­mein eine andere Bedeu­tungs­schwere hat als rechts des Rheins und nicht "Jetzt und Sofort" heißt, son­dern durch­aus Spiel­räume von einer Vier­tel- bis hal­ben Stunde bie­tet, steht main­ten­ant im Wider­spruch zu der Stunde War­te­zeit, von wel­cher der Dok­tor eben sprach. Ah, bon, sagt Hélène, hat der Dok­tor das gesagt? Geht weg. Und kommt nach einer guten hal­ben Stunde wie­der. Jetzt wäre es wohl soweit. Na dann. Plau­dert noch was. Über mei­nen Akzent und von wo ich denn käme. Stutt­gart? Ken­nen Sie das? Nein, aber ihr Mann kennt das, der war mit dem Mili­tär damals nicht weit von Stutt­gart. Viele Män­ner die­ser Genera­tion schei­nen mit dem Mili­tär damals in Kaser­nen nicht weit von Stutt­gart gewe­sen zu sein. Oder Tübin­gen. Sig­ma­rin­gen. Hélène war zwei Mal in Trè­ves, Trier. Die Aus­tausch­part­ne­rin, auch die Eltern, sprach so gut Fran­zö­sisch, daß sie nichts gelernt hätte. Über­haupt wären die Fran­zo­sen ja so schlecht in Spra­chen, stellt sie fest. Was aber auch an dem mise­ra­blen Unter­richt in der Schule läge. Der durch­schnitt­li­che Fran­zose koket­tiert gerne mit der man­geln­den Sprach­be­ga­bung sei­nes Volks und dem mise­ra­blen Unter­richt in der Schule. Dann ist genug geplau­dert. Es folgt die radio­ak­tive Injek­tion aus einer mons­trö­sen Maschine mit Stahl­zy­lin­dern. Main­ten­ant. Sieht aus wie ein Modell aus den frü­hen Anfän­gen der Nukle­ar­me­di­zin. Ein­schließ­lich der medi­ter­ra­nen Vier­tel­stunde für Jetzt kommt das am Ende schon hin mit der Stunde Ein­wirk­zeit.

Bis zuletzt hatte ich gehofft, es wäre viel­leicht doch alles Quatsch, Ein­bil­dung, ein Irr­tum. Die Hoff­nung gehört zu chro­ni­schen Krank­hei­ten wie der Hori­zont zur Wüste. Obwohl ich es natür­lich bes­ser weiß. exams_requests-php-1Eigent­lich. Hin­ter dem Hori­zont geht die Wüste genauso wei­ter. Ins­ge­samt zuwe­nig Anrei­che­rung des Iso­tops, sagt der Nukle­ar­me­di­zi­ner Dok­tor C. und wird es auch schrei­ben in sei­nem Befund, rechts noch weni­ger als links. Die Bil­der sind der Beweis. Soll die Sym­pto­ma­tik links erklä­ren. Die meis­ten Ner­ven­fa­sern aus dem Hirn kreu­zen irgendwo auf die Gegen­seite. Okay. Ich habe damit gerech­net. Trotz­dem, schade.

Frei­tag

Der Voll­stän­dig­keit hal­ber und weil mir eine Freun­din von ganz frü­her, aus der medi­zi­ni­schen Sand­kiste quasi, jetzt Neu­ro­lo­gin in Ber­lin, dazu gera­ten hatte, war ich bei der Echo­kar­dio­gra­phie. Sie hat sich mitt­ler­weile zwar mehr auf Psych­ia­trie spe­zia­li­siert, hatte aber auch lange mit Par­kin­son zu tun und Par­kin­son sei ja das täg­lich Brot des Neu­ro­lo­gen, sagt sie. Die Neu­ro­lo­gin sagt, Herz­pro­bleme soll­ten im Rah­men der Par­kin­son-Dia­gnos­tik aus­ge­schlos­sen wer­den, ins­be­son­dere ein Fora­men ovale. Das Fora­men ovale, latei­nisch für ova­les Loch, ist ein Loch zwi­schen zwei Herz­kam­mern, den Vor­hö­fen. Das Loch braucht man im Mut­ter­leib, solange die Lun­gen noch nicht in Betrieb sind. Nach der Geburt sollte sich das inner­halb von ein paar Tagen bis Wochen ver­schlie­ßen. Wenn nicht, kann das spä­ter zu Schlag­an­fäl­len füh­ren. Oder kann eben, wie es scheint, irgend­was mit Par­kin­son zu tun haben. Habe ich noch nie gehört vor­her, wozu aber sonst die Herz­dia­gnos­tik? Ich habe der Neu­ro­lo­gin in Ber­lin viel­leicht nicht rich­tig zuge­hört. Oder nicht rich­tig nach­ge­fragt. Pati­en­ten fra­gen immer viel zu wenig. Und wun­dern sich nach­her, daß sie nichts ver­stan­den haben.

Patrick B., im Centre hos­pi­ta­lier der Kar­dio­loge mei­nes Ver­trau­ens, macht die Echo­kar­dio­gra­phie. Patrick B. könnte auch Par­kin­son­pa­ti­ent sein. Kla­rer Fall von Hypo­mi­mie, Mas­ken­ge­sicht, cha­rak­te­ris­tisch für Par­kin­son. Ich kenne mich damit aus. Patrick lächelt nicht oft. Liegt viel­leicht an der knap­pen Aus­stat­tung sei­ner Abtei­lung. Momen­tan ver­fügt er zum Bei­spiel nicht über seine Sonde für trans­ö­so­pha­geale Echo­gra­phie. Ist kaputt gegan­gen, er war­tet seit drei Mona­ten auf Ersatz oder Repa­ra­tur. Wir sind eine öffent­li­che Struk­tur, viel­leicht gibt es gerade nicht genug Geld für die Repa­ra­tur. Trans­ö­so­pha­geal? Eine Sono­gra­phie-Sonde für die Spei­se­röhre, weil man so dem Her­zen und ins­be­son­dere dem even­tu­el­len Loch noch näher kommt als trans­t­hora­kal, durch die Brust­wand. Gilt wohl als die Methode der Wahl, um das Loch zu fin­den, wenn es da eines gibt. Patrick hat eine andere Methode, die er der trans­ö­so­pha­gea­len Echo­gra­phie ohne­hin zumin­dest für eben­bür­tig hält, wenn nicht gar über­le­gen. Viel­leicht macht er aus der Not eine Tugend. Die Schwes­ter, Pas­cale, inji­ziert mir Flüs­sig­keit mit win­zig klei­nen Luft­bläs­chen in die Vene. Kann man in der Echo­gra­phie sehr schön sehen, die Bläs­chen erschei­nen wie Schnee­ge­stö­ber. Nor­ma­ler­weise nur in den rech­ten Herz­kam­mern. Wenn da ein Loch ist, auch links. Vier Injek­tio­nen. Zwei Mal unauf­fäl­lig. Und dann doch ein Zwei­fel. Sind da nicht doch Bläs­chen links? Sind das viel­leicht Arte­fakte, Fehl­mes­sun­gen, frage ich. Auf unse­ren Nar­kose-Moni­to­ren gibt es stän­dig Fehl­mes­sun­gen. Blut­druck 143 zu 132 gibt es nicht, eigen­ar­ti­ges EKG, nein, trotz­dem kein Herz­still­stand, wahr­schein­lich hat sich eine Elek­trode gelöst. Patrick aber ist sich ganz sicher: Kla­res Nein. In der Kar­dio­lo­gie gibt es keine Arte­fakte. Ein ganz klei­nes Loch viel­leicht. Er wird sei­nen Freund, den Pro­fes­sor in Mar­seille fra­gen. Mein Neu­ro­loge hat auch einen Freund in Mar­seille. Das gehört irgend­wie dazu. Und wenn da ein Loch ist, auch ganz klein, wird das abge­dich­tet und mein Par­kin­son ver­schwin­det wie von selbst. Bestimmt.

Die Hoff­nung gehört zu chro­ni­schen Krank­hei­ten wie der Hori­zont zur Wüste. Irgendwo muß die Oase doch sein.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Dienstfähig

Novem­ber

8:40 Uhr. Ter­min bei der Betriebs­ärz­tin, Mar­gue­rite C.. Méde­cine du tra­vail. Die gibt sich immer so ein biß­chen belei­digt, wenn sie mich sieht, weil das eigent­lich jähr­lich sein sollte, der Ter­min. Alle Jahre wie­der schickt sie mir eine Ein­la­dung und zwei, drei Erin­ne­run­gen. Vom Prin­zip muß sie mir jedes Jahr meine Arbeist­fä­hig­keit beschei­ni­gen. In Deutsch­land dürfte ich ver­mut­lich ohne die Arbeits­fä­hig­keits­be­schei­ni­gung über­haupt nicht mehr arbei­ten. Der Arbeit­ge­ber würde sich womög­lich sogar straf­bar machen, mit Mit­ar­bei­tern, deren Arbeits­fä­hig­keits­be­schei­ni­gung län­ger als 42 Tage abge­lau­fen ist. In Deutsch­land. In den Jah­ren seit Februar 2000 ist es unser zwei­tes Mal. Vor fünf Jah­ren war ich schon mal in die­sem Büro. Natür­lich sehen wir uns immer wie­der auf irgend­wel­chen Flu­ren, ist ja eher über­sicht­lich hier im Centre hos­pi­ta­lier, ich weiß, wie sie heißt und wie das heißt, was sie macht, ohne genau zu wis­sen, was Méde­cine du tra­vail wirk­lich ist, wie bei sovie­len Jobs, die noch mehr im Hin­ter­grund statt­fin­den als mei­ner.

Mar­gue­rite C. hat ihre Büros mit einer Schwes­ter und einer Sekre­tä­rin in der ehe­ma­li­gen Direk­to­ren­villa direkt am Hub­schrau­ber­lan­de­platz. Ich käme bestimmt wegen der Grippe-Imp­fung. Schien ein biß­chen belei­digt, als ich dies ver­neinte. Zur Rou­ti­ne­un­ter­su­chung also, wäre ja schön, daß ich auch mal auf ihre Ein­la­dun­gen reagie­ren würde, ich wäre ja nicht wirk­lich dazu ver­pflich­tet, aber es schiene ihr doch sinn­voll. Das könn­ten wir dann natür­lich auch gleich erle­di­gen, fand ich, sprach ihr von mei­ner Ver­dachts­dia­gnose und fragte, was es wohl von ihrer Seite aus zu beach­ten gäbe. Außer Belei­digt kann Mar­gue­rite Betrof­fen. Sogar sprach­lose Betrof­fen­heit. Dabei bin ich noch gar nicht tot. Mein Arm ver­hält sich unauf­fäl­lig, meine Mimik fällt dem Nicht­spe­zia­lis­ten noch nicht als redu­ziert auf. Und den Spei­chel­fa­den aus dem lin­ken Mund­win­kel habe ich auch meis­tens unter Kon­trolle. Mar­gue­rite ver­zich­tete auf gezielte Fra­gen aus dem neu­ro­lo­gi­schen Reper­toire und die Prü­fung der Reflexe. Hat von Neu­rol­gie sicher auch nicht mehr Ahnung als ich. Maß hin­ge­gen den Blut­druck, leicht erhöht, bestimmt der Stress, sagte sie lächelnd, und horchte Herz und Lunge, soweit gut. Ob ich denn aus­rei­chend ver­si­chert wäre. Ver­si­chert? Na, inca­pa­cité, inva­li­dité und so. Ich? Arbeits­un­fä­hig? Schwer­be­hin­dert? Früh­rent­ner? Eigent­lich bin ich unver­wund­bar. Ich mache das alles nur für mei­nen Blog, pas­siert ja sonst nichts! Quelle idée! Keine Ver­si­che­rung? Sprach­lo­ses Erstau­nen. Wenn das mal nicht zu spät ist jetzt für Ver­si­che­run­gen, wer nimmt Sie denn noch? Im jet­zi­gen Zustand? Zum Vor­ge­hen bei einer even­tu­el­len vor­zei­ti­gen Beren­tung hat sie ein paar Boschü­ren, die könnte ich mir ja mal durch­se­hen, eilt ja noch nicht, auch im Inter­net gäbe es viel Infor­ma­tio­nen dazu.

Zum Abschluß wünscht sie, auf dem Lau­fen­den gehal­ten zu wer­den, tenez-moi au cou­rant, und stellt mir die Beschei­ni­gung aus, gelb: apte, dienst­fä­hig. Bön cou­rage. Sicher bes­ser so, was würde ich denn den gan­zen Tag machen, arbeits­un­fä­hig zuhause? Meine Frau hat da schon Vor­stel­lun­gen: Tan­zen viel­leicht oder Tai Chi. Gym­nas­tik sowieso. Bei you­tube – Stich­wort "par­kin­son übun­gen" – gibt es Anlei­tun­gen. Ganz oben auf der Liste, über 75.000 Auf­rufe, eine junge Frau in lila T-Shirt, dazu drei ange­graute Kugel­bäu­che in tür­kis, orange und grün. Fünf Fol­gen leichte Übun­gen zur Kör­per­kon­trolle auf grau­blauem Tep­pich­bo­den. Dann doch lie­ber apte.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Rheuma

Don­ners­tag, Okto­ber 2016

Ren­dez­vous mit Cathé­rine M., Neu­ro­lo­gin. Con­sul­ta­ti­ons exter­nes im gro­ßen Kran­ken­haus von Tou­lon. Zweite Etage. Ein impro­vi­sier­tes Büro im Flur der Kar­dio­lo­gie. Außen an der Tür ein Schild mit ihrem Namen. Immer­hin. Das Büro ist eigent­lich eine Abstell­kam­mer. Zu zwei Drit­teln voll­ge­stellt mit aller­lei kar­dio­lo­gi­scher Gerät­schaft. Ein Schreib­tisch mit Com­pu­ter und Dru­cker macht ein Büro dar­aus. Ich fasse meine Kran­ken­ge­schichte zusam­men. Die Schmer­zen im lin­ken Arm vor vier Jah­ren, die Taub­heit in Zei­ge­fin­ger und Dau­men, gehö­ren für mich dazu. Das inter­es­siert sie aber nicht wirk­lich. So wie mich in der Sprech­stunde auch nicht jedes Zip­per­lein der Pati­en­ten inters­siert. Ich erzähle vom Zit­tern neu­er­dings in der Hand bei bestimm­ten Bewe­gun­gen und der gefühl­ten Schwer­gän­gig­keit im Arm, der ver­lo­re­nen Geschick­lich­keit. Fin­det sie inter­es­san­ter. Das Ruck­ar­tige beim Beu­gen und Stre­cken des Arms. Ist es das, was Zahn­rad­phä­no­men heißt in der Fach­li­te­ra­tur und bei wiki­pe­dia? Sie bewegt den Arm, klopft Reflexe bis Babin­ski, ich hätte nie gedacht, daß mir das mal außer­halb der Prak­tika vor drei­ßig Jah­ren in echt pas­sie­ren würde, lässt mich die weni­gen freien Meter zur Tür gehen. Das geht noch, fin­det sie. Tippt Ana­mnese und Befunde in den Com­pu­ter. Sie wäre nun nicht die Spe­zia­lis­tin für extra­py­ra­mi­dale Sym­pto­ma­tik, sagt Cathé­rine, das wäre mehr ihr Chef, der Dok­tor Frédé­ric M., der ein Cabi­net in der Stadt hat. Ich solle ein IRM céré­bral machen las­sen, ein Kern­spin des Gehirns, und mir beim Chef in der Stadt einen Ter­min holen. Auch sie selbst würde mei­nen Fall ihm gegen­über erwäh­nen, viel­leicht sähe sie ihn noch heute. Als ob "mein Fall" irgend­wie beson­ders inter­es­sant wäre. Täte ihr im Übri­gen leid, daß sie selbst mir nicht wirk­lich wei­ter­hel­fen könnte, der Dok­tor M. aber in der Stadt wäre der Spe­zia­list für, sie spricht es am Ende doch aus, sie schien es ver­mei­den zu wol­len und sprach bis dahin von extra­py­ra­mi­da­ler Sym­pto­ma­to­gie, Dok­tor M. in der Stadt wäre der Spe­zia­list für Par­kin­son. Druckt ihren Befund zwei Mal aus, ein­mal für mich, den ande­ren gefal­tet für ihre Kit­tel­ta­sche und den Chef, viel­leicht. Bön cou­rage sagt sie am Ende.

Was weiß ich schon von Par­kin­son? Stich­wort fal­len mir ein: Schüt­tel­läh­mung, Dopa­min­man­gel, die Sub­stan­tia nigra im Hirn, wo genau auch immer das sein mag, von der Funk­tion ganz zu schwei­gen. Vom Zahn­rad­phä­no­men bei pas­si­ver Bewe­gung habe ich gehört und von der Trias Rigor, Tre­mor, Aki­nese. Vom Pil­len­dre­her-Phä­no­men. Eine chro­ni­sche Erkran­kung bun­ter Sym­pto­ma­tik von Ver­stop­fung bis Depres­sio­nen, unauf­halt­sam fort­schrei­ten­den Ein­schrän­kun­gen der moto­ri­schen Mög­lich­kei­ten. Zer­fall. Am Ende kann man nicht mal mehr rich­tig schlu­cken. Ob das so stimmt?

Mon­tag

Kern­spin ist über­ra­schend kurz­fris­tig mög­lich. Ursprüng­lich Ter­min für Diens­tag in einer Woche. Das hatte ich schon als kurz­fris­tig emp­fun­den. Eine halbe Stunde spä­ter ist nun wirk­lich sehr kurz­fris­tig. Dok­tor Michel S. befun­det. Alles soweit nor­mal, schreibt er, Zei­chen von démyé­li­ni­sa­tion irgendwo. Was auch immer das bedeu­ten mag. Der Spe­zia­list dem­nächst wird das schon wis­sen. In der Mehr­zahl der Fälle, meint Michel S., soll­ten die kli­ni­schen Zei­chen die Dia­gno­se­stel­lung erlau­ben, der Kern­spin hat in der Pra­xis wenig Bedeu­tung. Warum mache ich das über­haupt? Inter­es­sant höchs­tens zum Aus­schluß ande­rer dege­ne­ra­ti­ver Pro­zesse im Hirn. Ande­rer­seits stellt sich für Dok­tor S. die Frage nach kar­dio­vas­ku­lä­ren Pro­ble­men. Jetzt noch einen Kar­dio­lo­gen fra­gen? Der fin­det dann bestimmt auch noch was. Klap­pen­feh­ler, ver­kalkte Arte­rien. Wenn man Krank­hei­ten sucht, fin­det man auch wel­che. Und setzt mich unter irgend­ein Anti­ko­agulans, zumin­dest ASS 100.

Sonn­tag

Péri­du­rale ste­chen geht noch ohne Ein­schrän­kung. Mit der lin­ken Hand führe ich die Nadel, halte sie an einem der Flü­gel. Das geht ohne Zit­tern, so wie immer. Wird es irgend­wann eine letzte Péri­du­rale geben?

Diens­tag

Grauer Nie­sel-Nach­mit­tag. Tou­ris­ten kön­nen sich ver­mut­lich nicht vor­stel­len, wie trost­los grau die Côte d'Azur im Win­ter sein kann. Cas­trop-Rau­xel oder Rem­chin­gen kön­nen trü­ber nicht sein. Ren­dez­vous bei dem Neu­ro­lo­gen um halb drei. Einer der typi­schen Alt­bau­ten der Innen­stadt. Links neben dem Ein­gang eine aus­geuferte Samm­lung von Schil­dern, Ärzte vor­wie­gend, eine Sprach­schule.macia Innen win­det sich eine unge­pflegte Treppe um einen Zwei-Per­so­nen-Auf­zug in die Höhe. Dritte Etage. Ein Schild an der Tür, keine Klin­gel. Dahin­ter ein War­te­zim­mer, hoher Raum, groß, drei Fens­ter gegen­über, rechts eine Tür, weit offen, die Toi­lette. Wie ein­la­dend. Links auch eine Tür, womög­lich sitzt da die Sekre­tä­rin, mit der ich vor zwei Wochen tele­fo­niert habe. Eichen­boh­len-Imi­tat auf dem Boden. Acht unter­schied­li­che Stühle, in der Mitte ein fla­cher Tisch mit zwei Sta­peln Zeit­schrif­ten. Kein Pati­ent außer mir. Muß ich mich mel­den links hin­ter der Tür? Werde ich über Laut­spre­cher auf­ge­ru­fen? Oder wird der Dok­tor mich selbst her­ein­bit­ten? Viele Pra­xen kom­men hier ohne Hilfe aus. Der Dok­tor macht alles alleine. Ver­mut­lich kos­ten­güns­tig. Ich kann nicht beur­tei­len, ob es sich dabei um eine Maß­nahme zur gie­ri­gen Gewinn­ma­xi­mie­rung han­delt oder um wirt­schaft­li­chen Sach­zwang. Auch meine Zahn­ärz­tin hatte nur ihre Mut­ter im Ein­gangs­be­reich sit­zen. Bestimmt kos­ten­güns­tig. Lei­der war die Mut­ter der Grund, den Zahn­arzt zu wech­seln. Ab und an ein freund­li­ches Wort hätte sich posi­tiv auf die Kun­den­bin­dung aus­ge­wirkt.

Ich gebe dem Dok­tor fünf Minu­ten. Wenn bis dahin nichts pas­siert, klopfe ich. Zehn Minu­ten pas­siert nichts und ich muß klop­fen. Das Zim­mer des Dok­tors ist rie­sig. Regale, ein Schreib­tisch, geschwun­gen im Vier­tel­kreis, PC, Dru­cker, Papier­sta­pel, dos­siers. Der Dok­tor sitzt da mit einem älte­ren Paar. Ob ich Mon­sieur XY wäre. Nein, ich bin Mon­sieur Diehl und habe ein Ren­dez­vous um halb drei. Das Ren­dez­vous um halb drei wäre doch annu­liert, sagt er, fin­det mich dann aber doch in sei­nem PC. Diäl Bert­rand? Genau. Naja, fast. In fünf Minu­ten sei er für mich da. Das kenne ich, das mit den fünf Minu­ten. Soll ein­fach nur hei­ßen bestimmt heute noch.

Er stellt mir die übli­chen Fra­gen. Alle medi­zi­schen Fach­rich­tun­gen stel­len ihren Pati­en­ten immer wie­der die ihnen eige­nen glei­chen Fra­gen. Sind Sie nüch­tern, haben Sie Ihre Zahn­pro­the­sen raus­ge­nom­men, das Zun­gen­pier­cing? Diese Fra­gen bekommt ein Pati­ent wahr­schein­lich zehn Mal zu hören, bevor er den OP erreicht und ich sie ihm auch noch mal stelle. Die Fra­gen der loka­len Kory­phäe für die Krank­heit sind die glei­chen wie die der Ärz­tin im gro­ßen Kran­ken­haus. Fra­gen, die man sich auch von wiki­pe­dia her­lei­ten könnte. Fra­gen, aus denen sich aus­ma­len läßt, was noch alles kom­men wird. Alp­träume, Ver­stop­fung, Schluck­stö­run­gen. Mikro­gra­phie, Gang­un­si­cher­heit. Klein­krit­zel­schrift und Trip­pel­schritt. Stö­run­gen des Geruch­sinns. Nichts davon habe ich. Als ich neu­lich den toten Fuchs begrub, hatte ich den Gestank noch Tage spä­ter in der Nase. Er meint viel­leicht weni­ger inten­sive olfak­to­ri­sche Expo­si­tion. Den Geruch von Ore­gano sol­len Pati­en­ten früh­zei­tig nicht mehr wahr­neh­men. Ore­gano ist das Testaroma. Ore­gano auf der Pizza zum Bei­spiel. Dia­gno­se­stel­lung in der Piz­ze­ria. Wenn man kann in der Piz­ze­ria die Qua­dro form­aggi geruch­lich nicht mehr von der Dia­volo unter­schei­den kann, ist man kla­rer Kan­di­dat für Par­kin­son. Hypos­mie. Meine Frau sagt, sie wüßte auch nicht, wie Ore­gano auf der Pizza riecht. Die nächste Etappe ist Anos­mie, man riecht gar nichts mehr. Weder Kat­zen­pfurz noch Fuchs­ka­da­ver. Eine kleine Hypo­mi­mie hätte ich. Tat­säch­lich? Ja, das sähe er sofort, geschul­tes Auge eben, sagt er und lächelt. Na, dann. Ist der Dok­to­rin im Kran­ken­haus auch schon auf­ge­fal­len. Lächelnd. Der medi­zi­ni­sche Spe­zia­list gefällt sich mit sei­nem Auge für Details. Es fol­gen Übun­gen, an die ich mich aus dem Stu­dium erin­nere. Der Fin­ger-Nase-Ver­such. Prüft die Koor­di­na­tion. Fin­den meine Zei­ge­fin­ger direkt zur Nase? Daß ich sowas wirk­lich mal selbst machen müßte! Reflexe und grobe Kraft läßt er aus. Er lässt mich ein paar Mal in sei­nem rie­si­gen Sprech­zim­mer auf- und abge­hen. Keine Stö­run­gen des Gang­bil­des wird er in sei­nem Bericht schrei­ben. Und keine Ver­min­de­rung der Arm­schwin­gung. Schreibt er. Er hat mir nicht zuge­hört. Genau daran war mir auf­ge­fal­len, daß was nicht stimmt. Der Arm links, wenn ich nicht auf­passe, schwingt nicht und win­kelt sich ein biß­chen zu stark an. So wie in der klas­si­schen Illus­tra­tion von Sir Richard Wil­liam Gowers von 1886, die man über­all fin­det, wo es um Par­kin­son geht.800px-paralysis_agitans_1907_after_st-_leger Ich kann das offen­bar ganz gut kom­pen­sie­ren. Wenn ich auf mei­nen Arm auf­passe, schwingt er schön und win­kelt sich nicht so senio­ren­mä­ßig an. Mein Arm merkt, wenn er beob­ach­tet wird. War dem geschul­ten Auge der Kory­phäe ent­gan­gen. Wenn er mir wenigs­tens zuge­hört hätte! Dann prüft er meine Stand­fes­tig­keit. Steht hin­ter mir und schubst mich mal nach vorne, mal nach hin­ten. Prüft auf pos­tu­rale Insta­bi­li­tät. Weil die klei­nen Stell­re­flexe zur Hal­tungs­kor­rek­tur irgend­wann nicht mehr schnell genug funk­tio­nie­ren, fal­len die Pati­en­ten leich­ter mal hin­ten­über, gera­ten ins Trip­peln, stol­pern über Tep­pich­kan­ten. Bre­chen sich die Hüfte, das Hand­ge­lenk, die Nase. Von daher kenne ich sol­che Leute. Von der Nar­kose für gebro­chene Hüf­ten, Hand­ge­lenke, Nasen. Ich kann noch Schnür­sen­kel schnü­ren ohne umzu­fal­len. Sogar Socken anzie­hen. Neu­lich bin ich mit dem Fahr­rad an der Ampel umge­fal­len, weil ich den Fuß nicht schnell genug aus der Bin­dung befreien konnte. Muß nichts mit der Krank­heit zu tun haben. Das pas­siert angeb­lich auch ande­ren Rad­lern.

Nach­dem er das alles in sei­nen PC getippt hat, lehnt er sich in sei­nem Ses­sel zurück und fasst zusam­men. Links­sei­ti­ges begin­nen­des Par­kin­son Syn­drom. Wir brau­chen noch ein Scinti Dopa, sagt er. Zur Bestä­ti­gung sei­ner Dia­gnose. Die sich ohne­hin zwar fast aus­schließ­lich kli­nisch stellt. Die Szinti Dopa ledig­lich für ein letz­tes Pro­zent Rest­wahr­schein­lich­keit, daß es doch was ande­res ist. Ein Mor­bus Wil­son zum Bei­spiel. Was war noch­mal ein Wil­son? Kann ein paar Wochen dau­ern für einen Ter­min im gro­ßen Kran­ken­haus, weiß er aus Erfah­rung, weil die das immer nur machen, wenn es min­des­tens drei Kan­di­da­ten gibt. Mit dem defi­ni­ti­ven Befund wür­den wir wei­ter­re­den über The­ra­pie und Pro­gnose und so. Gerne aber würde er mich pro­fi­tie­ren las­sen, er sagt wirk­lich pro­fi­tie­ren, an einer Stu­die sei­nes Freun­des an der Uni­kli­nik von Mar­seille, dem Pro­fes­sor, ähm, Pro­fes­sor, ihm fällt der Name nicht ein, Alex­andre heißt er mit Vor­na­men, er spricht ihn eben immer nur bei sei­nem Vor­na­men an, egal. Zuletzt haben sie sich auf einem Kon­gress in Ber­lin getrof­fen. An einer Stu­die zu einem neu­ro­pro­tek­ti­ven Medi­ka­ment soll ich teil­neh­men. Neu­ro­pro­tek­tiv. Das heißt, die Ner­ven in der Sub­stan­tia nigra sol­len geschützt wer­den. Die Krank­heit wird ange­hal­ten, schrei­tet nicht wei­ter fort. Wun­der­bar. Ist aber nur eine Stu­die, dop­pel­blind. Wie Alex­and­res zu tes­ten­des Medi­ka­ment heißt, fällt ihm im Moment lei­der auch nicht ein. Wo also in der Stu­die ist der Zuge­winn? Wo fin­det sich der Pro­fit für mich? Und: wie es denn jetzt wohl wei­ter­ge­hen würde? Pro­gnose, Ver­lauf, The­ra­pie. Das sind die Fra­gen, die mich wirk­lich inter­es­sie­ren. Mehr als diese Stu­die oder das Rest­pro­zent. Der Spe­zia­list winkt ab. Das sehen wir, wenn die Scinti Dopa fer­tig ist. Schade, unbe­frie­di­gend. Wahr­schein­lich war­tet der nächste Pati­ent.

Frei­tag

"The average life expec­tancy fol­lo­wing dia­gno­sis is bet­ween 7 and 14 years" weiß die eng­li­sche wiki­pe­dia zu Par­kin­son. "Die durch­schnitt­li­che Lebens­er­war­tung bei Dia­gno­se­stel­lung im Durch­schnitts­al­ter zwi­schen 55 und 65 Jah­ren beträgt 13 bis 14 Jahre" – andere Stelle auf die Frage bei google nach der Lebens­er­war­tung. Schöne Aus­sich­ten. Ich sollte auf­hö­ren zu arbei­ten und in Früh­rente gehen. Zeit für mich, für die Kin­der, Zeit mit den Kin­dern, mit der Mut­ter der Kin­der. Jeden Tag leben als wäre es der letzte. Gele­gent­li­cher Nar­ko­sest­rich, Ver­tre­tun­gen irgendwo. Bis vor kur­zem war ich noch fast unsterb­lich. Das Ende zumin­dest nicht so nahe, nicht so greif­bar. Zeit genug für Pro­jekte. Und nun kör­per­li­cher Abbau wie in freiem Fall. Pfle­ge­be­dürf­tig­keit in viel­leicht zehn Jah­ren. Hor­ror­vi­sio­nen. Ein paar Aspi­ra­ti­ons­pneu­mo­nien. Ernäh­rungs­sonde. Heim­platz, weil ich die Trep­pen zuhause schon lange nicht mehr schaffe. Viel­leicht kann man im Châ­teau den Haus­ar­beits­raum im Erd­ge­schoß umbauen in eine Zelle mit Behin­der­ten­ba­de­wanne anstelle von Wasch­ma­schine und Kühl­schrank. Oder das Châ­teau ver­kau­fen. Gegen­über baut die Gemeinde dem­nächst eine Ein­rich­tung für betreu­tes Woh­nen.

Meine Frau sagt, das mit einer Lebens­er­war­tung von 7 bis 14 Jah­ren oder so wäre ja wohl Quatsch. Sta­tis­tik eben, sagt sie, weißt du doch. Da wären ja auch ganz Alte drin. Die ihren neun­zigs­ten Geburts­tag ohne­hin nicht um mehr als fünf Jahre über­le­ben wür­den. Und bringt als Gegen­bei­spiel pro­mi­nente Pati­en­ten. Muham­mad Ali zum Bei­spiel. Vier­und­drei­ßig Jahre mit der Krank­heit. Oder Michael J. Fox. Ist genauso alt wie ich. Betrof­fen seit 1990, seit 26 Jah­ren. Lebt immer noch. In sei­nem Buch von 2003 – Lucky Man: A Memoir – geht er sogar soweit, die letz­ten zehn Jahre mit der Krank­heit als die bes­ten sei­nes Lebens zu bewer­ten. Man muß sicher über eine ordent­li­che Por­tion Hol­ly­wood-Gene ver­fü­gen, um sol­che State­ments zu ver­kün­den.

Mitt­woch

Viel­leicht ist es doch kein Par­kin­son. Nur keine Panik. Erst, wenn man Sym­pto­men Beach­tung schenkt, wach­sen sie sich aus zur Krank­heit. Wenn man Sym­ptome nicht wei­ter berück­sich­tigt, geben sie irgend­wann wie­der auf und ver­schwin­den, wie sie gekom­men sind. Wenn ich jedem Schmerz im Knie, in der Schul­ter, sonstwo, vor­ei­lig Krank­heits­wert zuge­ste­hen würde, hätte mich ein Rheuma zum Bei­spiel schon längst in ein krum­mes Häuf­chen Elend zusam­men­ge­fal­tet.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Joker

Bor­del à cul de pompe à merde! Häss­li­cher Fluch, schwer ins Deut­sche zu über­tra­gen. Irgend­was mit Puff, Arsch und Scheiße. Haupt­sa­che häss­lich. Der Schrau­ben­zie­her ist gebro­chen. Das ist in der Tat ärger­lich auf hal­ber Stre­cke. So kann ich nicht arbei­ten! Damit hat Jean-Gabriel eigent­lich Recht. Hängt womög­lich mit der Spar­po­li­tik der Direk­tion zusam­men. So kann man nicht arbei­ten. Bor­del à cul de pompe à merde! Dies wie­derum ist der Grund, warum Pati­en­ten zu ihrer Rücken­marks­nar­kose immer noch ein biß­chen was zum Schla­fen krie­gen. Oder Kopf­hö­rer mit Musik. Oder bei­des. Bei uns gibt es keine Kopf­hö­rer mit Musik. Von mir krie­gen sie was zum Schla­fen dazu. Mida­zolam. Wenn der Not­dienst-Hand­wer­ker beim Schrau­ben an mei­ner Wasch­ma­schine üble Flü­che aus­stößt oder Werk­zeug wirft, ist das wenig ver­trau­ens­bil­dend. Ich wün­sche mir ja auch nur, daß am Ende alles gut ist.

Don­ners­tag Nach­mit­tag.

Der ein­zige Vor­teil, wenn ich Dienst habe, besteht in der gele­gent­li­chen Option auf Zeit­fens­ter. Zeit für mich. Zeit zum Lesen, Schrei­ben, Nichts­tun. Habe ich zuhause eher sel­ten mal, diese Option. Immer ist irgend­was. Haus­auf­ga­ben, Wäsche, Kochen, Taxi­dienste zum und vom Sport. Oder Maschine kaputt. Und wenn ich denke, ich hätte Zeit zum Nichts­tun, fällt bestimmt mei­ner Frau was ein. Irgend­eine Glüh­birne ist immer kaputt. Manch­mal sogar Zeit mit den Kin­dern. Ist auch schön. Im Kran­ken­haus ent­steht die Option auf Zeit­fens­ter, Zeit für mich, aus der War­te­zeit auf ein Ende. Jede Ope­ra­tion kommt zu einem Ende, frü­her oder spä­ter, so oder so. Wir haben eine Hüfte ange­fan­gen. Eine Hüfte. Sagt man so, ist natür­lich Jar­gon. So wie man auch sagt, ich mache das Kind in Saal drei. Ist eine Aktion bar jeg­li­cher ero­ti­scher Kon­no­ta­tion. Jar­gon. Hüfte ange­fan­gen heißt wir haben die Osteo­syn­these des gebro­che­nen Ober­schen­kel­kno­chens einer älte­ren Dame ange­fan­gen. Rechts. Rücken­marks­nar­kose, Mida­zolam zum Schla­fen für den Fall, daß jemand übel flu­chen muß. Jean-Gabriel, der Unfall­chir­urg wird der älte­ren Dame einen Nagel ein­schla­gen ins obere Ende ihres Ober­schen­kel­kno­chens und ver­schrau­ben. Das sta­bi­li­siert den abge­bro­che­nen Femur­kopf auf dem Schaft. Ist tech­nisch ein­fa­cher und meist weni­ger blu­tig als eine Pro­these. Kann auch der hand­werk­lich mit­tel­mä­ßig begabte Ortho­päde, weil er fast ohne räum­li­ches Vor­stel­lungs­ver­mö­gen aus­kom­men kann. Die meis­ten Ortho­pä­den müs­sen mit wenig räum­li­chem Vor­stel­lungs­ver­mö­gen aus­kom­men. Für den Nagel muß man die Frag­mente unter Rönt­gen­kon­trolle nur mal rich­tig zuein­an­der stel­len, rein­schla­gen, fer­tig. Haut­naht. Zwei­und­vier­zig Minu­ten, sagt Jean-Gabriel, von Schnitt bis Haut­naht. Option auf zwei­und­vier­zig Minu­ten Zeit­fens­ter. Seine zwei­und­vier­zig Minu­ten ent­spre­chen tat­säch­lich oft chro­no­lo­gi­schen zwei­und­vier­zig Minu­ten. Wenn es keine Pro­bleme mit dem Mate­rial gibt. Dem Schrau­ben­zie­her zum Bei­spiel. Häu­fig ent­spricht die Chir­ur­gen-Minute min­des­tens zwei Echt­zeit-Minu­ten. Auch wenn es keine Pro­bleme mit dem Mate­rial gibt. Jean-Gabriel hat klare Vor­stel­lun­gen von der räum­li­chen Kon­stel­la­tion. Das ist hilf­reich.

Danach, nach der Hüfte, machen wir das Kind noch­mal. Jean-Gabriel, Chris­tine, Solène und ich. Jar­gon, wie gesagt, kein inti­mer Swin­ger­kreis. Dem Kind soll­ten frü­her am Nach­mit­tag zwei Schrau­ben aus dem Bein ent­fernt wer­den. Auch rechts. Vor­aus­sicht­lich zwölf Minu­ten, 54 Sekun­den, sagte Jean-Gabriel. Nar­kose, Schnitt. Die erste Schraube kein Pro­blem. Dann brach der Schrau­ben­zie­her – medi­zi­ni­sches Spe­zi­al­ge­rät im Wert von ver­mut­lich 180 Euro – auf hal­ber Stre­cke der zwei­ten. Der oben zitierte häss­li­che Fluch an die­ser Stelle. Egal, das Kind schlief ja. Der andere vor­rä­tige Schrau­ben­zie­her mußte erst ste­ri­li­siert wer­den. Dau­ert, bis auch die letzte denk­bare Mikrobe wirk­lich tot ist, fast zwei Stun­den. Das Bein wurde wie­der zuge­näht und das Kind wach­ge­macht. Mußte sich von Mama solange im Auf­wach­raum trös­ten las­sen. Zeit genug für erst­mal die Hüfte. Jean-Gabriel hätte die Schraube am Kind lie­ber auf mor­gen Früh ver­scho­ben. Stieß auf vehe­men­ten Pro­test sei­tens des bei­tei­lig­ten Per­so­nals. Wäre ich Sarahs Papa, würde ich auch nicht bis mor­gen Früh war­ten wol­len mit der zwei­ten Schraube an mei­nem Kind halb drau­ßen. Acht Zen­ti­me­ter lang die blöde Schraube immer­hin. Halb drau­ßen tut zudem auch weh.

Ab 22 Uhr bin ich müde. Und brau­che auch keine Optio­nen auf Zeit­fens­ter mehr. Es reicht. Viel mehr als eine theo­re­ti­sche Option auf Zeit­fens­ter, Zeit für mich, ergab sich bis dahin an die­sem Don­ners­tag nicht. Aber schließ­lich werde ich auch nicht für Optio­nen auf Zeit­fens­ter bezahlt. Kein Zeit­fens­ter wäh­rend der zwei­und­vier­zig Minu­ten für die Hüfte und auch nicht wäh­rend der drei­ßig für die Schraube, nicht dazwi­schen und auch nicht danach, fast wie zuhause. Immer irgend­was. Das Tele­fon alle zehn Minu­ten. Die Schwes­ter von Nor­mal­sta­tion, Mon­sieur X hat Schmer­zen. Der Pfle­ger von mei­ner Sta­tion für Mit­telschwer­kranke, der Hämo­glo­bin­wert von Madame Y bei 7,2. Mor­phium, Blut­kon­ser­ven. Die Heb­amme, une petite péri­du­rale pour une petite primi, kleine PDA für kleine Erst­ge­bä­rende, bitte. Immer, wenn sonst Ruhe ist, fin­det die Heb­amme noch was. Fast wie zuhause meine Frau. Und umge­kehrt. Wenn die Heb­amme end­lich alle ihre Péri­du­ra­les hat, mel­det sich ein Pfle­ger. Oder der junge Kol­lege aus den Urgen­ces, aus der Not­auf­nahme, um mir einen sei­ner Pati­en­ten auf meine Sta­tion zu ver­kau­fen. Letz­te­rer zögert aller­dings gerne bis halb zwei Uhr mor­gens.

Manch­mal habe ich das Gefühl, da müßte eine Web­cam sein oder so, die mich immer beob­ach­tet. Und wenn ich end­lich in mei­nem Bett liege, end­lich gerade das Licht aus­ge­macht habe, schickt sie den jun­gen Kol­le­gen aus den Urgen­ces ans Tele­fon. Der junge Kol­lege aus den Urgen­ces ist der ulti­ma­tive Joker. Das fühlt sich dann so an wie ein gebro­che­ner Schrau­ben­zie­her.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Ver­sion mit 3 450 Zei­chen für Aila, für die Januar-2017-Aus­gabe

Das Schöne in der Anäs­the­sie ist die Option auf Zeit­fens­ter. Zeit für mich. Zeit zum Lesen, Schrei­ben, Nichts­tun. Ja, ehr­lich. Habe ich zuhause eher sel­ten mal, diese Option. Immer ist irgend­was. Haus­auf­ga­ben, Wäsche, Kochen, Taxi­dienste zum und vom Sport. Oder Maschine defekt. Und wenn ich denke, ich hätte Zeit zum Nichts­tun, fällt bestimmt mei­ner Frau was ein. Irgend­eine Glüh­birne ist immer kaputt. Im Kran­ken­haus ent­steht die Option auf Zeit­fens­ter aus der War­te­zeit auf ein Ende. Jede Ope­ra­tion kommt zu einem Ende, frü­her oder spä­ter, so oder so.

Wir haben eine Hüfte ange­fan­gen. Sagt man so, ist natür­lich Jar­gon. So wie man auch sagt, ich mache das Kind in Saal drei. Kind machen ohne ero­ti­sche Kon­no­ta­tion. Hüfte ange­fan­gen heißt wir repa­rie­ren den gebro­che­nen Ober­schen­kel­kno­chen einer älte­ren Dame. Rücken­marks­nar­kose, dazu was zum Schla­fen für den Fall, daß jemand übel flu­chen muß. Jean-Gabriel, der Unfall­chir­urg wird der älte­ren Dame einen Nagel ein­schla­gen ins obere Ende ihres Ober­schen­kel­kno­chens und ver­schrau­ben. Zwei­und­vier­zig Minu­ten, sagt Jean-Gabriel. Option auf zwei­und­vier­zig Minu­ten Zeit­fens­ter. Seine zwei­und­vier­zig Minu­ten ent­spre­chen tat­säch­lich oft chro­no­lo­gi­schen zwei­und­vier­zig Minu­ten. Wenn es keine Pro­bleme mit dem Mate­rial gibt. Mit einem Boh­rer zum Bei­spiel. Oder dem Schrau­ben­zie­her.

Danach, nach der Hüfte, machen wir das Kind noch­mal. Dem Kind soll­ten frü­her am Nach­mit­tag zwei Schrau­ben aus dem Bein ent­fernt wer­den. Auch rechts. Vor­aus­sicht­lich zwölf Minu­ten, 54 Sekun­den, sagte Jean-Gabriel. Nar­kose, Schnitt. Die erste Schraube kein Pro­blem. Dann brach der Schrau­ben­zie­her – medi­zi­ni­sches Spe­zi­al­ge­rät – auf hal­ber Stre­cke der zwei­ten. Bor­del à cul de pompe à merde! Häss­li­cher Fluch, kaum zu über­set­zen. Egal, das Kind schlief ja. Der andere vor­rä­tige Schrau­ben­zie­her mußte erst ste­ri­li­siert wer­den. Dau­ert, bis auch die letzte denk­bare Mikrobe wirk­lich tot ist, fast zwei Stun­den. Sarah, das Kind, mußte sich solange von Mama im Auf­wach­raum trös­ten las­sen. Jean-Gabriel hätte die Schrau­ben­ent­fer­nung lie­ber auf mor­gen Früh ver­scho­ben. Hatte keine Lust mehr. Stieß auf vehe­men­ten Pro­test sei­tens des bei­tei­lig­ten Per­so­nals. Wäre ich Sarahs Papa, würde ich auch nicht bis mor­gen Früh war­ten wol­len mit der zwei­ten Schraube an mei­nem Kind halb drau­ßen. Acht Zen­ti­me­ter lang die blöde Schraube immer­hin. Tut ja auch weh, halb drau­ßen.

Lei­der erge­ben sich nicht immer Zeit­fens­ter. Aber schließ­lich werde ich auch nicht für Optio­nen auf Zeit­fens­ter bezahlt. Immer kann was irgend­was sein. Das Tele­fon alle zehn Minu­ten. Eine Schwes­ter aus der Inne­ren, Mon­sieur X hat Schmer­zen. Der Pfle­ger in der Chir­ur­gie, der Hämo­glo­bin­wert von Madame Y bei 7,2. Mor­phium auf­schrei­ben, Blut­kon­ser­ven ver­ab­rei­chen. Immer, wenn sonst Ruhe ist, fin­det die Heb­amme noch was, une petite péri­du­rale pour une petite primi zum Bei­spiel, eine kleine PDA für eine kleine Erst­ge­bä­rende, bitte.

Oder der junge Kol­lege aus den Urgen­ces, aus der Not­auf­nahme, um mir einen sei­ner Pati­en­ten auf meine Sta­tion zu ver­kau­fen. Der war­tet aller­dings gerne bis halb zwei Uhr mor­gens. Manch­mal habe ich das Gefühl, da müßte eine Web­cam sein oder sowas, die mich immer beob­ach­tet. Und auf den Moment war­tet, bis ich in mei­nem Bett liege, end­lich gerade das Licht aus­ge­macht habe. Dann schickt sie den Joker ans Tele­fon. Wenn Pfle­ger, Schwes­tern und Heb­am­men schon lange schla­fen, holt mich die Web­cam in die Urgen­ces. Laut flu­chen hilft ein biß­chen.

Golfplatz

Zum Jah­res­ende wol­len sie unser Labor zuma­chen. Nein, sie wol­len nicht, sie wer­den. Sie, die Direk­tion. Dabei ist das Labor außer dem Kiosk in der Ein­gangs­halle mei­nes Wis­sens die ein­zige Abtei­lung, die Gewinn abwirft. Bis­her hat das Centre hos­pi­ta­lier für 2016 drei Mil­lio­nen Ver­lust ein­ge­fah­ren. Drei Mil­lio­nen Euro. Letz­tes und vor­letz­tes Jahr waren es ins­ge­samt jeweils fünf Mil­lio­nen, sagen sie. Sie, die Direk­tion. Des­we­gen haben wir seit­her eine gemein­same Direk­tion mit dem gro­ßen Kran­ken­haus quasi nebenan, in Tou­lon. Dort bringt das Labor im Gegen­satz zu vie­len ande­ren Abtei­lun­gen, unter ande­rem ver­mut­lich dem Kiosk in der Ein­gangs­halle, kei­nen Gewinn. Unser gemein­sa­mer Direk­tor ist vor allem der Direk­tor des gro­ßen Kran­ken­hau­ses quasi nebenan. Das große ist seins. Um unser Kran­ken­haus küm­mert er sich nur so neben­bei. Logisch, daß er vor allem an seins, das große, neue quasi nebenan denkt. Er hat die Zah­len sofort durch­schaut. Für das Ver­ständ­nis von Zah­len braucht es kei­nen medi­zi­ni­schen Sach­ver­stand. Der Direk­tor glaubt, daß er sein Labor sanie­ren kann, wenn er sich unse­res ein­ver­leibt. Ande­rer­seits möchte man den­ken, es bräuchte kei­nen aus­ge­präg­ten medi­zi­ni­schen Sach­ver­stand, um zu ver­ste­hen, daß ein Kran­ken­haus der Basis­ver­sor­gung mit Geburts­hilfe nicht mehr rich­tig funk­tio­nie­ren kann ohne eige­nes Labor im Kel­ler. Vor einem Jahr etwa hat­ten wir eine Réunion mit dem Direk­tor zu die­sem Thema. Wir wie­sen ihn dar­auf hin, daß ein Kran­ken­haus der Basis­ver­sor­gung und ins­be­son­dere des­sen Geburts­hilfe ohne ange­schlos­se­nes Labor nicht mehr rich­tig funk­tio­nie­ren kann. Der Direk­tor hielt dage­gen, daß er Spe­zia­lis­ten für sowas hätte und daß die Spe­zia­lis­ten einen Plan aus­ar­bei­ten wür­den, wie unser Kran­ken­haus auch ohne direkt ange­schlos­se­nes Labor im Kel­ler funk­tio­nie­ren würde. Das Labor des gro­ßen, neuen Kran­ken­hau­ses quasi nebenan hätte aus­rei­chend Kapa­zi­tä­ten, die Ver­sor­gung unse­res klei­nen Kran­ken­hau­ses samt sei­ner Geburts­hilfe kor­rekt zu bedie­nen. Beden­ken unse­rer­seits ange­sichts einer Ent­fer­nung von immer­hin knapp fünf­zehn Kilo­me­tern hohen Stau­po­ten­ti­als zwi­schen den bei­den Häu­sern ließ er nicht gel­ten. Der Direk­tor betonte, er hätte Spe­zia­lis­ten für sowas. Diese wären in der Lage, einen Plan aus­zu­ar­bei­ten, der allen Even­tua­li­tä­ten Rech­nung tra­gen würde. Wie kann man bloß so blau­äu­gig sein! Hat er die Staus zu jeder Tages­zeit noch nie aus eige­ner Anschau­ung erlebt? Wenn der Tun­nel Rich­tung Mar­seille gesperrt ist, geht im Umkreis von zehn Kilo­me­tern gar nichts mehr. Stau in den kleins­ten Neben­stre­cken. Nicht ein­mal durch unser Argu­ment der gefähr­de­ten Pati­en­ten­si­cher­heit ließ sich der Direk­tor aus der Ruhe brin­gen. Weil Kran­ken­haus­di­rek­to­ren meist nur über sehr wenig medi­zi­ni­schen Sach­ver­stand ver­fü­gen, zucken sie nor­ma­ler­weise ein biß­chen, wenn man die Pati­en­ten­si­cher­heit ins Spiel bringt. Davor haben sie Angst. Sie haben Angst vor dem Unfall am Pati­en­ten und vor allem vor der nach­weis­ba­ren Mit­schuld am Unfall. Der Direk­tor aus dem gro­ßen Kran­ken­haus quasi nebenan winkte rou­ti­niert ab. Schließ­lich hätte er Spe­zia­lis­ten für sowas.

Böse Zun­gen behaup­ten, im all­ge­mei­nen wäre die Schlie­ßung des Labors nur der erste Schritt zur Schlie­ßung eines Kran­ken­hau­ses im Gan­zen.

Letz­ten Sonn­tag hatte ich Dienst. Und mußte fest­stel­len, daß sie schon mal unsere Blut­bank als Teil des Labors zuge­macht hat­ten. Sie, die Direk­tion. Ver­mut­lich auf Emp­feh­lung der Spe­zia­lis­ten. Das Labor funk­tio­niert noch so wie sonst, nur eben ohne Blut­bank. Statt­des­sen haben wir jetzt einen Kühl­schrank mit Null-Nega­tiv-Kon­ser­ven, fünf Stück, für den vita­len Not­fall. Und ein paar Tüten Frisch­plasma. Keine Blut­bank. Keine Mög­lich­keit, Pati­en­ten inner­halb von drei­ßig Minu­ten ihrer Blut­grup­pen­kon­stel­la­tion ent­spre­chen­des Blut zu ver­ab­rei­chen. Außer eben was von den Null-Nega­tiv-Kon­ser­ven. Das geht immer. Lei­der hat­ten die Spe­zia­lis­ten ver­säumt, den Direk­tor dar­auf­hin­zu­wei­sen, daß das medi­zi­nisch rele­vante Per­so­nal von die­sem Umstand in Kennt­nis gesetzt wer­den sollte. Recht­zei­tig. Per Mail, Rund­brief, Bespre­chung zum Bei­spiel. Nie­mand hatte letz­ten Sonn­tag gewußt, daß es schon soweit sei. Daß das Labor ganz zuma­chen würde zum Jah­res­ende und man jetzt schon mal anfan­gen würde mit der Blut­bank. Oder die, die unter­rich­tet waren, haben denen, die damit arbei­ten müs­sen, nichts davon gesagt. Das ent­spricht medi­ter­ra­ner Kom­mu­ni­ka­ti­ons-Stra­te­gie. Es wird viel gere­det, aber kein rele­van­ter Inhalt kom­mu­ni­ziert. Immer­hin fan­den sich schließ­lich einige Exem­plare einer pro­cé­dure, einer Dienst­an­wei­sung. Lieb­los redi­giert, immer­hin mit ein paar Tele­fon- und Fax­num­mern im Labor des gro­ßen Kran­ken­hau­ses quasi nebenan. Am Tele­fon mit der Blut­bank des gro­ßen Kran­ken­hau­ses nebenan kris­tal­li­sier­ten sich inter­es­sante Details her­aus. Für den lebens­be­droh­li­chen Trans­fu­si­ons-Not­fall gibt es beim Kran­ken­haus ange­stellte Fah­rer im Bereit­schafts­dienst. Die war­ten bei sich zuhause auf den Ein­satz. Das Zuhause des Fah­rers darf drei­ßig Minu­ten vom gro­ßen Kran­ken­haus nebenan ent­fernt sein. Drei­ßig Minu­ten! Unser Not­fall­fah­rer am Sonn­tag hat sein Zuhause in Hyè­res. Sonn­tags kommt es höchs­tens wäh­rend der Schul­fe­rien mal zu Staus. Oder wenn mal wie­der eine acht­los weg­ge­wor­fene Kippe den Mit­tel­strei­fen in Brand gesetzt hat. Was aber sicher zu den Even­tua­li­tä­ten gehört, wel­chen die Weis­heit der Spe­zia­lis­ten Rech­nung trägt.

Außer dem Not­fall­fah­rer des Kran­ken­hau­ses gibt es einen pri­vat­wirt­schaft­li­chen Fahr­dienst, der alle medi­zi­ni­schen Struk­tu­ren ohne eige­nes Labor im Groß­raum ver­sorgt. Der fährt seine Runde vier oder fünf Mal pro Tag. Natür­lich nur zwi­schen 7 und 17 Uhr. Bestimmt äußerst lukra­tiv. Werk­tags. Wer arbei­tet schon frei­wil­lig nachts und am Wochen­ende. Außer­halb die­ser Zei­ten wird jeder Ein­satz zum Not­fall für den Kran­ken­haus­fah­rer.

Böse Zun­gen behaup­ten, der Chef des pri­vat­wirt­schaft­li­chen Fahr­diens­tes und der Direk­tor der Kran­ken­häu­ser wür­den regel­mä­ßig gemein­sam auf dem 18-Loch-Par­cours des Golf­plat­zes bei mir im Dorf ange­trof­fen wer­den.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Insel im Sturm

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Vor ein paar Tagen bin ich extra früh auf­ge­stan­den, um noch ein biß­chen Rad zu fah­ren, also, eben mehr als ein biß­chen nur, mehr als die zehn Kilo­me­ter plat­tes Land zum Kran­ken­haus. Wegen der Hitze geht das nur früh mor­gens. Und ab und zu muß, um in Form zu kom­men, schon auch mal ein biß­chen Stei­gung sein. Um Tou­lon haben wir drei Berge, Mont Caume, Faron und Coudon. Ambi­tio­nierte Ama­teure fah­ren die drei mal eben an einem guten Vor­mit­tag ab. Ambi­tio­nierte Ama­teure fah­ren übri­gens ohne Unter­wä­sche. Zumin­dest die aus mei­nem Umfeld. Sagen die. Ich weiß aber nicht, was das bringt. Soweit bin ich noch nicht. Ich fahre auch nur einen der Berge zur Zeit. Wobei ich den Mont Caume noch nie in Angriff genom­men habe. Mein Lieb­lings­berg ist der Faron, weil die Straße von einem zum ande­ren Ende eine Ein­bahn­straße ist. Kein Gegen­ver­kehr. 520 Höhen­me­ter. Der Coudon ist ein biß­chen höher, 650 Meter, oben ist was Mili­tä­ri­sches, man darf nicht ganz rauf. Mor­gens fährt man immer­hin ange­nehm im Schat­ten. Lei­der Sack­gasse. Poten­ti­ell also mit Gegen­ver­kehr. So früh kommt da natür­lich kei­ner run­ter. Aber erstaun­lich viele fah­ren rauf. Beim Run­ter­fah­ren auf der schma­len Straße macht poten­ti­el­ler Gegen­ver­kehr Angst. Da war ich also vor ein paar Tagen. Auf dem Coudon. Abfahrt zuhause 6:04 Uhr. Oben um 7:21 Uhr. Das ist nicht wirk­lich schnell. Weiß ich. Wurde dann auch ein biß­chen knapp fürs Kran­ken­haus. Zumal ich dann ja auch noch duschen mußte. Defi­ni­tiv.

8:25 Uhr. Toben­der Chir­urg in der Umkleide vor der Dusche. David B. Ich habe ihn, trotz lau­fen­der Dusche, schon von wei­tem gehört, ihn und einen mei­ner Kol­le­gen, frag' doch Bertram, wenn dir was nicht passt. Aber der duscht gerade. Drei Sekun­den spä­ter stand er brül­lend in der Umkleide, rief nach mir, Bertram, rüt­telte an der Tür zur Dusche. Kann ich nicht gut haben, auch wenn ich spät dran bin. David B. ist all­ge­mein als connard klas­si­fi­ziert. Arro­gant und, lei­der, in sei­nen hand­werk­li­chen Fähig­kei­ten nicht gerade begabt. Arro­gant ginge ja noch durch, wenn er wenigs­tens gut wäre, also hand­werk­li­ches Geschick bewiese, nett oder zumin­dest kom­pe­tent wäre zu Pati­en­ten und so. Ist er aber nicht. Nicht mal nett zu Pati­en­ten. Und immer, oft, geht irgend­was dane­ben. Häu­fig muß er mehr­fach ope­rie­ren, weil es im ers­ten Ver­such beim bes­ten Wil­len nicht reicht. Des­we­gen steht er häu­fig alleine da. Und muß schreien, weil ihm kei­ner hilft. Kei­ner wollte seine Pati­en­tin mit kaput­ter Hüfte für die­sen Mor­gen neu­lich betäu­ben. Die Labor­werte stimm­ten nicht. Zu anämisch. Waren sich die Anäs­the­sis­ten offen­bar einig. Gibt es auch ganz sel­ten, diese Einig­keit unter den Anäs­the­sis­ten. Gegen David B. leich­ter mal. Die Frau hätte bes­ser vor­be­rei­tet sein müs­sen, wenn man sie halb­wegs unbe­scha­det durch die OP brin­gen wollte. David B. hätte sich um eine kleine Trans­fu­sion küm­mern müs­sen. War ihm nicht so wich­tig. Chir­ur­gen wird oft unter­stellt, es ginge ihnen nur um ihre Ope­ra­tion. Ist lei­der häu­fig was dran. David B. gehört ganz klar zu die­ser Sorte. Damit ist meine Pati­en­tin lei­der mal bar­rée, mit die­sem Chir­ur­gen. Schlechte Kar­ten. Unter der Dusche kann ich dir sowieso nicht hel­fen, laisse-moi tran­quille, con­nard, laisse-moi trois minu­tes!

Gut drei Stun­den spä­ter war die Pati­en­tin soweit. So rich­tig schlimm wurde es schließ­lich nicht. Wir hat­ten genug Blut auf Lager, das Blut­bad zu kom­pen­sie­ren.

Spä­ter, im Dienst, mußte ich lange war­ten auf die Über­nahme einer Pati­en­tin aus den Urgen­ces, der Ambu­lanz. Das kann ganz lange dau­ern und man weiß gar nicht warum. Hätte ich hin­ge­hen kön­nen und mal ein biß­chen Druck machen. Kol­le­gen von mir machen das gerne, Druck machen in den Urgen­ces. Frü­her, wäh­rend mei­ner ers­ten Monate in die­sem Kran­ken­haus, stürmte auch ich gele­gent­lich brül­lend die Urgen­ces. Blitz­an­griff. Wut­an­fall, wenn wie­der ein Uralt-Pati­ent mit einer Aldi­tüte voll Medi­ka­men­ten auf die Sta­tion kam ohne aktu­elle Blut­ana­lyse, EKG und Rönt­gen­auf­nahme. Blut­ana­lyse, EKG und Rönt­gen­auf­nahme sind ganz klar Auf­gabe der Urgen­ces. So war das frü­her in Deutsch­land und das ist eigent­lich auch so in Frank­reich. Nor­ma­le­ment. Ins­be­son­dere bei Alten mit einer gan­zen Aldi­tüte voll Medi­ka­men­ten ist das hilf­reich und nett. Damit der Anäs­the­sist sich früh­zei­tig eine Vor­stel­lung vom Zustand des Pati­en­ten im Gan­zen machen kann. Da hat wie­der einer geschla­fen, wenn das nicht gemacht ist. Oder keine Lust gehabt. Brül­len in den Urgen­ces, vor Publi­kum, Schwes­tern, Ärz­ten, Pati­en­ten, Ange­hö­ri­gen. Egal. Wut. So geht das gar nicht, so kann ich nicht arbei­ten. Das nächste Mal kriegt ihr den Pati­en­ten zurück, bis das ver­dammte EKG geschrie­ben ist. Bor­del à cul de pompe à merde! Das gilt als über­aus häß­li­cher Fluch. Bringt aber nichts. Im Gegen­teil. Die gucken alle nur gelang­weilt. Das ken­nen sie schon. Der zustän­dige Kol­lege ist gerade im Ein­satz auf der Straße. Und die Schwes­ter dazu unauf­find­bar. Oder, bes­ser noch, kei­ner weiß, wer die Schwes­ter dazu ist. Oder war. Ist immer so. Der zustän­dige Kol­lege ist immer gerade im Ein­satz auf der Straße und kei­ner will wis­sen, wer die Schwes­ter dazu ist. Und wenn man sei­nen Auf­tritt als Sturm­bann­füh­rer – Ach­tung, schnell, schnell, der böse Deut­sche im Film sagt immer und unsyn­chro­ni­siert Ach­tung, schnell, schnell – hatte, geht es extra lang­sam wei­ter.

Kein Brül­len mehr also. Hof­fen auf Wun­der. Zum Hof­fen auf ein Wun­der las ich den drit­ten Krimi von Chris­tine Cazon, "Stür­mi­sche Côte d'Azur". Sonst sind Kri­mis nicht so mein Ding, ganz ehr­lich, die von Chris­tine Cazon lese ich gerne, schon weil sie in der Gegend spie­len. In Can­nes. Lebens­nah. Über Hof­fen und Lesen muß ich irgend­wann ein­ge­schla­fen sein. Bei gut 63%. Mein kindle spricht nicht von Sei­ten, er spricht von Pro­zen­ten. Eigent­lich abar­tig im Zusam­men­hang mit Büchern. Ein­ge­schla­fen nach einer Szene Zwei­sam­keit im Forst­haus auf der Insel im Sturm. Der Kom­mis­sar und Alice, die kna­ckige Kell­ne­rin, leicht alko­ho­li­siert. Wor­auf war­ten die bei­den noch? Statt­des­sen schickt der Kom­mis­sar die Kell­ne­rin ins Bett, alleine! Natür­lich, in Wirk­lich­keit, wäre das anders, wis­sen wir. Rausch der Sinne. Die ganze Nacht. Bis in die Mor­gen­däm­me­rung. Statt­des­sen Aspi­rin? Quatsch. So spröde kann der Kom­mis­sar gar nicht sein. Fran­zose. Auf der Insel. Da muß der Fran­zose in echt nicht lange über­le­gen. Das aber kann man ver­mut­lich der Laven­del-Frak­tion der Lese­rin­nen nicht zumu­ten.

Mein kindle schlug irgend­wann mit­ten in der Nacht auf dem Boden neben mei­nem Bett auf. Davon war ich wach­ge­wor­den. Wenig spä­ter hatte meine Pati­en­tin auch den Weg in meine Abtei­lung gefun­den. Papier­kram, The­ra­pie­plan. Eine Stunde spä­ter war ich wie­der im Bett. Konnte aber bis zur Dank­sa­gung hin­ten im Krimi nicht mehr ein­schla­fen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Claire

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Die Kas­sie­re­rin wünscht mir einen schö­nen Tag. Danke, Ihnen auch, Méla­nie. Méla­nie ist Kasse 3 bei Déc­a­th­lon. Kas­sie­re­rin­nen mögen das, wenn man sie auch mal als Mensch wahr­nimmt. Wahr­schein­lich sind sie des­we­gen auch meist beschrif­tet. Méla­nie ent­lockt das ein Lächeln. Immer­hin. Mein Tag würde bestimmt schö­ner wer­den als ihrer, sagt sie. Klar, es ist Fei­er­tag und Méla­nie hat ihren lan­gen Tag heute. Sie muß blei­ben bis 16:15 Uhr. Zu spät für Strand. Muß ich sie jetzt bedau­ern? Ich könnte sie pro­blem­los über­trump­fen. Mein Tag ist erst mor­gen früh gegen neun zu Ende. Will sie aber ver­mut­lich nicht wis­sen. Bön cou­rage, Méla­nie.

Viel frü­her schon hatte ich Clau­dia am Tele­fon, Vier­tel vor acht. Das mag ich nicht so gerne, mein Dienst fängt erst um halb neun an. Clau­dia ist Heb­amme. Und Elsäs­se­rin. Aus einem Dorf nicht weit von Col­mar. Das Elsaß ist eine Region, die im Laufe der letz­ten Jahr­hun­derte den ver­schie­dens­ten natio­nalen Ein­flüs­sen unter­wor­fen war. Schweiz, Deutsch­land, Frank­reich. Alle woll­ten was von ihnen und scho­ben sie hin und her. Das zeich­net so einen Men­schen­schlag bis in die Gene­tik. Sie tra­gen die Ver­an­la­gun­gen dreier Natio­nen in sich. Im Schlech­ten und ver­mut­lich auch im Guten. Clau­dia lächelt sel­ten. Sie ist gene­tisch mehr auf der unan­ge­neh­men Seite gelan­det. Auf der dunk­len Seite. Der mit der Gründ­lich­keit der Deut­schen, der Uner­bitt­lich­keit der Schwei­zer und der Anma­ßung der Fran­zo­sen. Clau­dia will mich zum Stand der Dinge im Kreiß­saal infor­mie­ren. Als ob mich das inter­es­sie­ren würde. Schon gleich gar nicht um Vier­tel vor acht. Clau­dia lässt sich in ihren Aus­füh­run­gen nur schwer unter­bre­chen. Da kommt die Uner­bitt­lich­keit so ein biß­chen durch. Okay, ich mag Clau­dia nicht so gerne. Viel­leicht ein­fach nur per­sön­li­che Vor­be­halte. Isa­belle oder Lae­ti­tia wären mir lie­ber gewe­sen. Als Heb­am­men für den Tag.

Eine Stunde spä­ter, Vier­tel vor neun. Der Ortho­päde hat einen kaput­ten Ober­schen­kel zu ope­rie­ren. Teil­pro­these. Doc­teur B. zieht die Kom­mu­ni­ka­tion per sms dem per­sön­li­chen Gespräch vor. Finde ich etwas merk­wür­dig. Wann er ope­rie­ren könne. Zehn Uhr, schreibe ich ihm. Das passt zum Fei­er­tag und läßt mir noch ein paar kleine Spiel­räume. Déc­a­th­lon eben. Die haben auch kei­nen Fei­er­tag. Frü­her, im Kran­ken­haus des nord­öst­li­chen Ruhr­ge­biets, war eine Zeit­an­gabe der Zeit­punkt für den Beginn des Ein­griffs. Zehn Uhr hieß "Schnitt" um zehn Uhr. Alles fer­tig für den Auf­tritt des Chir­ur­gen. Schla­fen­der Pati­ent, ver­klei­dete Schwes­tern und Assis­ten­ten, das OP-Feld ste­ril. Das erfor­dert einen Vor­lauf von einer guten hal­ben Stunde. In Süd­frank­reich heißt zehn Uhr, man sollte es gegen zehn Uhr nicht mehr weit bis zum Park­platz haben. Nach einer Runde Kaf­fee der Anruf auf der Sta­tion: bringt uns doch mal bitte die Teil­pro­these. Schnitt gegen elf. Bis Frau C. aus dem Auf­wach­raum wie­der auf dem Weg in ihre Sta­tion ist, wird es pro­blem­los halb zwei Uhr nach­mit­tags. Dann könnte ich noch­mal ver­schwin­den.

Zuhause gibt es mas­sen­weise Bau­stel­len, die auf mich war­ten. Ganz aktu­ell der Pool. Pool? Alle haben hier einen Pool. Viel­leicht nicht alle hier, aber die meis­ten aus dem Kran­ken­haus­um­feld. Ver­mut­lich sogar der Bran­car­dier – der Prit­schen­schie­ber, der die Pati­en­ten in ihren Bet­ten von Sta­tion in den OP und wie­der zurück schiebt. Weil der jeman­den kennt, der Bag­ger und Last­wa­gen fährt, weiß, wo man den Aus­hub unauf­fäl­lig depo­nie­ren kann und sich das Becken eben selbst mau­ert, pas de pro­blème. Das Grund­stück mit dem Haus drauf aus der Fami­lie und sowieso deut­lich grö­ßer als die Hand­tuch­par­zel­len in Deutsch­land. Das Was­ser im Pool ganz legal und kos­ten­güns­tig direkt aus dem Canal de Pro­vence. Ein biß­chen Rich­tung Saint-Anto­nin-du-Var viel­leicht, tiefs­tes Hin­ter­land, aber egal. Auch dort gibt es schöne Anwe­sen mit Aus­sicht. Natür­lich ahnt auch der Prit­schen­schie­ber nicht von Anfang an, wie­viel Auf­wand so ein Pool wirk­lich mit sich bringt.

Ich hatte vori­gen Sams­tag Syl­vain da. Syl­vain ist der Spe­zia­list für alles, was die piscine betrifft, den Pool. Syl­vain ist der pisci­niste. Er hat mir nicht nur ein paar Rohre neu geklebt, son­dern auch den Fil­ter mit neuem Sand befüllt. Den alten Sand hat er, neben­bei bemerkt, nicht, wie ich mir das gewünscht hätte, mit­ge­nom­men und irgendwo unauf­fäl­lig ent­sorgt, son­dern nicht wirk­lich dis­kret im Umfeld des Pools ver­teilt. Mit Abstri­chen muß man auch beim Spe­zia­lis­ten leben. Ich habe noch kei­nen Hand­wer­ker ohne Abstri­che erlebt. Mit vier­hun­dert Euro recht güns­tig ande­rer­seits. Sonst zahle ich jedem Hand­wer­ker Son­der­ta­rife. Auf­schläge. Aus­län­der-Auf­schlag, Dok­tor-Auf­schlag, wenn sie das durch indirs­kre­tes Fra­gen her­aus­fin­den. Und Alt­bau-Auf­schlag. Der Auf­schlag für das Haus eben. Es gibt eine Post­karte davon, frü­hes zwan­zigs­tes Jahr­hun­dert ver­mute ich, "Châ­teau Mon­fleury". Das sage ich kei­nem Hand­wer­ker, sonst gäbe es sofort einen signi­fi­kan­ten Post­kar­ten-Auf­schlag. Und wenn Hand­wer­ker zum Kos­ten­vor­anschlag schon vor dem Bau ste­hen und sagen, Sie haben's aber schön hier, weiß ich, daß sich dafür bereits der Grund­preis ver­dop­peln wird. Allein für das Sie haben's aber schön hier. Da kann ich mir den Mund fus­se­lig reden davon, daß wir gekauft hät­ten vor der Explo­sion der Preise hier in der Gegend, daß wir trotz­dem noch die nächs­ten zehn Jahre daran zu zah­len hät­ten, und nein, das ist nicht unser Zweit­wohn­sitz, wir leben und arbei­ten hier dafür und ja, bringt vor allem Arbeit. Und Kos­ten. Will er gar nicht wis­sen, der Hand­wer­ker, die Tarife ste­hen. Schließ­lich wird noch die Mehr­wert­steuer auf­ge­schla­gen zu den Zuschlä­gen, obwohl, lei­der, das mit der Rech­nung dazu ein biß­chen dau­ern wird, ganz bestimmt aber, nur wäre die Sekre­tä­rin gerade krank oder der Com­pu­ter kaputt. Und Bezah­lung in bar wäre auch schön. Man kann's ja mal ver­su­chen, viel­leicht bin ich dop­pel­ten Aus­län­der­zu­schlag wert.

Zu allem Über­fluß stehe ich schließ­lich doch selbst im Tech­nik­häus­chen an Fil­ter und Pumpe und muß noch was nach­ar­bei­ten. Syl­va­ins Rohre trop­fen, am Fei­er­tag gibt es keine Hand­wer­ker, aber was glau­ben Sie denn. Samedi peut-être, Sams­tag viel­leicht. Genau das, was es eigent­lich zu ver­mei­den galt. Wie gesagt, ich habe noch kei­nen Hand­wer­ker ohne Abstri­che erlebt. Okay, ich weiß, das ist Jam­mern auf hohem Niveau, ich weiß. Wie das Jam­mern des Lam­bor­ghini-Fah­rers über alberne 110-Schil­der und die Brems­schwel­len allent­hal­ben. Geht eigent­lich nicht, kommt nicht gut an. Außer­dem ist hier Frank­reich, Süd­frank­reich, Côte d'Azur fast, das ganze Jahr Som­mer, Laven­del, Meer, Strand, fri­scher Fisch direkt vor der Tür, all die Kli­schees in echt und jeden Tag von Neuem, was wol­len Sie denn, das ist der Traum eines jeden Deut­schen, da will man sich doch wohl nicht ernst­haft bekla­gen!

Wahr­schein­lich bin ich unter all die­sen Diens­ten und nächt­li­chen Péri­du­ra­les, dem Alt­bau und trop­fen­den Roh­ren gereift für die Insel. Oder für's Klos­ter. Oder eine Hütte ganz weit oben. Ein paar Tage wür­den wohl schon rei­chen. Sieht momen­tan lei­der nicht danach aus. Jedes zweite Wochen­ende im Kran­ken­haus. Der Mai wird schlimm und das ist erst der Anfang vom Som­mer. Jeder der Kol­le­gen wird mal Urlaub haben, ich selbst ab Mitte August. Mitte August! Das ist noch lange hin. Wenn man zu denen gehört, die kei­nen Urlaub haben, zahlt man mit Sub­stanz an Kör­per, Seele und Geist. Und wenn ich mich nach ein paar Tagen Insel, Klos­ter oder Hütte frage, was mache ich hier eigent­lich den gan­zen Tag, kann's wei­ter­ge­hen.

Mit einer Péri­du­rale zum Bei­spiel. Jetzt, 21:54 Uhr. Das geht noch. Für Clai­res Erst­ge­bä­rende. Claire ist eine der Heb­am­men heute Nacht. Stammt aus Mar­seille. Lächelt deut­lich leich­ter mal als Clau­dia.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Agnès

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r sowas bin ich nun gar nicht der Rich­tige. Lei­der. Nein, ich bin auch nicht genervt. Es braucht schon mehr, mich zu ner­ven. So oft werde ich auch gar nicht um medi­zi­schen Rat gefragt. Meis­tens werde ich um Rezepte gebe­ten oder Cer­ti­fi­cats médicaux zur Teil­nahme an mehr oder weni­ger kom­pe­ti­ti­vem Sport. Mache ich ohne War­te­zim­mer und ohne zu mur­ren. Kos­ten­neu­tral. Pas de pro­blème.

Ich per­sön­lich betreibe prag­ma­ti­sche Sofort­med­zin. Und glaube daran. In mei­nen Schub­la­den habe ich rich­tige Medi­ka­mente. Ich inji­ziere was und das wirkt sofort. Sofort und signi­fi­kant. Der Inter­nist hat ja auch Medi­ka­mente, der Der­ma­to­loge Crè­mes und Tink­tu­ren. Das dau­ert aber Tage bis Wochen, bis man auch sieht, ob da was wirkt. Oft dann noch zu wenig, zuviel, anders, uner­wünscht. Mal abge­se­hen von Che­mo­the­ra­pie. Das wirkt auch sofort. Die meis­ten kot­zen inner­halb von Stun­den. Da sieht man wenigs­tens Wir­kung. Meine Mole­küle wir­ken sofort, inner­halb von Sekun­den, man­che schon in win­zi­gen Men­gen. Im ein­stel­li­gen Mikro­gramm­be­reich. Ein Mikro­gramm ist ein Mil­li­ons­tel Gramm. Ein Strand­sand­korn, zum Ver­gleich, wiegt immer­hin zwei­hun­dert Mikro­gramm. Mil­li­ons­tel Gramm erzeu­gen Wir­kung in der Aber-hallo-Kate­go­rie. Meis­tens ziemlich genau so, wie ich mir das vor­stelle. Wenn jemand schla­fen soll, schläft er in weni­ger als einer Minute. Von sol­chem Poten­tial kön­nen Inter­nist und Der­ma­to­loge nur träu­men.

Beim Homöo­pa­then bin ich mir nicht ein­mal sicher, ob er sich bei sei­nen Tees und Kügel­chen ernst­haft eine nach­weis­bare Wir­kung vor­stellt. Mal abge­se­hen von der, die er im Rah­men teu­rer Séances zu indok­tri­nie­ren sucht. Die Kügel­chen und Tröpf­chen sind ja so mole­kül­arm im ver­mu­te­ten Wirk­stoff, daß man wahr­schein­lich nicht mal all­er­gisch dar­auf reagie­ren kann. Die arbei­ten, wenn ich mich recht erin­nere, mit Ver­dün­nun­gen, die einer Tee­löf­fel­menge im Mit­tel­meer ent­spre­chen. Grö­ßen­ord­nungs­mä­ßig viel­leicht so wie unser Mond in der Milch­straße. Und auch das nur ab dem drit­ten Vier­tel des zuneh­men­den Monds. Bleibt die Hoff­nung auf den Pla­ce­bo­ef­fekt. Macht mei­nes Wis­sens bis zu drei­ßig Pro­zent der medi­zi­ni­schen Wir­kung aus. Außer in der Sofort­me­di­zin. In mei­nen Schub­la­den gibt es kei­nen Pla­ce­bo­ef­fekt.

Auf Wunsch mei­ner Frau, in der Hoff­nung auf eine Reduk­tion mei­ner angeb­li­chen Schlaf­ge­räu­sche, besuchte ich vor Jah­ren schon den HNO- Spe­zia­lis­ten ihrer Wahl. Der ver­mu­tete eine all­er­gi­sche Dis­po­si­tion, die sich sogar labor­me­di­zi­nisch nach­wei­sen ließ. Posi­ti­ves "Pha­dia­top". Nie gehört zuvor. Kommt nicht vor in mei­nem kli­ni­schen All­tag. Seitdem befinde ich mich in all­er­go­lo­gi­scher Behand­lung. Beim erst­bes­ten All­er­go­lo­gen mei­nes Centre hos­pi­ta­lier. Jede Monats­mitte die Sub­ku­tan-Desen­si­bi­li­sie­rung mit einer hoch­ver­dünn­ten und irgend­wie behan­del­ten All­er­gen­lö­sung. Wenn mein Fläsch­chen vor der Zeit leer ist, nimmt Schwes­ter Agnès ein­fach das eines ande­ren Pati­en­ten. Sowieso über­all das Glei­che drin, sagt sie. Alle All­er­gi­ker sind all­er­gisch auf Mil­ben und die eine oder andere getes­tete Polle. Und die All­er­gene sind sich oft auch ganz ähn­lich. Sagt der All­er­go­loge. Alle Jahre lädt er mich in seine Sprech­stunde Mon­tag Nach­mit­tag. Ob es denn bes­ser gewor­den wäre? Was eigent­lich, frage ich mich immer, das Pha­dia­top? Und sage, ja, klar, ich glaube schon. Ergänze: Ich brau­che weni­ger Anti­bio­tika mittler­weile. Stimmt sogar. Und der All­er­go­loge will ja was Posi­ti­ves hören. Weil mit der monat­li­chen Injek­tion sein Poten­tial erschöpft ist. Was soll er sonst machen? Kor­ti­son? Will ich nicht. Ich würde mir ein Medi­ka­ment so wie aus mei­nen Schub­la­den wün­schen. Prag­ma­ti­sche Sofort­me­di­zin.

Ich bin also nicht der rich­tige Ansprech­part­ner für einen Hin­weis auf einen kom­pe­ten­ten All­er­go­lo­gen oder Homöo­pa­then. Mein All­er­go­loge ist der Erst­beste. Homöo­pa­then traue ich nicht. Ich nehme an, es kommt beim All­er­go­lo­gen und dem Homöo­pa­then so wie beim Psy­cho­coach vor allem auf zwi­schen­mensch­li­che Qua­li­tä­ten an. Die Aus­strah­lung. Der Rest ist Glau­bens­sa­che.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

3947 Zei­chen für Aila. Zum Abdruck in der Mai/Juni-Aus­gabe der Riviera-Zeit.


Die ursprüng­li­che Ver­sion, gut zwei­tau­send Zei­chen mehr. Zuviel für die Kolumne. Der Voll­stän­dig­keit hal­ber.

Chris­tiane!

für sowas bin ich nun gar nicht der rich­tige. Lei­der. Ich würde Ihnen gerne hel­fen. Nein, ich bin auch nicht genervt. Es braucht schon mehr, mich zu ner­ven. So oft werde ich auch gar nicht um medi­zi­schen Rat gefragt. Meis­tens werde ich um Rezepte gebe­ten oder Atte­sta­ti­ons médi­ca­les zur Teil­nahme an mehr oder weni­ger kom­pe­ti­ti­vem Sport. Mache ich gerne und ohne zu mur­ren. Ich kann mir vor­stel­len, wie das ist, über Stun­den, das Kind schon lange hung­rig oder müde oder bei­des, im muf­fi­gen War­te­zim­mer des Haus­arz­tes zu hocken. Nur, um ein paar blöde Fra­gen gestellt zu bekom­men, einen Blu­druck gemes­sen und end­lich die Beschei­ni­gung aus­ge­stellt. Kann ich abkür­zen. Pas de pro­blème.

Ich würde Ihnen ja so gerne hel­fen, aber das passt so rein gar nicht zu mei­ner Art von Medi­zin. Ich betreibe prag­ma­ti­sche Sofort­med­zin. Und glaube daran. In mei­nen Schub­la­den habe ich rich­tige Medi­ka­mente. Ich spritze was und das wirkt sofort. Das wirkt sofort und signi­fi­kant. Der Inter­nist hat ja auch Medi­ka­mente, der Der­ma­to­loge Sal­ben und Crè­mes und Tink­tu­ren. Das dau­ert aber Tage bis Wochen, bis man auch sieht, ob da was wirkt. Oft dann noch nicht mal so, wie man es sich wün­schen würde. Zuwe­nig, zuviel, anders, uner­wünscht. Mal abge­se­hen von Che­mo­the­ra­pie. Das wirkt auch sofort. Die meis­ten kot­zen inner­halb von Stun­den. Da sieht man wenigs­tens Wir­kung. Obwohl dies ja eher in die Kate­go­rie "uner­wünscht" fällt. Aber immer­hin Wir­kung. Meine Mole­küle wir­ken sofort, wie gesagt, inner­halb von Sekun­den oder Minu­ten, man­che schon in win­zi­gen Men­gen. Im Mikro­gramm­be­reich. Ein Mikro­gramm, für die Arith­mo­pho­bi­ker unter uns, ist ein Mil­li­ons­tel Gramm. Ein Strand­sand­korn, zum Ver­gleich, wiegt immer­hin zwei­hun­dert Mikro­gramm. Mil­li­ons­tel Gramm erzeu­gen Wir­kung in der Aber-hallo-Kate­go­rie. Meis­tens auch so, wie ich mir das vor­stelle. Manch­mal zuviel, gele­gent­lich zuwe­nig, sel­ten anders, noch sel­te­ner uner­wünscht. Wenn Sie schla­fen sol­len, schla­fen Sie in weni­ger als einer Minute. Von sol­chem Poten­tial kön­nen Inter­nist und Der­ma­to­loge nur träu­men.

Beim Homöo­pa­then wäre ich mir nicht ein­mal sicher, ob er sich bei sei­nen Tees und Kügel­chen und was er da sonst noch im Reper­toire hat, über­haupt eine nach­weis­bare Wir­kung vor­stel­len kann. Mal abge­se­hen von der, die er im Rah­men teu­rer Séan­cen sei­ner Kli­en­tel zu indok­tri­nie­ren sucht. Die Behand­lung von All­er­gien zum Bei­spiel, Hist­amin­in­to­le­ranz oder Fibro­my­al­gie. Geschich­ten eben, wo die Lehr­me­di­zin frü­her oder spä­ter auf­gibt. Seien Sie froh, daß Sie keine Fibro­my­al­gie haben. Das ist anstren­gend. Für alle Betei­lig­ten. Ob der Homöo­path bei All­er­gie, Hist­amin­in­to­le­ranz oder Fibro­my­al­gie hel­fen kann, mag dahin­ge­stellt blei­ben. Des­sen Kügel­chen und Tröpf­chen sind ja so mole­kül­arm im ver­mu­te­ten Wirk­stoff, daß man wahr­schein­lich nicht mal all­er­gisch dar­auf reagie­ren kann. Die arbei­ten, wenn ich mich recht erin­nere, mit Ver­dün­nun­gen, die einer Tee­löf­fel­menge im Mit­tel­meer ent­spre­chen. Grö­ßen­ord­nungs­mä­ßig viel­leicht so wie unser Mond in der Milch­straße. Und auch das nur ab dem drit­ten Vier­tel des zuneh­men­den Monds. Okay, viel­leicht wie unser Son­nen­sys­tem in der Milch­straße. Egal. Das eine kann man sich so wenig wie das andere vor­stel­len. Auch ohne Dys­kal­ku­lie. Bleibt die Hoff­nung auf den Pla­ce­bo­ef­fekt. Macht mei­nes Wis­sens bis zu drei­ßig Pro­zent der medi­zi­ni­schen Wir­kung aus. Außer in der Sofort­me­di­zin. In mei­nen Schub­la­den gibt es kei­nen Pla­ce­bo­ef­fekt. Da ist alles echt.

Auf Wunsch mei­ner Frau, im Hin­blick auf eine Ver­bes­se­rung mei­ner audi­tiven Kapa­zi­tä­ten und vor allem in der Hoff­nung auf eine Reduk­tion mei­ner angeb­li­chen Schlaf­ge­räu­sche, besuchte ich vor Jah­ren schon den Spe­zia­lis­ten für otor­hi­no­la­ryn­go­lo­gi­sche Heil­kunde, ORL. HNO in Mit­tel­eu­ropa. Den Spe­zia­lis­ten ihrer Wahl. Der dia­gnos­ti­zierte "min­der­wer­tige Schleim­haut" und dazu pas­send eine all­er­gi­sche Dis­po­si­tion, die sich sogar labor­me­di­zi­nisch nach­wei­sen ließ. Posi­ti­ves "Pha­dia­top". Nie gehört zuvor. In mei­nem kli­ni­schen All­tag kommt das Pha­dia­top nicht vor. Seit Jah­ren schon befinde ich mich trotz­dem in all­er­go­lo­gi­scher Behand­lung. Beim erst­bes­ten All­er­go­lo­gen mei­nes Centre hos­pi­ta­lier. Desen­si­bi­li­sie­rung. Jede Monats­mitte die Sub­ku­ta­nin­jek­tion einer hoch­ver­dünn­ten und irgend­wie behan­del­ten All­er­gen­lö­sung. Wenn mein Fläsch­chen mal wie­der vor der Zeit leer ist (wie kann das nur kom­men?), nimmt Schwes­ter Agnès ein­fach die Ampulle eines ande­ren Pati­en­ten. Sowieso über­all das Glei­che drin, sagt sie. Alle All­er­gi­ker sind all­er­gisch auf Mil­ben und die eine oder andere getes­tete Polle. Und die All­er­gene sind sich oft auch ganz ähn­lich. Sagt der zustän­dige All­er­go­loge, der zweite Nach­fol­ger inzwi­schen. Fragt man sich, warum dann knapp zwan­zig ver­schie­dene All­er­gene getes­tet wur­den. Alle Jahre lädt er mich in seine Sprech­stunde Mon­tag Nach­mit­tag. Ob es denn bes­ser gewor­den wäre? Was eigent­lich, frage ich mich dann immer. Und sage, ja, klar, ich glaube schon. Ergänze: Weni­ger Neben­höh­len­pro­bleme hätte ich mitt­ler­weile, weni­ger Anti­bio­ti­ka­be­darf. Stimmt sogar. Der will ja was Posi­ti­ves hören, der All­er­go­loge. Weil mit der monat­li­chen Injek­tion sein Poten­tial bereits erschöpft ist. Was soll er sonst machen? Kor­ti­son? Oder er kann mir noch ein paar Jahre Sun­ku­ta­nin­jek­tion drauf­schla­gen. Will ich das? Ich würde mir ein Medi­ka­ment so wie aus mei­nen Schub­la­den wün­schen. Prag­ma­ti­sche Sofort­me­di­zin.

Ich bin, liebe Chris­tiane,

also nicht der rich­tige Ansprech­part­ner für einen Hin­weis auf einen kom­pe­ten­ten All­er­go­lo­gen und/oder Homöo­pa­then. Mein All­er­go­loge ist, wie gesagt, der Erst­beste. Und ich befürchte mal, sie sind alle so. Zu weit weg von Ihnen zudem. In Ihrer Gegend wüßte ich schon gleich gar nie­man­den. Homöo­pa­then traue ich nicht. Ich nehme an, es kommt beim All­er­go­lo­gen so wie beim Psy­cho­coach und dem Gynä­ko­lo­gen vor allem auf zwi­schen­mensch­li­che Qua­li­tä­ten an. Die Aus­strah­lung. Beim Gynä­ko­lo­gen viel­leicht noch le tou­cher. Nicht zuviel davon und nicht zu wenig. Das ist sehr indi­vi­du­ell. Und, man muß daran glau­ben.




Martenstein

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"An intel­lec­tual is a man who takes more words than necessary to tell more than he knows." – Dwight D. Eisen­hower

Il n'est pas intel­lec­tuel!

Der Anäs­the­sie-Pfle­ger sitzt mit der Kol­legin in mei­nem Büro. Sie spre­chen über Grie­chen­land. Die grie­chi­schen Schul­den. Schul­den, die man den Grie­chen ja auch erlas­sen könnte. Ob man das so ein­fach kann, frage ich mich. Was ver­stehe ich schon davon? So wie man den Deut­schen ja auch schon immer wie­der Schul­den erlas­sen hätte, sagt der Pfle­ger. Wirt­schaft­lich hät­ten die Deut­schen sich ja nie­mals zu der Kraft auf­schwingen kön­nen, die sie heute dar­stellen, wenn man ihnen nicht ihre Schul­den erlas­sen hätte. Damals, nach dem Krieg. Sagt der Pfle­ger und die Kol­legin stimmt zu. Stimmt wohl, denke ich mir. Deutsch­land würde immer noch an den Schul­den der Nazis bei den Grie­chen bezah­len. Zum Bei­spiel. Ich habe davon gele­sen. Bei SPIEGEL ONLINE wahr­schein­lich. Was aber weiß ich schon wirk­lich dar­über? Zuwe­nig. Ich könnte Phra­sen auf BILD-Ni­­veau zur Dis­kus­sion bei­steuern. Bes­ser nicht. Ich ziehe mein Grün­zeug an, werfe mei­nen Kit­tel über und ver­ab­schiede mich: ich geh' dann mal was arbei­ten. Ich hätte auch sagen kön­nen: ich geh' dann mal eine rau­chen. Genauso faden­schei­nig. Glaubt mir kei­ner.

Il n'est pas intel­lec­tuel!

Sagt der Pfle­ger da und lacht erstaunt. Der ist nicht intel­lek­tuell! Sagt er im Ton­fall wie stimmt ja, du hast ja so recht. Für anspruchs­vol­len Erkennt­nis­ge­winn ist der nicht zu haben. Der ist ganz und gar nicht intel­lek­tuell! Dritte Per­son Sin­gular. Der Pfle­ger spricht über mich. Er hat mit der Kol­le­gin schon über mich gere­det. Die Kol­legin hat ihm viel­leicht von mei­nem Blog erzählt. Der ist ja auch nicht wirk­lich intel­lek­tu­ell. Unter­halt­sam, sagt sie. Hin­ter dem grü­nen Tuch viel­leicht, nachts um halb fünf, zu einer lang­wei­li­gen Nar­kose, kann man nett plau­dern. Oder zu einem Glas Wein in einem klei­nen Restau­rant mit Mee­res­rau­schen. Aber das ist pure Spe­ku­la­tion. Sie, die Kol­le­gin, gab sich — mir gegen­über — als, nun ja, zumin­dest kon­se­quente Lese­rin. Unter­halt­sam eben. Einer­seits. Und spricht dem Pfle­ger von der Schwierig­keit, Dis­kus­sionen zu kom­ple­xer The­ma­tik mit mir zu füh­ren. Scheint es. Ande­rer­seits. Es gibt so The­men, die mich nicht inter­es­sie­ren, die mir keine Freude berei­ten. Reli­giö­ser Kon­text zum Bei­spiel. Nicht mein Ding. Ich stehe dazu. Ist mir zu fremd, macht mir Beklem­mun­gen. Ich will ja auch nie­man­den belei­di­gen. Ich gebe mich bei sol­chen The­men betont ein­sil­big. Ver­mei­dungs­hal­tung. Oder über Anäs­thesie. Anäs­the­sis­ten reden gerne über Inhalte ihres Fach­ge­biets. Je klei­ner das Fach­ge­biet, desto mehr kann dar­über gere­det wer­den. Selbst erlebte Fälle. Chir­ur­gen krie­gen da gerne die Rolle kar­ni­fi­zier­ter Inkom­pen­tenz ab. Pas­siert mir auch. Ist eben so. Manch­mal. Jeder macht mal Feh­ler. Wei­ter­bil­dungs­theo­re­tik. Theo­re­ti­sche Erwä­gun­gen zum Ver­hal­ten irgend­wel­cher Rezep­to­ren sind mir zu abge­ho­ben. Zu intel­lek­tu­ell quasi. Das Ver­hal­ten von Rezep­to­ren inter­es­siert mich nur bei unmit­tel­ba­rem Bezug zum geleb­tem Arbeits­all­tag. Ansons­ten prä­sen­tiere ich die bewährte Ver­mei­dungs­hal­tung. Ein­sil­big­keit.

Zu vie­len The­men feh­len mir Ein­zel­hei­ten im Hin­ter­grund­wis­sen. Ich müßte noch deut­lich mehr recher­chie­ren, um halb­wegs kom­pe­tent mit­re­den zu kön­nen. Unwis­sen macht mich ein­sil­big. Wirkt ein biß­chen wenig intel­lek­tu­ell, unge­bil­det. Da hatte der Pfle­ger schon recht. War auch irgend­wie pein­lich.

Vor kur­zem stieß ich im ZEIT-Maga­zin auf eine Kolumne von Harald Mar­ten­stein über die Schwer­hö­rig­keit. Fand ich sehr gut, die Kolumne. Herrn Mar­ten­stein gelingt es, sich aus mani­fes­ter Schwer­hö­rig­keit her­aus als "nach­denk­li­cher Intel­lek­tu­el­ler" dar­zu­stel­len. Wenn er was nicht hört oder ver­steht, sagt er ein­fach "Ich glaube, dar­über muss ich erst mal eine Weile nach­den­ken". Das könnte, dachte ich mir dann, auch zur Abwehr uner­freu­li­cher Erör­te­run­gen funk­tio­nie­ren. Was denkst du denn zu den grie­chi­schen Schul­den, Bertram? Ich glaube, dar­über muss ich erst mal eine Weile nach­den­ken. Hätte ich auch sagen kön­nen. Statt "ich geh' dann mal was arbei­ten" oder "ich geh' dann mal eine rau­chen".

Ich fand die Kolumne von Herrn Mar­ten­stein auch inter­es­sant, weil ich mich mit Schwer­hö­ri­gen iden­ti­fi­zie­ren kann. Ich bin auch schwer­hö­rig. Sagt meine Frau zumin­dest. Fällt ihr vor allem auf, wenn wir mor­gens Ein­zel­hei­ten zur Orga­ni­sa­tion des bevor­ste­hen­den Tages erör­tern. Wenn ich gerade unter der Dusche stehe. Und sie sich die Zähne putzt. Wenn ich gar nichts ver­stehe, muß ich öfter mal nach­fra­gen. Das nervt sie. Wann kaufst du dir end­lich ein Hör­ge­rät? Wobei diese Din­ger mei­nes Wis­sens doch gar nicht was­ser­fest sind. Unter der Dusche und somit ohne Hör­ge­rät würde ich dann immer noch nichts ver­ste­hen. Manch­mal ver­stehe ich im Grund­rau­schen von Dusche und Zahn­bürste ein­zelne Worte. Schule zum Bei­spiel oder Kin­der oder Dienst. Wahr­schein­lich soll ich die Kin­der von der Schule abho­len oder sie fragt, ob ich Dienst habe. Mor­gens im Bade­zim­mer reden wir eher sel­ten über Euro­pa­po­li­tik oder Rezep­to­ren­dy­na­mik. In aller Regel geht es um eher banale Ange­le­gen­hei­ten. Kin­der, Ein­kau­fen, Arbeit. Dann kann ich sagen, weiß ich noch nicht oder muß ich gleich mal nach­se­hen. Das funk­tio­niert ganz gut. Wenig spä­ter, in der Küche, kriege ich die glei­che Frage nor­ma­ler­weise noch mal gestellt. Unter wesent­lich bes­se­ren akus­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen. Weißt du inzwi­schen, ob du Dienst hast, hast du nach­ge­se­hen, ob du die Kin­der abho­len kannst? In der Küche ver­stehe ich meine Frau sehr gut. Solange es nicht ums Kochen geht. Und wenn sie nicht gleich­zei­tig die What-else-Maschine betä­tigt oder den Kap­sel­be­häl­ter in den Müll­ei­mer ent­leert. In die­sem Kon­text werde ich schnell wie­der ein Kan­di­dat für die Hör­hilfe.

Oder setze mich, weil ich zum wie­der­hol­ten Male nicht ver­stehe, ernst­haf­ten Zwei­feln an mei­ner intel­lek­tu­el­len Ver­fas­sung aus.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr