"Otherwise explodes a bomb!"

Hallo Boris, cher ami,

vor vie­len Jah­ren, zu Beginn einer Tür­kei­reise mit mei­nem Schwie­ger­va­ter, hatte ich mir einen Leih­wa­gen zum Hotel bestellt. An einem Mon­tag Mor­gen, acht Uhr. Bereits eine Minute nach acht Uhr konnte mein Schwie­ger­va­ter, immer­hin der Bedeu­tendste Lebende Bild­hauer Schles­wig-Hol­steins Und Angren­zen­der Ter­ri­to­rien, seine Unge­duld kaum ver­heh­len. Er fuhr einen der Pagen, die gelang­weilt unsere Kof­fer bewach­ten, an, er solle doch mal in der Agen­tur nach­fra­gen. Jetzt. Sofort. Call the agency! Imme­dia­tely! Der Page, ganz ver­dutzt, was sollte er denn mit die­sem blö­den Leih­wa­gen zu tun haben, ver­schwand eilig im Hotel. Wäh­rend­des­sen kul­ti­vierte mein Schwie­ger­va­ter seine Unge­duld. Kri­tik wurde auch mir zuteil. Was das denn für eine win­dige Firma wäre, mit Hertz oder Avis wäre mir das nicht pas­siert, ob ich denn sicher wäre, dass ich wirk­lich eine Reser­vie­rung getä­tigt hätte, das hätte man nun von mei­ner schwä­bi­schen Spar­sam­keit. Keine zehn Minu­ten spä­ter kam der Page zurück. Fand ich erstaun­lich. Ich meine, dass er über­haupt zurück­kam. Aber er kannte eben mei­nen Schwie­ger­va­ter nicht. Musste zudem zuge­ben, nie­man­den erreicht zu haben. Maybe too early, ergänzte er noch. War ehr­lich, aber stra­te­gisch unklug. Too early! Das ging nun gar nicht. Nicht mit mei­nem Schwie­ger­va­ter. Too early gibt es nicht! Mein Schwie­ger­va­ter konnte sei­nen Zorn nicht mehr unter Kon­trolle hal­ten. Zehn Minu­ten über der Zeit immer­hin schon. Wenn jetzt nicht sofort die­ser Wagen käme, brüllte er, dann…, dann… – OTHERWISE EXPLODES A BOMB! Könnte man heut­zu­tage, d'ailleurs, auch nicht mehr ein­fach unge­straft raus­las­sen.

Dein Brief, cher ami, an Orange (frü­her France Télé­com, außer dem Namen hat sich aber nicht viel geän­dert, Anmer­kung der Redak­tion) erin­nert mich so ein biss­chen an den Auf­tritt mei­nes Schwie­ger­va­ters damals.

Nous som­mes très con­tra­riés! Finde ich sti­lis­tisch sehr schön, Eure Ver­är­ge­rung im Klar­text zu beto­nen. Obwohl Deine Ent­rüs­tung und auch Deine Ent­täu­schung, bis auf Klei­nig­kei­ten ortho­gra­phisch weit­ge­hend feh­ler­frei übri­gens, dem Adres­sa­ten eigent­lich nicht ver­bor­gen blei­ben kön­nen. Ich teile jedoch Deine Befürch­tung, die Sach­be­ar­bei­ter bei Orange könn­ten nur wenig Sinn für die seman­ti­schen Fein­hei­ten Dei­ner wohl­ge­schlif­fe­nen Sätze auf­brin­gen wol­len. Des­we­gen Klar­text: Nous som­mes très con­tra­riés! Ande­rer­seits möchte ich jedoch die prin­zi­pi­ell zwei­fel­hafte Moti­va­tion der Mit­ar­bei­ter die­ser quasi-staat­li­chen Struk­tur zu beden­ken geben: Was hat denn irgend­ein Mon­sieur oder irgend­eine Madame von Orange mit dem Tele­fon eines Aus­län­ders in des­sen Zweit­re­si­denz am Ende eines stau­bi­gen Feld­wegs zwi­schen Laven­del­plan­ta­gen im Lub­é­ron zu tun? Kün­di­gen wol­len Sie? Nur zu. Dann blei­ben Sie eben ganz ohne Tele­fon. Am Ende Ihres stau­bi­gen Feld­wegs gibt es höchst­wahr­schein­lich nicht ein­mal Spu­ren eines Mobil­funk­netz­tes. Wir kön­nen Ihnen dann auch nicht mehr hel­fen. Wol­len wir auch gar nicht. Denn, wis­sen Sie, wir sind eine quasi-staat­li­che Struk­tur. Eine quasi-staat­li­che Struk­tur en France! Wir fol­gen unse­ren eige­nen Gesetz­mä­ßig­kei­ten. Und Druck machen las­sen wir uns schon mal gar nicht. Außer­dem haben wir gerade Som­mer­fe­rien. Und dann la ren­trée, Schul­an­fang. In Frank­reich, soll­ten Sie mitt­ler­weile doch wis­sen, ist der Schul­an­fang so hei­lig wie Ascen­sion oder Weih­nach­ten. Vor Mitte Sep­tem­ber bewegt sich bei uns gar nichts. Kom­men Sie also bloß nicht auf die Idee, uns Ulti­ma­ten stel­len zu wol­len!

Dein Pro­test­schrei­ben wurde, ver­mut­lich nicht vor Ende Juli, zur all­ge­mei­nen Erhei­te­rung der gesam­ten Beleg­schaft anläss­lich einer Bespre­chung zur Pla­nung der Weih­nachts­fe­rien ver­le­sen. Bestimmt haben sie da einen Jean-Bap­tiste oder eine Marie-Jeanne, die jeden Text aus Deutsch­land mit der grau­si­gen Ton­lage eines Sturm­bann­füh­rers vor­tra­gen kön­nen. Oder der Karl Lager­felds. Fran­zo­sen ste­hen auf sowas, beschert ihnen regel­mä­ßig eine bei­nahe woh­lige Gän­se­haut. Viel­fach kopiert ver­gilbt Dein Pam­phlet seit­dem an den Innen­sei­ten diver­ser Klo­tü­ren und wurde sogar auf hei­mi­sche Kühl­schränke gepinnt. Nous som­mes très con­tra­riés ist bei Orange zum geflü­gel­ten Wort gewor­den. Kann man zu fast jeder Gele­gen­heit anbrin­gen. Zu den mal wie­der mat­schi­gen Pom­mes in der Kan­tine ebenso wie der all­ge­mei­nen Über­las­tung. Ich hatte schon drei Anrufe heute! Drei! Nous som­mes très con­tra­riés! Hahaha.

Ver­mut­lich, cher ami, weißt Du das alles. Oder kannst Dir das als Frank­reich-Vete­ran bes­tens vor­stel­len.

Ande­rer­seits sind meine Erfah­run­gen mit der 3900-Hot­line gar nicht so schlecht. Wenn man erst­mal an der Reihe ist, das kann natür­lich dau­ern, geben sie sich freund­lich und zuge­wandt, zuver­sicht­lich und gera­dezu kom­pe­tent. Kön­nen erstaun­lich prä­zise Fern­dia­gnos­tik betrei­ben und geben über­aus prä­zise Details zu ergrei­fen­den Maß­nah­men zum Bes­ten. Ver­spre­chen Repa­ra­tur inner­halb von zwei, drei Tagen und hal­ten sich sogar meis­tens daran. Im Rah­men der orts­üb­li­chen Gege­ben­hei­ten eben. Ich rufe bei nächs­ter Gele­gen­heit mal an bei der 3900. Und halte Dich auf dem Lau­fen­den.

Bis Mitte Sep­tem­ber wird alles gut sein. Bestimmt.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Schön haben Sie's hier

Einer von die­sen gro­ßen Bäu­men ist tot. Ein Euka­lyp­tus. Bestimmt zwan­zig Meter hoch, unten ein Durch­mes­ser von fast einem Meter. Die Haus­ver­wal­tung der Appar­te­ment­an­lage nebenan hatte mich dar­auf hin­ge­wie­sen. Ména­çant, bedroh­lich sei das. Die Haus­ver­wal­tung hat recht. Dies­mal schon. Sie haben immer was an mei­nen Bäu­men aus­zu­set­zen. Zu viele Blät­ter, zu viele Blü­ten, zu viele Eicheln, Äste auf der fal­schen Seite des Zauns. Dies­mal haben sie recht. Wenn der Baum umfiele Rich­tung Appar­te­ment­an­lage, würde er Bal­kone mit­neh­men und auf dem Park­platz ein regel­rech­tes Mas­sa­ker anrich­ten. Zahl­lose Autos. Schlimms­ten­falls Men­schen. Papa auf dem Weg zur Arbeit, Mama mit Kin­dern auf dem Weg zur Schule. Wer weiß schon, wann der Baum umfällt. So ein toter Baum ist unbe­re­chen­bar. Drin­gen­der Hand­lungs­be­darf.

Schön haben Sie's hier. Der Baum­spe­zia­li­sist. Ein Spe­zia­list für das Fäl­len gro­ßer Bäume unter best­mög­li­cher Scho­nung der Umge­bung. Aus meh­re­ren Kos­ten­vor­anschlä­gen, min­des­tens zwei, werde ich den güns­tigs­ten aus­wäh­len. Die­ser Spe­zia­list, weiß ich aus Erfah­rung, wird den Zuschlag ver­mut­lich nicht bekom­men. Hand­wer­ker und Dienst­leis­ter, die als ers­tes schön haben Sie's hier sagen, brin­gen in ihre Kal­ku­la­tion den Schön-haben-Sie's-hier-Zuschlag ein. Min­des­tens zwan­zig Pro­zent. Schon am Tele­fon zur Ver­ein­ba­rung unse­res Ren­dez­vous war ver­mut­lich schon der erste Zuschlag zur Pro­fit­ma­xi­mie­rung fäl­lig gewor­den. Etwas har­ter teu­to­ni­scher Akzent. Aus­län­der­zu­schlag.

Vor ein paar Jah­ren war spät abends mal ein Ast abge­fal­len von einem die­ser gro­ßen Bäume. Ein­fach so. War wohl ein biss­chen mod­rig am Ansatz. Konnte man nicht vor­her­se­hen. Fiel eines Abends ein­fach ab und quer über den Park­platz der Appar­te­ment­an­lage. Gegen elf Uhr klopfte mich die Poli­zei aus dem Bett. Ob ich das nicht gehört hätte? – Was denn? – Na, mei­nen Baum, der gerade umge­fal­len wäre. Ich hatte nichts gehört. Eine Alarm­an­lage viel­leicht frü­her am Abend. Alarm­an­la­gen geben hier stän­dig Alarm. Auf dem Park­platz der Appart­ment­e­an­lage Kata­stro­phen-Sze­na­rio. Mein Baum lag quer über den Park­platz, die letz­ten Zweige direkt vor dem Ein­gangs­be­reich. Blau­licht von Poli­zei und Feu­er­wehr. Schein­wer­fer, Ket­ten­sä­gen. Rat­los umher­ste­hende Men­schen. Ich musste mein Bedau­ern zum Aus­druck brin­gen und For­mu­lare für die Ver­si­che­run­gen aus­fül­len.

Das wäre ja nicht ganz ein­fach, sagte der Baum­spe­zia­list, so dicht am Park­platz und an den ande­ren Bäu­men. So groß der Baum, so dick, so schwer. Euka­lyp­tus sei schwe­res Holz, selbst wenn es tro­cken ist und tot, außer­dem fase­rig und hart, erklärte der Baum­spe­zia­list. Viel schwe­rer zu bear­bei­ten noch als Eiche. Redete von Absper­run­gen auf dem Park­platz nebenan und Hebe­büh­nen, Spe­zi­al­ket­ten für seine Sägen. Euka­lyp­tus-Spe­zi­al­ket­ten. Min­des­tens drei Mann. Wahr­schein­lich ein gan­zer Tag. Extra­kos­ten für die Ent­sor­gung. Logisch. Damit würde er spä­ter im Ange­bot noch einen Wahn­sin­nig-schwie­rig-Zuschlag recht­fer­ti­gen. Dem Aus­län­der, der so wohnt, kann man bestimmt alles ver­kau­fen. Hat ja ver­mut­lich keine Ahnung, der Aus­län­der.

Damals waren fünf Autos zu Scha­den gekom­men. Zum Glück kein Per­so­nen­scha­den. Nicht aus­zu­den­ken, wenn Men­schen zu Scha­den gekom­men wären. Nur Autos. Eines davon Total­scha­den. Ver­mut­lich. Es sah zumin­dest nach Total­scha­den aus. Das Auto war ein Samm­ler­stück, sagte der Besit­zer, ergänzte aller­lei tech­ni­sche Details. Son­der­an­fer­ti­gung, viele Zylin­der. Was ver­stehe ich von Autos? Ein Auto ist gut, wenn es nicht jedes Jahr in die Werk­statt muss. Das Samm­ler­stück war ein Mer­ce­des. Einer von die­sen unver­wüst­li­chen, die Aber­mil­lio­nen von Kilo­me­tern schaf­fen. Nicht tot zu krie­gen. Mein Vater hatte mal so einen. So ein Modell von frü­her, ein Mani­fest gedie­ge­ner schwä­bi­scher Zuver­läs­sig­keit bar jeg­li­cher Ele­ganz. Mein Vater konnte sich nicht damit anfreun­den. Sein ers­ter und letz­ter Die­sel. Nie wie­der Die­sel. Der ein­zige Die­sel mei­nes Vaters fährt bestimmt noch irgendwo in Afrika als Taxi.

Auf dem Rück­weg zu sei­nem groß­rah­mi­gen SUV aus Bay­ern plau­der­ten wir noch ein wenig. Ich musste klar­stel­len, dass ich kein Bel­gier sei und dies hier nicht mein Zweit­wohn­sitz. Bel­gier sind min­des­tens ebenso unbe­liebt wie pari­si­ens und damit Zuschlags­an­wär­ter. Zweit­wohn­sitz geht ohne­hin nicht. Sol­chen Leu­ten muss man Geld abneh­men, wo es nur geht. Dass ich nicht im Urlaub hier wäre, son­dern in Frank­reich arbei­ten würde, ange­stellt im Kran­ken­haus. Bel­gier- und Zweit­wohn­sitz-Zuschlag wür­den sich trotz­dem im Ange­bot nie­der­schla­gen, ahnte ich. Unaus­ge­spro­chen. Dazu noch der Dok­tor­zu­schlag. Auch unaus­ge­spro­chen natür­lich.

Das Samm­ler­stück sah wirk­lich nicht gut aus. Das Dach ein­ge­drückt, fast alle Schei­ben in klei­nen Krü­meln. Zudem hatte ein Zweig des Asts den Motor durch­bohrt. Rich­tig tot. Erin­nerte mich an Dra­cula-Filme. Erst ein durchs Herz getrie­be­ner Holz­pf­lock bringt den Unto­ten die letzte Ruhe. Der Besit­zer würde diese Asso­zia­tion nicht so komisch fin­den, er hatte Trä­nen in den Augen. Was über­haupt hat ein angeb­lich so wert­vol­les Auto auf dem Park­platz einer Appar­te­ment­an­lage zu suchen, dachte ich mir. Ein Mer­ce­des sei ja eigent­lich nicht tot zu krie­gen, ver­suchte ich den trau­ri­gen Besit­zer zu trös­ten, mein Vater hätte auch so einen. Seit vie­len Jah­ren schon. Unver­wüst­lich. Sein gan­zer Stolz. Und bestimmt sei der Wagen ja ent­spre­chend sei­nes Werts ver­si­chert. Bei Mer­ce­des krie­gen die das bestimmt wie­der hin.

Zwei Tage spä­ter eine Mail mit dem devis, dem Ange­bot. 1 800 Euro HT, hors taxes, ohne Mehr­wert­steuer. Sämt­li­che Zuschläge offen­bar rea­li­siert. Mehr­wert­steuer noch­mal zwan­zig Pro­zent. Das kenne ich schon. Machen Maler, Klemp­ner, Mau­rer auch gerne so. Fan­gen an mit ihrem Schön-haben-Sie's-hier, den­ken sich einen pas­sen­den Zuschlag dafür, ergän­zen die­sen zunächst mit dem Wahn­sin­nig-schwie­rig-Zuschlag und ver­voll­stän­di­gen groß­zü­gig auf­grund ver­mut­lich bel­gi­schen Akzents, Zweit­woh­nung und Dok­tor. Mehr­wert­steuer, ja, lei­der. – Maxime, ein jun­ger Baum­spe­zia­list aus dem Dorf, macht den Baum mit einem Kum­pel an einem Sams­tag-Vor­mit­tag um. Ohne Absper­rung, ohne Hebe­büh­nen, ohne Kol­la­te­ral­scha­den. Eine Son­der­re­ge­lung als Jung­un­ter­neh­mer erlaubt ihm den Ver­zicht auf die Mehr­wert­steuer. Vier­hun­dert Euro. Maxime ist Anfän­ger im Spe­zia­lis­ten-Gewerbe.

Schön haben Sie's hier.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.


Für Aila von der Rivie­r­a­Zeit die auf gut vier­tau­send Zei­chen geschrumpfte Ver­sion

Einer von die­sen gro­ßen Bäu­men ist tot. Ein Euka­lyp­tus. Bestimmt zwan­zig Meter hoch, unten ein Durch­mes­ser von einem Meter. Die Haus­ver­wal­tungder Appart­ment­an­lage nebenan hatte mich dar­auf hin­ge­wie­sen.Ména­çant, bedroh­lich sei das. Die Haus­ver­wal­tung hat recht. Wenn der Baum umfällt Rich­tung Appart­ment­an­lage, würde er Bal­kone mit­neh­men und auf dem Park­platz ein Mas­sa­ker anrich­ten. Zahl­lose Auto. Schlimms­ten­falls Men­schen. Wer weiß, wann der Baum umfällt. Drin­gen­der Hand­lungs­be­darf.

Schön haben Sie's hier. Der Baum­spe­zia­li­sist. Ein Spe­zia­list für das Fäl­len gro­ßer Bäume unter best­mög­li­cher Scho­nung der Umge­bung. Aus meh­re­ren Kos­ten­vor­anschlä­gen werde ich den güns­tigs­ten aus­wäh­len. Die­ser Spe­zia­list wird den Zuschlag ver­mut­lich nicht bekom­men. Hand­wer­ker und Dienst­leis­ter, die als ers­tes schön haben Sie's hier sagen, brin­gen in ihre Kal­ku­la­tion den Schön-haben-Sie's-hier-Zuschlag ein. Min­des­tens zwan­zig Pro­zent. Schon am Tele­fon zur Ver­ein­ba­rung unse­res Ren­dez­vous war ver­mut­lich schon der erste Zuschlag fäl­lig gewor­den. Etwas har­ter teu­to­ni­scher Akzent. Aus­län­der­zu­schlag.

Vor ein paar Jah­ren war spät abends mal ein Ast abge­fal­len von einem die­ser gro­ßen Bäume. Ein­fach so, unvor­her­seh­bar. Fiel eines Abends ab und quer über den Park­platz der Appart­ment­an­lage. Gegen elf Uhr klopfte mich die Poli­zei aus dem Bett. Auf dem Park­platz der Appart­ment­an­lage herrschte Kata­stro­phen­stim­mung. Der Ast lag quer über den Park­platz, die letz­ten Zweige direkt vor dem Ein­gangs­be­reich. Blau­licht von Poli­zei und Feu­er­wehr. Schein­wer­fer, Ket­ten­sä­gen. Rat­los umher­ste­hende Men­schen. Ich musste mein Bedau­ern zum Aus­druck brin­gen und For­mu­lare für die Ver­si­che­run­gen aus­fül­len.

Das wäre ja nicht ganz ein­fach, sagte der Baum­spe­zia­list, so dicht am Park­platz und an den ande­ren Bäu­men, so groß, so dick, so schwer. Euka­lyp­tus ist schwe­res Holz, auch tro­cken und tot, außer­dem fase­rig und hart, erklärte der Baum­spe­zia­list. Viel schwe­rer zu bear­bei­ten noch als Eiche. Redete von Absper­run­gen auf dem Park­platz nebenan und Hebe­büh­nen, Spe­zi­al­ket­ten für seine Sägen. Euka­lyp­tus-Spe­zi­al­ket­ten. Min­des­tens drei Mann. Wahr­schein­lich ein gan­zer Tag. Extra­kos­ten für die Ent­sor­gung. Logisch. Damit würde er spä­ter im Ange­bot den Wahn­sin­nig-schwie­rig-Zuschlag recht­fer­ti­gen. Dem Aus­län­der, der so wohnt, kann man bestimmt alles ver­kau­fen. Hat ja ver­mut­lich keine Ahnung, der Aus­län­der. Dar­auf die Mehr­wert­steuer. Auch zwan­zig Pro­zent.

Damals waren fünf Autos zu Scha­den gekom­men. Zum Glück kein Per­so­nen­scha­den. Nicht aus­zu­den­ken, wenn Men­schen zu Scha­den gekom­men wären. Nur Autos. Eines davon sah nach Total­scha­den aus. Ein Mer­ce­des. Einer von die­sen unver­wüst­li­chen, die Aber­mil­lio­nen von Kilo­me­tern schaf­fen. So ein Modell von frü­her, ein Mani­fest gedie­ge­ner schwä­bi­scher Zuver­läs­sig­keit bar jeg­li­cher Ele­ganz. Nicht tot zu krie­gen. Ein Samm­ler­stück, sagte der Besit­zer mit Trä­nen in den Augen, ergänzte aller­lei tech­ni­sche Details. Son­der­an­fer­ti­gung, viele Zylin­der. Das Samm­ler­stück sah wirk­lich nicht gut aus. Das Dach ein­ge­drückt, fast alle Schei­ben in klei­nen Krü­meln. Zudem hatte ein Zweig des Asts den Motor durch­bohrt. Rich­tig tot. Ein Mer­ce­des sei ja eigent­lich nicht tot zu krie­gen, ver­suchte ich den trau­ri­gen Besit­zer zu trös­ten, mein Vater hätte auch so einen. Seit vie­len Jah­ren schon. Unver­wüst­lich. Und bestimmt sei der Wagen ja ent­spre­chend sei­nes Werts ver­si­chert. Das krie­gen die bei Mer­ce­des bestimmt wie­der hin.

Auf dem Rück­weg zu sei­nem groß­rah­mi­gen SUV aus Bay­ern plau­der­ten wir noch ein wenig. Ich musste klar­stel­len, dass ich kein Bel­gier sei und dies hier nicht mein Zweit­wohn­sitz. Bel­gier- und Zweit­wohn­sitz-Zuschlag wür­den sich trotz­dem im Ange­bot nie­der­schla­gen. Dazu noch der Dok­tor­zu­schlag. Zwei Tage spä­ter kam eine Mail mit dem Ange­bot. 1 800 Euro hors taxes, ohne Mehr­wert­steuer. Sämt­li­che Zuschläge offen­bar dis­kret inbe­grif­fen. Maxime, ein jun­ger Baum­spe­zia­list aus der Dorf, macht das mit einem Kum­pel an einem Sams­tag-Vor­mit­tag. Ohne Absper­rung, ohne Hebe­büh­nen, ohne Kol­la­te­ral­scha­den, ohne Mehr­wert­steuer. Vier­hun­dert Euro.

Schön haben Sie's hier.

Frédéric

Frédé­ric ist der Neu­ro­loge. Der Neu­ro­loge. Die Par­kin­son-Kory­phäe der Region. Er gilt zumin­dest als Par­kin­son-Kory­phäe. Gibt halt kei­nen ande­ren Neu­ro­lo­gen in der Nähe. Ter­min Diens­tag abends um halb sie­ben. Stau auf der Auto­bahn, wahr­schein­lich der Tun­nel zu. Der Tun­nel schließt gerne mal zur Rush hour. Ich nahm Schleich­wege und schickte ihm eine kurze sms. Bouchons, retard de 5 minu­tes, désolé. Stau, 5 Minu­ten Ver­spä­tung, tut mir leid. Was man eben so kurz gefasst schrei­ben kann mit der ande­ren Hand am Lenk­rad. Eigent­lich unver­ant­wort­lich, Tele­fon am Steuer, ich weiß. Ich lasse nur sehr ungern jeman­den war­ten. Schon gleich gar nicht die Kory­phäe. Es waren tat­säch­lich kaum mehr als fünf Minu­ten, zählt in die­sen Brei­ten eigent­lich nicht als ernst­hafte Ver­spä­tung. 18:37 Uhr gilt noch als pünkt­lich. Im War­te­zim­mer noch ein älte­rer Herr, na ja, was heißt schon älter, ein biss­chen grauer eben, die Alten den­ken ja immer, die ande­ren Alten seien noch älter als sie selbst. Der ältere Herr trug eine Hals­man­schette. Ich weiß nicht, ob das wirk­lich so heißt, so ein Ding eben, was sie einem ver­pas­sen bei Schleu­der­trauma, nach Auf­fahr­un­fall meis­tens. Deren Nut­zen ist, neben­bei bemerkt, stark umstrit­ten, gera­dezu zwei­fel­haft. Die Man­schette führt zu einer Schwä­chung der Hals­mus­ku­la­tur, die ja gerade gebraucht würde zur Sta­bi­li­sie­rung beim Schleu­der­trauma. Der ältere Herr – excu­sez-moi, vous avez ren­dez-vous pour quelle heure? – hatte einen Ter­min um 19 Uhr. Erstaun­lich, fand ich noch, eine halbe Stunde vor der Zeit. Über­pünkt­lich. Würde mir im Traum nicht ein­fal­len. Der arme Kerl würde mich auch noch abwar­ten müs­sen mit mei­nem Ter­min vor sei­nem.

Vier­tel nach sie­ben end­lich ver­ab­schie­dete Frédé­ric den Vor­pa­ti­en­ten und kam ins War­te­zim­mer. Es täte ihm leid, aber mein Ren­dez­vous wäre doch ges­tern gewe­sen, könnte natür­lich auch sein, dass sich sein Sekre­ta­riat getäuscht hätte, wie auch immer, er nähme mich danach noch, quand même, trotz­dem, sagte er. Sagte er, lächelte sein Lächeln aus sei­nen unge­pfleg­ten Zäh­nen. Was heißt hier trotz­dem, dachte ich mir. Trotz was? Trotz Insuf­fi­zi­enz sei­nes Sekre­ta­ri­ats? Will ich denn über­haupt noch genom­men wer­den, danach? Ich wollte mei­nem Unmut in aller Klar­heit Aus­druck ver­lei­hen, da hatte er mir jedoch schon den Rücken gekehrt und ver­schwand mit dem grau­haa­ri­gen Schleu­der­trauma.

Scheisse, dachte ich, und ärgerte mich über meine man­gelnde Schlag­fer­tig­keit. Wirk­lich schade, wollte ich gesagt haben, ich warte quand même, immer­hin, schon eine geschla­gene halbe Stunde, ich habe nicht so viel Zeit, dann mache ich eben einen neuen Ter­min. Scheisse, schrie ich im lee­ren War­te­zim­mer das kläg­li­che War­te­zim­mer­grün in der Ecke an, tigerte um den Plas­tik­tisch mit abge­ge­rif­fe­nen Maga­zi­nen, – Géo, Le Figaro – und ver­suchte mich zu beru­hi­gen. War ja eh zu spät, auf­re­gen bringt nichts, Auf­re­gung macht mir ein dis­kre­tes Zit­tern in den lin­ken Arm. Trotz­dem: Scheisse!

Ich hatte mich auf einen gemüt­li­chen Fern­seh­abend mit den Kin­dern und ihrer Mut­ter gefreut. Abend­essen devant la télé, vor der Glotze. Auch sehr umstrit­ten, ich weiß, gera­dezu zwei­fel­haft. Bei­nahe unver­ant­wort­lich. Egal. Erzie­hung soll ande­rer­seits nicht immer nur unan­ge­nehm sein. Immer­hin hat­ten sie sämt­li­che Haus­auf­ga­ben für die nächs­ten Tage erle­digt. Sogar die Eng­lisch­vo­ka­beln. Wir woll­ten den drit­ten Teil von "Diver­gente" gucken, so ein Sci­ence-fic­tion-Spek­ta­kel. Früh genug woll­ten wir uns vor der Glotze ein­fin­den, weil am nächs­ten Tag ja Schule war. – Fangt schon mal an, das dau­ert hier noch. Frédé­ric nimmt sich eine gute halbe Stunde pro Pati­en­ten. Gut die Hälfte der Zeit geht aller­dings in die Doku­men­ta­tion. Alles muss auf­ge­schrie­ben wer­den. Mit zwei Fin­gern und ohne Sekre­tä­rin ist das müh­se­lig. Das hier würde also noch min­des­tens eine Stunde dau­ern, vor halb neun käme ich nicht wie­der raus.

Das Arzt-Pati­ent-Ver­hält­nis ist, glaube ich, in Frank­reich bestimmt mehr als in Deutsch­land von Über­heb­lich­keit, Her­ab­las­sung und Miss­ach­tung geprägt. Der Pati­ent wird im all­ge­mei­nen geduzt und als stö­rend emp­fun­den. Der Pati­ent soll dank­bar sein, über­haupt gehört zu wer­den. Zwei Stun­den War­te­zeit zur Ein­stim­mung sind dabei durch­aus ange­mes­sen. Frédé­ric duzt mich zwar nicht, immer­hin bin ich Kol­lege, kann sich aber mei­nen Namen nicht mer­ken und nennt mich in sei­nen Unter­la­gen hart­nä­ckig Bert­rand. Und das H im Fami­li­en­na­men fin­det sei­nen Platz immer wie­der woan­ders. Kann er nicht bes­ser. Will er wahr­schein­lich nicht. Egal eben irgend­wie. Als Pati­ent ist man eben oft egal irgend­wie. Frédé­ric zeigt sich aus­ge­spro­chen unzu­frie­den ange­sichts der Tat­sa­che, dass ich sei­nem ergän­zen­den The­ra­pie­vor­schlag nicht fol­gen wollte seit unse­rem letz­ten Ren­dez­vous. Immer­hin bin ich der Pati­ent und er der Arzt. Der Pati­ent hat den Anwei­sun­gen des Arz­tes Folge zu leis­ten. Zudem hatte er damals schon, nach­dem er keine wirk­lich grif­fi­gen medi­zi­ni­schen Argu­mente prä­sen­tie­ren konnte, zu aller­lei rhe­tho­ri­schen Tricks gegrif­fen. Ich solle mich doch nicht dop­pelt bestra­fen. Erst die Krank­heit und dann auch noch The­ra­pie­ver­wei­ge­rung. Blöd­sinn. Hat er mich jemals gefragt, wie ich mit der Krank­heit lebe? Ob ich sie als Strafe emp­finde? Unter­stellt er ein­fach so. Woher hat er so einen Unsinn? Küchen­tisch­psy­cho­lo­gie. Nehme ich ihm immer noch übel. Seine strenge Unzu­frie­den­heit beein­druckt mich nicht wei­ter. Er macht einen ver­zwei­fel­ten Gesichts­aus­druck. Aber warum denn nicht noch ein Medi­ka­ment, bon sang, meine Güte! – Ganz ein­fach, ich spüre keine ernst­hafte Ver­schlech­te­rung und somit kei­nen Grund, mehr Pil­len zu essen.

Und, vor allem, habe ich kein Inter­esse, ohne Ver­schlech­te­rung alle diese Neben­wir­kun­gen sei­nes neuen Medi­ka­ments in Kauf zu neh­men. Ein bun­tes Sam­mel­su­rium mas­si­ver Phä­no­mene. All­er­gie, Übel­keit, Ver­stop­fung, Durch­fall, das Übli­che eben. Dazu Gedächt­nis­stö­run­gen, Herz­schwä­che, Gewichts­zu­nahme, Wahn­vor­stel­lun­gen. So Sachen. Immer­hin! Okay, wenn man Bei­pack­zet­teln und dem Inter­net wahl­los Glau­ben schenkt, macht jedes Mediak­ment noch krän­ker. Weiß ich. wiki​pe​dia​.de als halb­wegs seriöse Quelle schreibt: "Auf­grund des Auf­tre­tens mög­li­cher 'Schlaf­at­ta­cken', ist das Füh­ren eines Kfz … zu unter­las­sen". Nar­ko­lep­sie. Betrifft immer­hin 14%. Dürfte ich dann noch ruhi­gen Gewis­sens meine Kin­der von der Schule abho­len? Über­haupt Auto fah­ren? "Häu­fig ist das Auf­tre­ten von Impuls­kon­troll­stö­run­gen". Kauf­rausch, Spiel­sucht, Hyper­se­xua­li­tät. Super. Dar­auf hatte Frédé­ric mich schon beim letz­ten Mal hin­ge­wie­sen. Und sei­nen Hin­weis Buch­sta­ben für Buch­sta­ben in seine Doku­men­ta­tion getippt.

Das hat nichts mit Empa­thie für seine Pati­en­ten zu tun. Wahr­schein­lich hat er Angst um sich selbst. Ver­mut­lich gab es in irgend­ei­ner Fach­zeit­schrift mal einen Fall­be­richt aus den USA. Jim H. Brown in Spring­fied, Ohio, hatte sei­ner Toch­ter ein Renn­pferd gekauft, vier Cadil­lacs bestellt und Ama­zon halb leer gekauft. Sein Anwalt konnte dem Neu­ro­lo­gen Scha­dens­er­satz in Höhe von 3,1 Mil­lio­nen Dol­lar abpres­sen wegen lücken­haf­ter Auf­klä­rung. 3,1 Mil­lio­nen! Soweit sind wir in Frank­reich noch nicht, aber man sollte schon auf­pas­sen. Und neu­lich auf dem Kon­gress in Tou­louse die Anek­dote von Gérard S., der sich eine ergie­bige Tour durch sämt­li­che Sex­shops des Dépar­te­ments gegönnt hatte, sich die Suite impé­riale buchte im 5-Sterne-Hotel und ein gan­zes Rudel Damen bestellte. Dann, als es los­ge­hen sollte, aller­dings einem Herz­in­farkt erlag. Hahaha. Die Ange­hö­ri­gen ahn­ten nichts von einem mög­li­chen Zusam­men­hang mit der kürz­lich ange­setz­ten The­ra­pie. Ouff. Aber Ach­tung, liebe Kol­le­gen! Nicht alle Ange­hö­ri­gen sind so unbe­darft. Klä­ren Sie auf und doku­men­tie­ren Sie. Die Doku­men­ta­tion ist das wich­tigste.

Ich musste mir wie­der einen lan­gen Mono­log über den Pathome­cha­nis­mus mei­ner Krank­heit anhö­ren, es ist immer der glei­che Text, es geht um den Dopa­min­man­gel, den fort­schrei­ten­den Dopa­min­man­gel und ver­schie­dene the­ra­peu­ti­sche Ansätze. Die­ser Vor­trag ist immer der glei­che, hat er sich wohl schon vor Jah­ren zuge­legt, kriegt wahr­schein­lich jeder zu hören, ob er will oder nicht, ob er wie ich davon auch schon mal im Stu­dium geört hat oder nicht. Frédé­ric lässt sich nicht unter­bre­chen, fährt unbe­irrt fort im Text, legt bei Zwi­schen­fra­gen ein biss­chen Laut­stärke zu. Unbe­irr­bar. Ich bin der Dok­tor und du der Pati­ent. Der Pati­ent hört gedul­dig zu. Man kann nur abwar­ten, bis es vor­bei ist.

Aus abrech­nungs­tech­ni­schen Grün­den darf die kör­per­li­che Unter­su­chung natür­lich nicht feh­len. Die wie­derum hält Frédé­ric sehr knapp, strik­tes Mini­mum. Ich darf zwei Mal auf- und abge­hen in sei­nem groß­zü­gi­gen Alt­bau­büro zur Beur­tei­lung mei­nes Gang­bilds und ob der Arm noch mit­schwingt. Sein Büro dient gleich­zei­tig als Lager­raum für aller­lei aus­ge­diente häus­li­che Uten­si­lien, ein Bügel­brett zum Bei­spiel lehnt hin­ten links an der Wand und ein paar Kar­tons tür­men sich – cui­sine, salon, chambre, Küche, Wohn­zim­mer, Schlaf­zim­mer. Frédé­ric ist Schei­dungs-Sin­gle, kein Wun­der. Wir üben aktive und pas­sive Bewe­gung. Zahn­rad­phä­no­men links. Wuss­ten wir schon, wird nicht bes­ser mit der Zeit. Rota­tion im Unter­arm wie zum Glüh­bir­nen­schrau­ben. Nicht so gut links. Nicht schlech­ter aller­dings als vor bald zwei Jah­ren schon. Nicht viel schlech­ter zumin­dest. Nicht so, dass es mich stö­ren würde. Wie häu­fig habe ich schon Glüh­bir­nen zu wech­seln? Mit links? Um sei­ner Unter­su­chung einen wis­sen­schaft­li­chen Touch zu geben, spricht er von Scores. Die Moto­rik betref­fend habe ich einen Score von zwei. Zwei von wie­viel, fragte ich. Zwei von vier. Medi­zi­ner lie­ben Scores. Wir haben in der Anäs­the­sie auch eine ganze Menge davon. Zu irgend­was müs­sen ja all die Pro­fes­so­ren und ihre Dok­to­ran­den gut sein. Und? Was heißt das? Unver­än­dert, musste er zuge­ben. Warum also noch ein Medi­ka­ment, fragte ich. Ich würde mich mel­den, wenn mir danach wäre.

Schließ­lich, end­lich im Auf­bruch begrif­fen, wir hat­ten schon über das nächste Mal gere­det, in sechs Mona­ten und ich würde dann einen Ter­min mit sei­nem Sekre­ta­riat fin­den, fing er doch wie­der an. Wenn ich das Sifrol nicht neh­men wollte, könnte es ja auch ein ande­rer Wirk­stoff sein. Welch erstaun­li­ches Ansin­nen! Geht es nur darum, mit einer Schach­tel mehr nach Hause zu gehen? Ist es denn so egal, was ich da esse? Wol­len wir es viel­leicht mal mit Aspi­rin, Vit­amin C oder Homöo­pa­thie ver­su­chen?

Hilft bestimmt auch. Ganz bestimmt.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Trou du cul

Sonn­tag, 18:46 Uhr. Im Auto mit Frau und Toch­ter. Der Sohn erwar­tet uns mit den Freun­den am Kino. Super Timing. Ganz sel­ten schaf­fen wir es, so punkt­ge­nau im Auto zu sit­zen. Immer hat jemand was in letz­ter Minute ver­ges­sen. Handy, Porte­mon­naie, Regen­schirm. Wir haben Kar­ten für "Les Heu­res Som­bres" um 19:15 Uhr. Pathé Liberté. Das Kino im Stadt­zen­trum. Ten­den­zi­ell anspruchs­vol­lere Filme und Direkt­über­tra­gun­gen aus der Haupt­stadt oder der Oper in New York zei­gen sie nur im Stadt­zen­trum. Im Schwes­ter-Kino der neuen Bil­lig-Mall Rich­tung Nizza liegt der Schwer­punkt mehr auf Block­bus­tern. "Star Wars", "Jumanji" und fran­zö­si­scher Humor. In Imax oder 4D. Der Chur­chill-Film gilt wohl als anspruchs­vol­ler. Nur im Stadt­zen­trum. Ins Zen­trum gelangt man am schnells­ten über die Auto­bahn. Wenn der Auto­bahn­tun­nel unter der Stadt nicht zu ist. Wenn der Tun­nel zu ist, muss man die Schleich­wege ken­nen oder gott­er­ge­ben auf ein Wun­der hof­fen. Gott­er­ge­ben ist meis­tens bes­ser, weil alle Ein­hei­mi­schen die Schleich­wege ken­nen.

Jetzt müss­test du schon fah­ren wie ein Arsch­loch, wenn wir das Kino noch schaf­fen wol­len, sagt meine Frau.

Sie hat recht. Tun­nel fermé. Acci­dent. Steht da. Der Tun­nel ist zu. Wegen Unfall. Rote Pfeile auf den Leucht­ta­feln über den drei Spu­ren wei­sen blin­kend nach rechts, auf die Aus­fahrt direkt vor dem Tun­nel. Viele Ver­kehrs­teil­neh­mer fol­gen früh­zei­tig die­ser Auf­for­de­rung. Eigent­lich ganz ver­wun­der­lich ange­sichts der im all­ge­mei­nen eher medi­ter­ra­nen Inter­pre­ta­tion der Stra­ßen­ver­kehrs­ord­nung. Die linke Spur ist rela­tiv frei. Ich weiß, was meine Frau meint. Auf dem Weg zur Oper ist unser Timing manch­mal pri­mär nicht gut. Handy, Kre­dit­karte, Tickets. Unter ver­hal­te­nem Pro­test mei­ner Frau sehe ich mich gele­gent­lich genö­tigt, mein Poten­tial zu medi­ter­ra­ner Aus­rei­zung der Ver­kehrs­re­geln unter Beweis zu stel­len. Der Pro­test mei­ner Frau auf dem Weg zur Oper, wie gesagt, eher ver­hal­ten. Zweck­dien­lich ver­hal­ten. Meine Frau würde mich nur ungern offen zum Regel­bruch auf­for­dern. Ich weiß auch so, was meine Frau meint. Meine Toch­ter auch. Meine Toch­ter ist wohl­erzo­gen. Der offene Regel­bruch ent­spricht nicht ihrem Natu­rell. Sie hätte sowieso lie­ber "Belle & Sebas­tian 3" geguckt.

Tu né vas pas faire ça! Das machst du nicht! Tu né vas pas encore con­du­ire comme un thug! Nicht schon wie­der!

Wieso eigent­lich "schon wie­der"? Wann schon über­trete ich mal Ver­kehrs­re­geln? Rot ist rot. Aus Prin­zip. Mit Kin­dern im Auto erst recht. Und Tempo fünf­zig ist Tempo fünf­zig. Plus zehn Pro­zent viel­leicht. Höchs­tens. Habe ich ande­rer­seits denn aktu­ell eine Wahl? In mei­nem Tele­fon ist der QR-Code für alle unsere Kino­plätze gespei­chert. Acht Plätze. Mein Sohn war­tet, die Freunde war­ten. Mein Sohn wollte die­sen Film unbe­dingt sehen, weil er diese Woche eine Klas­sen­ar­beit zum zwei­ten Welt­krieg hat. Seine Initia­tive. Muss man för­dern sowas. Tun­nel auf oder zu, Pfeile nach rechts hin oder her, ich habe keine Wahl. Die linke Spur ist gera­dezu frei. Voll­zo­gene Inte­gra­tion mani­fes­tiert sich auf der lin­ken Spur.

Papa!

Herr Diehl!

Meine Frau hat auch keine Wahl. Sie muss offi­zi­ell Pro­test ein­le­gen. Das ist sie ihren teu­to­ni­schen Genen schul­dig. Und ihrer Rolle als Erzie­hungs­be­rech­tig­ter.

Was? Wol­len wir nun recht­zei­tig ins Kino kom­men oder nicht?

Natür­lich wol­len wir recht­zei­tig ins Kino kom­men. Ist ohne­hin nicht mehr weit bis zur Aus­fahrt, ein knap­per Kilo­me­ter viel­leicht noch. Die Aus­fahrt ist das Nadel­öhr. Gleich nach dem Nadel­öhr gibt es drei neue Spu­ren.

Blau­licht im Rück­spie­gel, Not­arzt, Feu­er­wehr. Vor­ne­weg bahnt ein Klein­wa­gen baye­ri­scher Pro­duk­tion mit Licht­hupe den Weg, um kurz vor der Sper­rung rechts ein­zu­sche­ren. Das ist fort­ge­schrit­tene Inte­gra­tion. Soweit bin ich noch nicht. Passt auch nicht zur Fami­li­en­kut­sche. Hin­ter dem Blau­licht ist die Bahn auch frei. Das wie­derum kann ich.

Papa!

Herr Diehl!

Was? Wol­len wir nun recht­zei­tig ins Kino kom­men oder nicht?

19:02 Uhr in der Ein­gangs­halle des Kinos. Als wäre nichts gewe­sen.

Excep­ti­on­nel­lement. Aus­nahms­weise. Aber nächs­tes Mal die Aus­weise nicht ver­ges­sen! Dem Kar­ten­prü­fer am Zugang zu den Sälen war schon aus der Ent­fer­nung anzu­se­hen, dass er Ärger machen würde. Diese Gesichts­haar­tracht ist ein Warn­zei­chen. "Gewerk­schaf­ter­b­art" heißt das bei wiki­pe­dia. Nor­ma­le­ment, eigent­lich, dürf­ten die Kin­der ohne ent­spre­chende Aus­weise nicht ins Kino. Ich kann ja auch nichts dafür, Anwei­sung der Direk­tion. Die Kin­der sol­len per Aus­weis bele­gen, dass sie zurecht vom jeweils ermä­ßig­ten Tarif pro­fi­tie­ren. Ehr­lich? Sieht man das nicht? Sehen mein Sohn und sein Freund nicht aus wie col­lé­gi­ens? Meine 12jährige Toch­ter und ihre Freun­din nicht wie unter vier­zehn?

Bei­nahe wäre trotz lang­wie­ri­ger Ver­hand­lun­gen mein selbst­lo­ser Ein­satz auf der Straße hin­fäl­lig gewe­sen.

Die Mut­ter des Freunds und der Freun­din, Vio­lo­nis­tin an der Oper, ist außer sich. So kenne ich sie gar nicht. Dem­nächst krie­gen die Kin­der nicht mal mehr eine Cola ohne Aus­weis! Wünscht dem Kar­ten­le­ser auf dem Weg nach Saal 6 alles nur erdenk­li­che Unheil an den Hals. Wer schon mit sol­chen Haa­ren im Gesicht rum­läuft! Dabei hatte der nun ja auch keine Wahl. Anwei­sung der Direk­tion. Wozu wären sonst Vor­schrif­ten da? Trotz­dem, natür­lich hat sie recht. Pinail­leur, petit con pré­ten­tieux, trou du cul. Erb­sen­zäh­ler, Klug­schei­ßer, Arsch­loch.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Yühtüb

Deutsch­land­reise. Nicht mehr lange bis zur Wahl. Pla­kate allent­hal­ben. Angela natür­lich und Mar­tin. Der sollte sich mal rasie­ren, sagen die Kin­der. Die loka­len Reprä­sen­tan­ten dazu. Man­che Por­träts auf den Pla­ka­ten in schwarz-weiß. Auch unra­siert. Dazu gelb auf rosa: FDP. Fin­den die Kin­der zum Brül­len komisch. Den soll man wäh­len? FDP? Papa ver­steht mal wie­der nichts. Erklärt, die FDP sei eben auch so eine Par­tei, die man in Deutsch­land wäh­len könnte. Wofür die Buch­sta­ben ste­hen, inters­siert die Kin­der schon gar nicht mehr. Ja, ja, schon gut, aber doch nicht FDP! Weißt du nicht, was das heißt? Papa weiß es nicht. Wahr­schein­lich eines die­ser Kür­zel, die die Kin­der so gerne ver­wen­den, lol und mdr kenne ich. FDP, klä­ren mich die Kin­der auf, steht für fils de pute. Stimmt, in Frank­reich ginge das gar nicht.

Rosa rosa rosam

Auf dem Weg zur Schule. Latein. Meine Toch­ter hat jetzt auch Latein. Ein Test. Sie übt noch mal schnell die A-Dekli­na­tion. Rosa rosa rosam. An diese Rei­hen­folge konnte ich mich beim ers­ten Sohn nur schwer gewöh­nen. Eigent­lich rosa rosae rosae. Fran­zo­sen machen gerne alles anders als alle ande­ren. Sogar Latein. Andere Rei­hen­folge der Fälle als die Deut­schen. Immer­hin bleibt der Nomi­na­tiv an ers­ter Stelle. Danach Kraut und Rüben. Als zwei­tes der Voka­tiv. Statt des Gene­tivs. Der Gene­tiv wird stief­kind­lich behan­delt, fin­det sich erst an vier­ter Stelle. Liegt viel­leicht daran, dass sie in ihrer Mut­ter­spra­che schon ohne Gene­tiv aus­kom­men müs­sen, statt von Papas Ham­mer von le mar­teau de papa, dem Ham­mer von Papa, reden müs­sen. Ist für mein Sprach­ge­fühl fast so ele­gant wie dem Papa sein Ham­mer. Ver­mut­lich eine Frage der Gewöh­nung. Andere roma­ni­sche Spra­chen müs­sen auch ohne Geni­tiv aus­kom­men.

Rosae rosae rosa

Meine Toch­ter mag Latein gar nicht, nimmt da kein Blatt vor den Mund. La pure merde sagt sie. Weil das nichts bringt. Was soll eine tote Spra­che schon brin­gen? Auch wenn die Brü­der schon Latein machen muss­ten. Der Eltern wegen. Weil das sehr wohl was bringt. Für das Sprach­ver­ständ­nis, den Sprach­er­werb, den Wort­schatz. Die All­ge­mein­bil­dung. Hat's uns etwa gescha­det? Sagen die Eltern.

Rosae rosae rosas rosarum rosis rosis

Die Brü­der konn­ten in der Tat auch wenig Begeis­te­rung auf­brin­gen für Latein. Hiel­ten sich aber zurück mit so kras­sem Kom­men­tar. Die Leh­rer geben sich ande­rer­seits große Mühe, ihrem unbe­lieb­ten Fach inter­es­sante Aspekte zu ver­lei­hen. Klas­sen­rei­sen zum Bei­spiel nach Rom, Nea­pel, Pom­peji. Auch die Reise des Sohns nach Grie­chen­land – Athen, Del­phi, Olym­pia – im nächs­ten Früh­jahr fin­det im Rah­men des Latein­un­ter­richts statt. Zehn Tage im Bus. Immer­hin. Ein Sohn durfte über Jahre Filme gucken, die im wei­tes­ten Sinne was mit der Spra­che zu tun hat­ten. Klas­si­ker wie Ben Hur. Wahr­schein­lich auch die Auf­nahme mit Jac­ques Brel. Der Voll­stän­dig­keit hal­ber. Aber das ist schon fast so schlimm wie Oper. Ich glaube nicht, dass er über rosa rosa rosam hin­aus­ge­hende Sprach­kennt­nisse erwer­ben konnte. Egal.

Hast du gehört, was der gesagt hat?

Er hat was gesagt, rich­tig. Ich habe nicht zuge­hört. Nein, was denn?

Der hat twenty one pilot gesagt.

Ja, und?

Mor­gens auf dem Weg zur Schule. Wir hören mis­tral fm, Lokal­sen­der von Tou­lon. Von sechs bis neun wird "La Mati­nale" mode­riert von zwei Spre­chern, weib­lich und männ­lich, ich nenne sie mal Manon und Livio. Wahr­schein­lich haben sie auch wirk­li­che Namen, wahr­schein­lich stel­len sie sich auch irgend­wann vor, um sechs Uhr mor­gens ver­mut­lich. Vor dem Kaf­fee kann ich aber noch kein Radio mit impe­ra­tiv guter Laune aus­hal­ten. Ich höre mis­tral fm ohne­hin nur mit den Kin­dern im Auto und nur, wenn sie dar­auf bestehen. Wenn ich mit den Kin­dern mor­gens mis­tral fm höre, ist Manon zustän­dig für den Ver­kehrs­über­blick – Stau über­all, inten­si­ver Pend­ler­ver­kehr in die Groß­stadt eben, immer das Glei­che – und das Horo­skop, auch immer das Glei­che irgend­wie. Livio erzählt Neues aus der Welt der Pie­pöhl – er meint people, also VIPs, Hol­ly­wood­grö­ßen und ein­hei­mi­sche Pro­mi­nenz – sowie lus­tige Anek­do­ten, die er ver­mut­lich bei yahoo oder face­book auf­ge­schnappt hat. Manon lacht dazu gerne ein rau­chi­ges Lachen, kom­men­tiert wahn­sin­nig amü­sant und unglaub­lich inspi­riert. Manon sollte ein­fach beim Lachen blei­ben. Noch bes­ser wäre, wenn Livio ein­fach die Klappe hal­ten könnte.

Der hat pilot [pi:lot] gesagt. Mit I!

Mein Sohn gibt sich empört, ich ver­stehe nicht, warum. Na, und?

Twenty One Pilots ist eine eng­li­sche Gruppe. Man sagt [ˈpaɪləts].

Nous som­mes en France, fis­ton. Fran­zo­sen dür­fen das doch.

Wie­der im Auto. Mit der Toch­ter. Auf der vier­spu­ri­gen Aus­fall­straße – Ave­nue de la Paix – west­wärts Rich­tung Car­re­four, Ikea und Déc­a­th­lon ist die Geschwin­dig­keit auf fünf­zig Stun­den­ki­lo­me­ter begrenzt. Solar­be­trie­bene Mess­ge­räte zei­gen die tat­säch­lich gefah­rene Geschwin­dig­keit an. Grü­nes Smi­ley und "Merci" oder rot und die Dro­hung mit Punkt­ver­lust. Wer ohne Punkt­ver­lust fah­ren will, nimmt jede Ampel mit. Sechs Mal rot auf einem knap­pen Kilo­me­ter. Das nervt. Nur Fahr­schu­len fah­ren hier fünf­zig. Manch­mal reicht's trotz­dem nicht. Der eilige Hand­wer­ker im wei­ßen Kas­ten­wa­gen muss bei Rot über die Ampel. Egal. Fällt aber auch mei­ner Toch­ter auf.

T'as vu ce thug?

Meine Toch­ter sagt "tög". Klingt wie "bög". Die Ein­hei­mi­schen ken­nen den "bög" seit dem Ende des letz­ten Jahr­tau­sends. Den mil­le­nium bug haben die Fran­zo­sen von den Amis über­nom­men. Nicht nur sprach­lich. Immer, wenn was nicht nicht funk­tio­niert, ist es ein bög. Geht auch als Verb. Ça a bugué (oder beu­gué), da ist was schief gegan­gen. Den thug kannte ich nicht.

Was ist ein tög?

Un voyou, ein Gau­ner. Meine Toch­ter ant­wor­tet prin­zi­pi­ell auf Fran­zö­sisch.

Und woher kennst du das?

De quelqu'un chez you­tube, von jeman­dem bei You­tube. Wahr­schein­lich von einem fran­zö­si­schen you­tuber mit Mil­lio­nen von Abon­nen­ten. Squee­zie, Nor­man oder Cyprien. Meine Toch­ter sagt Yühtüb. Geht natür­lich gar nicht. Nicht mal nach den gän­gi­gen fran­zö­si­schen Regel zur Aus­spra­che geht das, ou ist u.

You­tube ist eng­lisch, kläre ich die Toch­ter auf, man sagt [ˈjuːˌt­juːb].

Tu peux le dire comme tu veux. Moi, je suis française. Et en France on dit Yühtüb.

Voilà. Ende der Dis­kus­sion.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Sixpack

Frü­her Frei­tag Abend. Vor der Tür drei Män­ner in Arbeits­klei­dung. In authen­ti­scher Aus­stat­tung leicht erkennt­lich als les ébou­eurs, die Müll­män­ner. Zum Jah­res­ende warnt die Gemeinde gele­gent­lich vor fal­schen Kalen­der­bo­ten. Diese sind mit Sicher­heit echt. Sie sind zu dritt. Betrü­ger kom­men angeb­lich meis­tens alleine. Und sind auch nicht so authen­tisch aus­ge­stat­tet mit Reflek­tor­strei­fen an Bei­nen und Armen. Die Her­ren erin­nern sich außer­dem an die aus­schwei­fen­den Som­mer­feste mei­nes Sohns bis in die frü­hen Mor­gen­stun­den. Einer trägt einen Packen Kalen­der unter dem Arm. Die Kalen­der, jetzt schon? Mitte Novem­ber? Trifft mich unvor­be­rei­tet. Nor­ma­ler­weise habe ich kleine Umschläge. Kärt­chen mit net­ten Wor­ten. Dank für die Mühen das ganze Jahr über, herz­li­che Wün­schen zu Jah­res­end­fei­er­lich­kei­ten und dem Neuen Jahr. Dazu Schecks. Ja, die­ses Jahr ein biss­chen frü­her, die Kol­le­gen von der Post hät­ten ja auch schon die Runde gemacht.

2003. Frü­her Nach­mittag im Spät­som­mer. Mis­tral. Das ist Wind aus dem Wes­ten. Rich­ti­ger Wind. Sieste auf dem Sofa im Salon. Stim­men auf der Ter­rasse wecken mich. Ich ver­stehe kein Wort. Die Ton­lage etwas auf­ge­regt. Der Sohn, damals sie­ben, und sein Kum­pel aus der Nach­bar­schaft. Sie tuscheln, wer­den lau­ter. Auf­ge­regt, einer fällt dem ande­ren ins Wort. Kommt vor. Jungs in die­sem Alter haben immer wie­der irgend­welche Dis­kus­sionen. Um Holz­schwerter, Bälle, Spiel­re­geln. Mur­meln gehen ver­lo­ren und der andere hat Schuld. Ver­mut­lich kein Hand­lungs­be­darf mei­ner­seits. Eltern sol­len sich nicht immer ein­mi­schen. Und außer­dem schlafe ich gerade. Wenn einer ver­letzt wäre, würde auch zumin­dest einer wei­nen. Wenn sie ein Pflas­ter bräuch­ten, stän­den sie schon längst vor mei­nem Sofa. Was soll schon pas­sieren? Wir woh­nen am Ende einer Sack­gasse. Von der Tür aus sehen sie, dass Papa schläft. Il dort. Das Tuscheln der Jungs ent­fernt sich wie­der. Dachte ich mir doch, kein Hand­lungs­be­darf. Das nächste Mal brin­gen sie ihre Dis­kus­sion bitte außer Hör­weite auf der Ter­rasse zu Ende.

Der Kalen­der der Müll­män­ner ist in aller Regel ein Modell äußerst öko­no­mi­scher Aus­stat­tung. Ein Kar­ton DIN A 4, Post­kar­ten­an­sicht vom Dorf, Meilleurs Vœux für 2018, ein Kalen­der auf­ge­tackert. Gefragt, wie­viel sie dafür haben wol­len, wür­den sie ant­wor­ten comme vous vou­lez, wie Sie wol­len. Das Ding ist eigent­lich nicht mehr als fünf­zig Cent wert. Ich frage nicht. In mei­nem Umschlag fin­den sie regel­mä­ßig einen Scheck über einen gut zwei­stel­li­gen Betrag. Dafür ent­sor­gen sie wider­spruchs­los jeg­li­chen Unrat. Sie wür­den ein ver­en­de­tes Pferd ebenso mit­neh­men wie schäd­lings­ver­seuchte Pal­men. Wäre sonst Son­der­müll. Die­ser Groß­mut ist Gold wert.

Papa!

Papa!

Was denn? Jetzt also doch. Mei­ner klei­ner Sohn und sein copain plötz­lich direkt an mei­nem Sofa. Obwohl ich doch schlafe. Ganz auf­ge­regt die bei­den. Der copain steht einen Schritt schräg hin­ter mei­nem Sohn. Sie haben was ange­stellt und wis­sen nicht, wie sie es erklä­ren kön­nen, ohne dass zuviel Schuld auf sie fällt. Mein Sohn fängt Sätze an und fin­det den Inhalt nicht. Sie haben was gefun­den. On l'a trouvé. Was auch immer. Wird sich bestimmt noch zei­gen. Am Stra­ßen­rand zur Wiese. Gegen­über unse­rer Ein­fahrt befin­det sich eine Art Fuß­ball­feld. Etwas halb­her­zig unter­hal­ten. Könnte öfter mal gemäht wer­den. Dient vor­wie­gend als Hun­de­wiese. Frei­wil­lig würde ich da nicht rein­lau­fen. Jugend­li­che kom­men im Som­mer gerne zum Vor­glü­hen am Sams­tag Abend hier­her. Kom­men auch gerne Sonn­tag früh mor­gens wie­der, sehr früh mor­gens, um den Abend aus­klin­gen zu las­sen. Gele­gent­lich bers­ten Bier­fla­schen auf der Straße. In den Hecken zu den Nach­bar­grund­stü­cken kann man gebrauchte Sprit­zen und Kanü­len fin­den. Die Jungs haben was gefun­den. Also der copain hat es gefun­den. Und dann ist es auf den Boden gefal­len. Mais on n'a pas fait exprès, aber das war keine Absicht. Und nur, weil da ein Loch in der Hosen­ta­sche war. Also in der Hosen­ta­sche des copain. Also eigent­lich ist der copain schuld. Ganz klar, das habe ich kapiert. Und sie haben es ja auch nur gefun­den. Und es war noch was drin. Mais on n'a pas su, aber das wuss­ten sie natür­lich nicht. Klingt nicht so, als wenn es sich um Jun­kie-Zube­hör han­deln würde. Was kann das schon sein? Und dann ging es ganz schnell, wirft der copain ein, und sucht gleich wie­der Schutz hin­ter mei­nem Sohn. Jetzt sei es schon bei der Pinie. Und sie haben es ver­sucht, aber es ist so heiß. On arrive pas à l'éteindre. Sie krie­gen es nicht gelöscht. Mais… -

Aus einer sei­ner Gepäck­ta­schen för­dert Éric einen Packen Kalen­der zur Aus­wahl. Alma­nach du fac­teur. Éric ist der neue Post­bote. Wir tref­fen uns ganz sel­ten und rein zufäl­lig am Brief­kas­ten. Wenn es was zu unter­schrei­ben gibt, tref­fen wir uns in aller Regel nicht. Kann dann am nächs­ten Tag, nicht jedoch vor 16 Uhr, im Post­amt abge­holt wer­den. Der Alma­nach ist mit klas­si­schen Moti­ven deko­riert. Blu­men, Land­schaf­ten, Kat­zen, Hunde, Eif­fel­turm, Son­nen­un­ter­gang. Innen Rezepte, eine Tabelle zu Son­nen- und Mond­auf- und -unter­gän­gen, wich­tige Tele­fon­num­mern, eine Karte des Dépar­te­ment und Plä­nen der wich­tigs­ten Städte von Fréjus bis Ban­dol. Meine Toch­ter würde Pferde wäh­len. Irgendwo in die­sem Packen muss auch der Alma­nach mit Pfer­den sein. Umschlag. Scheck nied­rig, immer­hin zwei­stel­lig. Solange ich meine Post am nächs­ten Tag, nicht jedoch vor 16 Uhr, irgendwo abho­len muss, gibt es für Éric kei­nen signi­fi­kan­ten Bonus.

Gelöscht? Das klingt nicht gut! Wahr­schein­lich fin­det meine Sieste hier­mit defi­ni­tiv ihr Ende.

Das war nur ganz klein!

Was war nur ganz klein?

On n'a pas fait exprès. Das war aus Ver­se­hen! Weil es run­ter­ge­fal­len ist.

Wo denn?

Da war ein Loch in der Hosen­ta­sche.

Schon klar. Und ihr habt es auch nur gefun­den. Und dass noch was drin war, konn­tet ihr auch nicht wis­sen.

Der Zei­tungs­bote tackert seine Neu­jahrs­wün­sche in selbst bedruck­tem Post­kar­ten­for­mat an das jour­nal. Und wünscht sich im glei­chen Atem­zug und in ver­we­ge­ner Ortho­gra­phie eine kleine Aner­ken­nung sei­ner uner­müd­li­chen Dienste. Zehn Tage spä­ter eine Mah­nung, wenn die Wün­sche nicht Gehör gefun­den haben soll­ten. Umschlag, Scheck. Bes­ser nicht zu knapp. Ich könnte mich zwar beschwe­ren, müsste das jour­nal aber sicher noch öfter auf­ge­weicht aus der Hecke fischen. Es ist eine Frage des län­ge­ren Hebels.

Die Wiese brennt. Viel­mehr das, was von einer Wiese nach einem tro­ckenen Som­mer übrig ist. Die Wiese hat das For­mat eines Fuß­ball­felds. Rechts eine Gara­gen­zeile, links Grenz­he­cken, Bam­bus, Busch­werk, kleine Bäume. Ein Glut- und Flam­men­mehr über die ganze Länge. Immer­hin kommt damit auch die Hun­de­scheiße weg. Büsche an den Rän­dern haben Feuer gefan­gen, die Hecke eines Nach­barn, eine Pinie ver­glüht gerade in einer Stich­flamme. Der Nach­bar steht in Bade­lat­schen mit einem gel­ben Gar­ten­schlauch an sei­ner Hecke. Das eher pro­sta­ti­sche Tröp­feln ist gegen Flam­men unter Mis­tral nicht ein­mal ein Trop­fen auf einen hei­ßen Stein. Das ist hoff­nungslos. Ohne Feu­er­wehr brennt gleich der Park­platz des Wohn­blocks gegen­über, denke ich mir, ach was, der Wohn­block selbst, der halbe Hügel, das halbe Dorf. Immer diese Aus­län­der, die nicht auf ihre Kin­der auf­pas­sen kön­nen, wird es hei­ßen. In der Ferne Mar­tins­hör­ner. Die sind hof­fent­lich auf dem Weg hier­her. Irgend­je­mand wird doch hof­fent­lich wohl die Feu­er­wehr alar­miert haben. Jemand aus dem Wohn­block hin­ter der Gara­gen­zeile viel­leicht. Oder der Nach­bar mit dem Gar­ten­schlauch. Wie war denn gleich noch die Num­mer? Natür­lich wie­der kein Handy dabei. Die Mar­tins­hör­ner mit einem Mal ganz nah. Keine Minute spä­ter sind sie da. Zwei Lösch­züge erst, dann eine Por­tion Police muni­ci­pale, dann noch mehr Feu­er­wehr. Am Ende wird die ganze Straße voll­ste­hen.

Mein Sohn und sein copain müs­sen mit­kom­men. Drin­gen­der Tat­ver­dacht.

Eine Woche spä­ter, zur Eröff­nung des Weih­nachts­markts, kom­men die Sapeurs pom­piers, die Feu­er­wehr. Kalen­der in Hoch­glanz­auf­ma­chung. Innen rich­tige Män­ner, gebräunt, mit Ober­kör­pern bis knapp an die Scham­grenze. Aus­ge­prägte Six­packs, mas­sive Ober­arme. Wenn sie in den War­te­zei­ten auf den nächs­ten Ein­satz nicht gerade ihre Gerät­schaf­ten polie­ren, arbei­ten sie an ihren Kör­pern. Vor der Kamera prä­sen­tie­ren sie Schläu­che beacht­li­chen Kali­bers vor Was­ser­spie­len. Vor Jah­ren gab es sie auch schon mal nackt, nur mit Hand­tü­chern beklei­det, unter damp­fen­der Dusche, vor dem Spind, im Halb­dun­kel. Vor unse­rer Tür, am Frei­tag Abend Ende Novem­ber, prä­sen­tie­ren sie sich ange­mes­sen beklei­det. Erin­nern sich an die Anek­dote mit mei­nem Sohn und daran, dass die Wiese die­ses Jahr schon wie­der gebrannt hat. Wie­der Anfang Sep­tem­ber, wie­der Mis­tral. Die Gemeinde könnte sich wirk­lich mal bes­ser um das Brach­land mit­ten im Ort küm­mern. Ein Glück, dass wir so gut orga­nis­ert sind. Fünf Lösch­züge inner­halb von weni­ger als zehn Minu­ten. Das Eigen­lob ist über­flüs­sig. Keine kom­mu­nale Stru­kur funk­tio­niert in Süd­frank­reich so zuver­läs­sig wie die Feu­er­wehr. Der Wert mei­nes Schecks über­steigt den ihres Kalen­ders ein­schließ­lich Hoch­glanz­auf­ma­chung deut­lich. Sie sol­len sich auch in ein paar Mona­ten noch an mich erin­nern.

Die Kol­le­gen von der Police muni­ci­pale, mäkeln die Her­ren von der Feu­er­wehr bei die­ser Gele­gen­heit, konn­ten ihre Arbeit zwar mas­siv behin­dern, dies­mal jedoch kei­nen Ver­ur­sa­cher ding­fest machen. Sämt­li­che Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen mei­ner­seits ver­fü­gen übri­gens über ast­reine Ali­bis.

Die Police muni­ci­pale ver­teilt keine Kalen­der.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Jeu de l'oie

Quoi? Was ist? -

Gérard ist sicht­lich genervt. Drau­ßen liegt die Tem­pe­ra­tur bei deut­lich über drei­ßig Grad, in mei­ner Wasch­kü­che ist es auch nicht küh­ler. Dazu tro­pi­sche Luft­feuch­tig­keit. Schweiß­trei­bend. Da hat ihm seine Frau am Tele­fon gerade noch gefehlt. Ich kenne das. Wenn mein Tele­fon den gan­zen Tag bis­her nicht geklin­gelt hat, muss ich mich unter die Dusche stel­len oder gerade ste­rile Hand­schuhe über­ge­streift haben um eine Péri­du­rale zu ste­chen. Klin­gelt bestimmt das Tele­fon. Ist nicht immer meine Frau.

Die müs­sen auf dem Küchen­tisch lie­gen. -

Gérard ist der erste vom Darty-Kun­den­dienst, der sich mit Namen vor­ge­stellt hat. Gérard vom Darty-Kun­den­dienst. Darty ist in Frank­reich sowas wie Saturn oder Media­markt in Deutsch­land. Vor einer hal­ben Stunde war Gérard noch vol­ler Zuver­sicht. Beim Kun­den vor­fah­ren, Maschine auf­schrau­ben, Teil aus­wech­seln, kurz tes­ten, alles funk­tio­niert wie­der, zufrie­de­ner Kunde. Papier­kram. Zehn Minu­ten grand maxi­mum. Und dann das: E:58 und E:67. Sein Teil ist das fal­sche. Er ist über­zeugt, der Kol­lege irrt. Aber nun, wo er schon mal hier ist.

Na da, wo ich sie immer hin­lege, neben der Obst­schale. Ich lege die Schlüs­sel immer neben die Obst­schale, weißt du doch! -

Drei Wochen frü­her. 14. Juli. Fei­er­tag in Frank­reich. Natio­nal­fei­er­tag. 2017 ein Frei­tag. Meine Frau ist im Haus­halt tätig. Wischen, put­zen, räu­men. Ich mache wahr­schein­lich mal wie­der nichts. Kann ich beson­ders gut, sagt meine Frau. Nichts machen, meint sie, kann ich beson­ders gut. Sagt sie immer dann, wenn sie mal was macht im Haus­halt. Kannst du mal die Wasch­ma­schine repa­rie­ren. Die geht nicht mehr auf. Maschi­nen gehen immer vor dem Wochen­ende kaputt.

Die müs­sen da sein, schau' doch noch mal rich­tig! -

E:58. Die Wasch­ma­schine ist fast fer­tig gewor­den mit einem Wasch­gang. Ein gel­bes Licht blinkt, das Fens­ter zur Wäsche lässt sich nicht öff­nen. Aus- und Ein­schal­ten hilft manch­mal. Dies­mal nicht. Ton­si­gnal, gelbe Leuchte, E:58. 58 sagt mir was, das war, glaube ich, schon mal. Oder war es die Spül­ma­schine? Oder was ganz Ande­res? Bestimmt hat ein Lego­teil die Pumpe blo­ckiert. Oder ein Ein-Cent-Stück. Ich habe auch schon Zahn­sto­cher in den Flü­geln der Pumpe ver­klemmt gefun­den. Man kann sich kaum vor­stel­len, wie ein Zahn­sto­cher dahin­kommt. Aber, mich kann nichts mehr über­ra­schen an der Pumpe. Kenne ich. Das gibt immer sol­che Feh­ler­mel­dun­gen, irgend­was mit E. Ich habe schon, frü­her mal, Kun­den­dienst kom­men las­sen, 78 Euro plus Mehr­wert­steuer für Anfahrt und die erste halbe Stunde, 39 Euro jede wei­tere halbe Stunde. Da wusste ich noch nicht, dass eine Pumpe ver­klem­men kann. Haben Sie schon mal an der Pumpe nach­ge­se­hen? Wel­che Pumpe? Macht 78 Euro plus Mehr­wert­steuer. Nicht ver­han­del­bar. Keine fünf Minu­ten spä­ter war der Kun­den­dienst wie­der weg. Haar­spange der Toch­ter. Drei Minu­ten alleine für den Papier­kram. Lehr­geld. Pas­siert mir nicht wie­der. An der Pumpe liegt es dies­mal nicht. Kla­rer Fall für den Kun­den­dienst.

Ich habe keine Ahnung, wo sie sonst sein kön­nen. Ich bin nach Hause gekom­men und habe sie auf den Tisch gelegt. So wie immer. Ganz sicher. -

Der tele­fo­ni­sche Kun­den­dienst von Darty funk­tio­niert auch an Fei­er­ta­gen. Ein biss­chen ver­zö­gert zwar, knappe Vier­tel­stunde War­te­schleife, aber immer­hin.

Mon­tag schon wird ein Tech­ni­ker kom­men. Nach­mit­tags zwi­schen 12 und 17 Uhr. Wird sich der Sohn küm­mern müs­sen.

Ich habe jetzt eigent­lich keine Zeit, ich bin beim Kun­den. Frag' doch mal Mathieu, viel­leicht hat der sie genom­men, ce con­nard. -

Gérard ist mitt­ler­weile der dritte aus der Kun­den­dienst-Mann­schaft von Darty. Der erste kam tat­säch­lich schon am Mon­tag nach dem Frei­tags­fei­er­tag. Der Sohn war zuhause. Es muss ein kur­zer Auf­tritt gewe­sen sein. Blick­dia­gnose. E:58. Das kann nur das module de puis­sance sein, was auch immer das sein mag. Hatte er nicht dabei. Lei­der. Musste bestellt wer­den. Papier­kram drei Minu­ten. 89 Euro. Plus Mehr­wert­steuer. Ist mitt­ler­weile aller­dings ein Pau­schal­preis. Egal wie oft sie kom­men müs­sen. Immer­hin. Die Bestel­lung dau­ert zehn Tage. Neuer Ter­min am Sams­tag Nach­mit­tag in zehn Tagen. Zwi­schen 12 und 17 Uhr. Per Mail ein Ein­satz­be­richt. Oben das Motto, notre objec­tiv: vous satis­faire à 100%, unser Ziel: Ihre Zufrie­den­heit zu 100%.

Ça va, ça va, ich weiß, dass Mathieu kein con­nard ist, excuse-moi! Wie gesagt, ich arbeite! Ich weiß aber auch nicht, wo die Schlüs­sel sind! -

Sams­tag Nach­mit­tag, 17 Uhr. Gut zehn Tage spä­ter. Wir waschen unsere Wäsche eben solange im Wasch­sa­lon keine fünf Minu­ten ent­fernt. Der Tech­ni­ker, ein ande­rer als beim ers­ten Mal, hat noch, übers Dépar­te­ment ver­teilt, drei wei­tere Kun­den zufrie­den­zu­stel­len. Erwähnt er gleich zum Bon­jour. Die Logis­ti­ke­rin hat anschei­nend keine Ahnung von der Geo­gra­fie des Dépar­te­ments, sagt er, und Darty sei ohne­hin sowas von schlecht orga­ni­siert. Dass die über­haupt über­le­ben kön­nen, und das schon so lange! Er ist auch nicht ein­ver­stan­den mit der Blick­dia­gnose sei­nes Vor­gän­gers. E:58 wäre nor­ma­ler­weise der con­ver­tis­seur de fréquence. Oder beide, module de puis­sance und con­ver­tis­seur de fréquence. Hätte der Kol­lege ein­fach im Hand­buch nach­le­sen kön­nen. Aber viel­leicht kann der ja nicht lesen. Egal, sagt er, jetzt bin ich ja schon mal hier. Die­ser Herr weiß genau, wie man das anstellt mit der Kun­den­zu­frie­den­heit. Sein Bau­teil befin­det sich raf­fi­niert ver­steckt hin­ter der Vor­der­front. Ça, ils le savent très bien, ces boches, nous faire chier tout le temps. Über­setzt, im Ton abge­mil­dert: Das kön­nen sie, diese Deut­schen, uns das Leben schwer­ma­chen. Die Maschine ist von Sie­mens. Etwa zwan­zig Kabel mit zwan­zig ähn­li­chen Ste­ckern füh­ren zum module de puis­sance. Das module de puis­sance muss das Gehirn der Maschine sein. Wäre aber idio­ten­si­cher, sagt er. Jeder Ste­cker passt nur in einer bestimm­ten Buchse. Am Ende ist alles wie­der ver­steckt hin­ter der Vor­der­front, irgend­wie. Und dann: E:67. Ob er sich nicht doch getäuscht haben könnte mit einem der idio­ten­si­che­ren Ste­cker? Immer noch kaputt. Aber anders. Noch kaput­ter viel­leicht. Sagte ich doch gleich, meint der Tech­ni­ker irgend­wie tri­um­phie­rend. Das andere Teil hat er jedoch nicht dabei, lei­der. Der Kol­lege von letz­ter Woche hätte es übri­gens im Wagen gehabt, weiß seine Soft­ware. Der muss es wohl irgend­wie eilig gehabt haben. Neues Ren­dez­vous nächs­ten Frei­tag. Nach­mit­tags. Ob er selbst wie­der käme, kann er natür­lich nicht sagen. Meine Zufrie­den­heit als Kunde erfährt zuneh­mend Ein­schrän­kun­gen. Drei Sterne von fünf viel­leicht noch.

Also, dann kann ich dir auch nicht hel­fen. Bor­del à cul! -

Gérard ist am Rande sei­ner Ner­ven­kraft. Das Tele­fon zwi­schen lin­kes Ohr und die Schul­ter geklemmt, hat er die Rück­seite der Maschine auf­ge­schraubt, zwölf Schrau­ben, das Bau­teil aus­ge­tauscht und fest­ge­stellt, dass die Maschine immer noch nicht funk­tio­niert.

Ich muss jetzt auch auf­le­gen, ich bin immer noch beim Kun­den. Bis­ous. Küss­chen.

E:67. Unver­än­dert. Hätte schlim­mer kom­men kön­nen, E:79 oder so. Habe ich ja gleich gesagt. Wie­der die­ser Recht­ha­ber-Tri­umph, den sein Vor­gän­ger schon so gut konnte.

Den Mon­tag dar­auf holt Darty die Wasch­ma­schine ab. Auf meine Anre­gung hin. Ich könnte nicht jede Woche einen Nach­mit­tag frei krie­gen, um ihm oder sei­nen Kol­le­gen beim Bas­teln zuzu­se­hen. Neh­men Sie sie mit und brin­gen Sie sie wie­der, wenn sie funk­tio­niert. Gegen Gérards Beden­ken. Ganz schwie­rig, das ginge nur mit Geneh­mi­gung von höchs­ter Stelle, François Hol­lande sozu­sa­gen. Ging dann doch. Gérard hat den Zei­ten­wech­sel ver­schla­fen, François Hol­lande ist nicht mehr der Chef. Mit Emma­nuel Macron geht alles bes­ser. Meine Kun­den­zu­frie­den­heit ist nichts­des­to­trotz auf einem Tief­punkt ange­langt, ein Stern noch. Weni­ger geht nicht.

Ich erin­nere mich mitt­ler­weile, wo ich die 58 schon mal gese­hen habe. Im Gän­se­spiel. Auf Feld 58, ganz kurz vor dem Ziel, stirbt die Gans. Oder schläft ein. Der Spie­ler muss von vorne begin­nen. Deut­sche Tech­ni­ker haben einen dis­kre­ten Sinn für Humor. E:58 heißt weg mit der Maschine, die ist rich­tig kaputt, hol' dir 'né neue. Sowas kön­nen deut­sche Tech­ni­ker. Die Maschine erkennt den Erst­kon­takt mit der Steck­dose des Kun­den. Die Obso­le­s­zens ist auf genau sechs Jahre spä­ter pro­gram­miert, ganz sicher außer­halb jeg­li­cher Garan­tie­op­tio­nen. Da kön­nen Gérard und seine Kol­le­gen machen, was sie wol­len. Sagt ihnen aber kei­ner. Dis­krete deut­sche Tech­ni­ker eben.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Hoffnung

Mitt­woch

12:50 Uhr Ren­dez­vous in der méde­cine nucléaire, Nukle­ar­me­di­zin. Fens­ter­lose War­te­ni­sche an der Kreu­zung von zwei Flu­ren. Neben einer Tür mit einem Papp­schild "Accueil" ist ein klei­ner Auto­mat zur Ver­gabe von War­te­num­mern. C016. Wieso C? Gibt es hier noch andere Türen? Über­haupt, ich sehe kei­nen ein­zi­gen Moni­tor für die Anzeige der aktu­ell auf­ge­ru­fe­nen Num­mer. Noch bevor ich jedoch in die Pati­en­ten­runde der War­te­ni­sche fra­gen kann, was ich nun mit mei­ner Num­mer anzu­fan­gen hätte, öff­net eine junge Frau die Tür. C'est vous la seize? Sind Sie die Sech­zehn? Die junge Frau trägt ein Namens­schild. Sabrina. Erfas­sung der Per­so­na­lien, Unter­schrift für die digi­tale Wei­ter­gabe mei­ner Resul­tate an den Neu­ro­lo­gen. Wie fort­schritt­lich! Ob ich meine Resul­tate nicht auch digi­tal haben dürfte? Das geht lei­der nicht, sagt Sabrina lächelnd, lei­der nicht ohne die Auto­ri­sa­tion des Dok­tor C., der mich gleich sehen würde. Das würde ich doch ver­ste­hen. Natür­lich ver­stehe ich das. Es geziemt sich für Pati­en­ten, Ver­ständ­nis auf­zu­brin­gen. War­ten im War­te­be­reich. Ein dicker älte­rer Herr wird halb ent­blößt auf einer Prit­sche vor­ge­scho­ben. Er trägt Win­deln und stöhnt vor Schmer­zen. Das tut so weh, oh, mein Kopf, das tut so weh! Sehr ermu­ti­gend. In der Radio­lo­gie hilft einem kei­ner. Die inter­es­sie­ren sich für ihre Bil­der und sonst nichts. Der bran­car­dier, der Prit­schen­schie­ber legt einen klei­nen Stop ein, wech­selt char­mante Worte im Accueil mit Sabrina und ihren Kol­le­gin­nen, wäh­rend der ältere Herr in Win­deln mit­ten auf der Kreu­zung stöhnt. Das tut so weh, oh, mein Kopf, das tut so weh! Der Prit­schen­schie­ber hat den Lehr­gang zum wür­di­gen Umgang mit Pati­en­ten offen­sicht­lich ver­säumt. Oder nichts ver­stan­den.

Mon­sieur Diäl?

13:27 Uhr der Dok­tor. Dok­tor C.. Mond­ge­sicht mit Voll­bart. Sieht aus wie direkt aus dem Stu­dium. Gibt mir eine Kap­sel, die ich schlu­cken soll mit etwas Was­ser. Car­bi­dopa 100 mg. Soll eine Stunde ein­wir­ken. Zur bes­se­ren Fixie­rung des radio­ak­ti­ven Dopa­mins. Nach der Injek­tion des radio­ak­ti­ven Dopa­mins werde ich wei­tere ein­ein­halb Stun­den war­ten müs­sen. Zur Fixie­rung der Iso­tope. Die eigent­li­che Unter­su­chung funk­tio­niert wie ein Kern­spin oder CT und dau­ert nur etwa 15 Minu­ten. Neben­wir­kun­gen? Nein, eigent­lich nicht. Die von mir dann aus­ge­hende Radio­ak­ti­vi­tät würde mei­nen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen nicht scha­den. Und mir selbst? Non, nor­ma­le­ment non.

War­te­ni­sche.

Mon­sieur Diehl?

Die Schwes­ter fünf Minu­ten spä­ter – immer­hin spricht sie mei­nen Namen rich­tig aus – gelei­tet mich in eine Art Labor. Hélène. Infu­sion in der Ellen­beuge. Die radio­ak­tive Injek­tion soll jetzt gleich erfol­gen, main­ten­ant, kün­digt sie an. Auch wenn main­ten­ant im medi­ter­ra­nen Ver­ständ­nis ganz all­ge­mein eine andere Bedeu­tungs­schwere hat als rechts des Rheins und nicht "Jetzt und Sofort" heißt, son­dern durch­aus Spiel­räume von einer Vier­tel- bis hal­ben Stunde bie­tet, steht main­ten­ant im Wider­spruch zu der Stunde War­te­zeit, von wel­cher der Dok­tor eben sprach. Ah, bon, sagt Hélène, hat der Dok­tor das gesagt? Geht weg. Und kommt nach einer guten hal­ben Stunde wie­der. Jetzt wäre es wohl soweit. Na dann. Plau­dert noch was. Über mei­nen Akzent und von wo ich denn käme. Stutt­gart? Ken­nen Sie das? Nein, aber ihr Mann kennt das, der war mit dem Mili­tär damals nicht weit von Stutt­gart. Viele Män­ner die­ser Genera­tion schei­nen mit dem Mili­tär damals in Kaser­nen nicht weit von Stutt­gart gewe­sen zu sein. Oder Tübin­gen. Sig­ma­rin­gen. Hélène war zwei Mal in Trè­ves, Trier. Die Aus­tausch­part­ne­rin, auch die Eltern, sprach so gut Fran­zö­sisch, daß sie nichts gelernt hätte. Über­haupt wären die Fran­zo­sen ja so schlecht in Spra­chen, stellt sie fest. Was aber auch an dem mise­ra­blen Unter­richt in der Schule läge. Der durch­schnitt­li­che Fran­zose koket­tiert gerne mit der man­geln­den Sprach­be­ga­bung sei­nes Volks und dem mise­ra­blen Unter­richt in der Schule. Dann ist genug geplau­dert. Es folgt die radio­ak­tive Injek­tion aus einer mons­trö­sen Maschine mit Stahl­zy­lin­dern. Main­ten­ant. Sieht aus wie ein Modell aus den frü­hen Anfän­gen der Nukle­ar­me­di­zin. Ein­schließ­lich der medi­ter­ra­nen Vier­tel­stunde für Jetzt kommt das am Ende schon hin mit der Stunde Ein­wirk­zeit.

Bis zuletzt hatte ich gehofft, es wäre viel­leicht doch alles Quatsch, Ein­bil­dung, ein Irr­tum. Die Hoff­nung gehört zu chro­ni­schen Krank­hei­ten wie der Hori­zont zur Wüste. Obwohl ich es natür­lich bes­ser weiß. exams_requests-php-1Eigent­lich. Hin­ter dem Hori­zont geht die Wüste genauso wei­ter. Ins­ge­samt zuwe­nig Anrei­che­rung des Iso­tops, sagt der Nukle­ar­me­di­zi­ner Dok­tor C. und wird es auch schrei­ben in sei­nem Befund, rechts noch weni­ger als links. Die Bil­der sind der Beweis. Soll die Sym­pto­ma­tik links erklä­ren. Die meis­ten Ner­ven­fa­sern aus dem Hirn kreu­zen irgendwo auf die Gegen­seite. Okay. Ich habe damit gerech­net. Trotz­dem, schade.

Frei­tag

Der Voll­stän­dig­keit hal­ber und weil mir eine Freun­din von ganz frü­her, aus der medi­zi­ni­schen Sand­kiste quasi, jetzt Neu­ro­lo­gin in Ber­lin, dazu gera­ten hatte, war ich bei der Echo­kar­dio­gra­phie. Sie hat sich mitt­ler­weile zwar mehr auf Psych­ia­trie spe­zia­li­siert, hatte aber auch lange mit Par­kin­son zu tun und Par­kin­son sei ja das täg­lich Brot des Neu­ro­lo­gen, sagt sie. Die Neu­ro­lo­gin sagt, Herz­pro­bleme soll­ten im Rah­men der Par­kin­son-Dia­gnos­tik aus­ge­schlos­sen wer­den, ins­be­son­dere ein Fora­men ovale. Das Fora­men ovale, latei­nisch für ova­les Loch, ist ein Loch zwi­schen zwei Herz­kam­mern, den Vor­hö­fen. Das Loch braucht man im Mut­ter­leib, solange die Lun­gen noch nicht in Betrieb sind. Nach der Geburt sollte sich das inner­halb von ein paar Tagen bis Wochen ver­schlie­ßen. Wenn nicht, kann das spä­ter zu Schlag­an­fäl­len füh­ren. Oder kann eben, wie es scheint, irgend­was mit Par­kin­son zu tun haben. Habe ich noch nie gehört vor­her, wozu aber sonst die Herz­dia­gnos­tik? Ich habe der Neu­ro­lo­gin in Ber­lin viel­leicht nicht rich­tig zuge­hört. Oder nicht rich­tig nach­ge­fragt. Pati­en­ten fra­gen immer viel zu wenig. Und wun­dern sich nach­her, daß sie nichts ver­stan­den haben.

Patrick B., im Centre hos­pi­ta­lier der Kar­dio­loge mei­nes Ver­trau­ens, macht die Echo­kar­dio­gra­phie. Patrick B. könnte auch Par­kin­son­pa­ti­ent sein. Kla­rer Fall von Hypo­mi­mie, Mas­ken­ge­sicht, cha­rak­te­ris­tisch für Par­kin­son. Ich kenne mich damit aus. Patrick lächelt nicht oft. Liegt viel­leicht an der knap­pen Aus­stat­tung sei­ner Abtei­lung. Momen­tan ver­fügt er zum Bei­spiel nicht über seine Sonde für trans­ö­so­pha­geale Echo­gra­phie. Ist kaputt gegan­gen, er war­tet seit drei Mona­ten auf Ersatz oder Repa­ra­tur. Wir sind eine öffent­li­che Struk­tur, viel­leicht gibt es gerade nicht genug Geld für die Repa­ra­tur. Trans­ö­so­pha­geal? Eine Sono­gra­phie-Sonde für die Spei­se­röhre, weil man so dem Her­zen und ins­be­son­dere dem even­tu­el­len Loch noch näher kommt als trans­t­hora­kal, durch die Brust­wand. Gilt wohl als die Methode der Wahl, um das Loch zu fin­den, wenn es da eines gibt. Patrick hat eine andere Methode, die er der trans­ö­so­pha­gea­len Echo­gra­phie ohne­hin zumin­dest für eben­bür­tig hält, wenn nicht gar über­le­gen. Viel­leicht macht er aus der Not eine Tugend. Die Schwes­ter, Pas­cale, inji­ziert mir Flüs­sig­keit mit win­zig klei­nen Luft­bläs­chen in die Vene. Kann man in der Echo­gra­phie sehr schön sehen, die Bläs­chen erschei­nen wie Schnee­ge­stö­ber. Nor­ma­ler­weise nur in den rech­ten Herz­kam­mern. Wenn da ein Loch ist, auch links. Vier Injek­tio­nen. Zwei Mal unauf­fäl­lig. Und dann doch ein Zwei­fel. Sind da nicht doch Bläs­chen links? Sind das viel­leicht Arte­fakte, Fehl­mes­sun­gen, frage ich. Auf unse­ren Nar­kose-Moni­to­ren gibt es stän­dig Fehl­mes­sun­gen. Blut­druck 143 zu 132 gibt es nicht, eigen­ar­ti­ges EKG, nein, trotz­dem kein Herz­still­stand, wahr­schein­lich hat sich eine Elek­trode gelöst. Patrick aber ist sich ganz sicher: Kla­res Nein. In der Kar­dio­lo­gie gibt es keine Arte­fakte. Ein ganz klei­nes Loch viel­leicht. Er wird sei­nen Freund, den Pro­fes­sor in Mar­seille fra­gen. Mein Neu­ro­loge hat auch einen Freund in Mar­seille. Das gehört irgend­wie dazu. Und wenn da ein Loch ist, auch ganz klein, wird das abge­dich­tet und mein Par­kin­son ver­schwin­det wie von selbst. Bestimmt.

Die Hoff­nung gehört zu chro­ni­schen Krank­hei­ten wie der Hori­zont zur Wüste. Irgendwo muß die Oase doch sein.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Mythique

Kilo­me­ter 20,9. Aus der Unter­füh­rung eines Fuß­wegs unter dem Bahn­gleis, ein paar Stu­fen nach oben, kommt man direkt auf die Piste, Route du Bord de la Mer. Wie es da aus­sieht, kann bei google maps sehr schön sehen. Auf der einen Seite das Meer, auf der ande­ren die Stadt. Vor­orte von Anti­bes. Ein paar Pal­men, ein Flüss­chen. Wenn meine Frau das Flüss­chen – La Bra­gue – kreuzt kurz nach Mari­ne­land, bin ich auch nicht mehr weit. Ich werde einen hal­ben Liter Zau­ber­trank bereit­hal­ten, Ener­gie­rie­gel und Schmerz­ta­blet­ten.

Mara­thon Nizza-Can­nes. 13. Novem­ber, Sonn­tag. Meine Frau läuft mit. Den gan­zen Mara­thon. Mythi­que, sagt sie. Der Mara­thon Nizza-Can­nes ist mythi­que. Mara­thon­stre­cken wer­den oft mit sol­chen Adjek­ti­ven bedacht. Mythi­que, magi­que, légen­d­aire. Als Nicht­läu­fer kann ich sol­che Attri­bute schwer nach­emp­fin­den. Lau­fen über­haupt ist schon anstren­gend, über 42,195 Kilo­me­ter mit zehn­tau­send ande­ren Läu­fern eine ein­zige Tor­tur. Einige ihrer Kol­le­gin­nen lau­fen den Mara­thon als Staf­fel. Gibt es auch. Die Kilo­me­ter wer­den in unter­schied­lich große Abschnitte auf­ge­teilt. Sechs oder sie­ben Abschnitte, glaube ich. Ich bin kein Läu­fer. Nicht mal in der Staf­fel. Ich bin der Coach. Zwei Mal werde ich an der Stre­cke ste­hen und Wun­der­mit­tel bereit­hal­ten. Zau­ber­trank, Ener­gie­rie­gel, Schmerz­ta­blet­ten. Trost und Mut zuspre­chen. Und am Ende das Taxi spie­len für meine Frau und die eine oder andere Staf­fel-Läu­fe­rin. Lange schien es, als brauch­ten sie mich gar nicht. Lange schie­nen genug andere Coachs unter­wegs zu sein. Sicher ist, daß meine Frau schon heute Nach­mit­tag fah­ren wird. Viel­leicht mit Sophie, viel­leicht mit Nadège. Wird sich noch erge­ben. Fran­zo­sen hal­ten sich gerne alle Optio­nen offen. Bis zuletzt. Wenn man als Mit­tel­eu­ro­päer teu­to­ni­scher Her­kunft denkt, man hätte nun was orga­ni­siert, ist das pure Illu­sion. Kann sich in letz­ter Minute ganz anders dar­stel­len. Mal sehen, wer heute Nach­mit­tag klin­gelt. Bes­ser nichts orga­ni­sie­ren und auf sich zukom­men las­sen. Ist eine Frage der Welt­an­schau­ung. Sehr gut ist der Fran­zose in der Impro­vi­sa­tion. Das Beste draus machen wenn nichts mehr zu orga­ni­sie­ren ist. Die eige­nen Prio­ri­tä­ten nicht aus den Augen ver­lie­ren. Nur das Hotel für heute Abend in der Nähe des Départ ist gebucht. Mythi­que übri­gens schon der Start laut Home­page. In der Nähe des Alli­anz Riviera Sta­di­ons außer­halb der Stadt. Und ein gemein­sa­mes Essen ist ange­dacht. Am bes­ten Piz­ze­ria. Eine ordent­li­che Por­tion Nudeln. Gut für die Gly­ko­gen­spei­cher. Dabei mit wenig Bal­last­stof­fen. Ein Glas Wein viel­leicht. Der Tisch in der Piz­ze­ria ist aller­dings noch nicht reser­viert. Viel­leicht fällt das gemein­same Essen auch aus. Weiß man nicht. Oder zum Chi­ne­sen. Da gibt's ja auch Nudeln.

Am 30. Okto­ber war der Lauf Mar­seille-Cas­sis. Ein Halb­ma­ra­thon, über drei­hun­dert Meter Höhen­un­ter­schied. Auch mythi­que. Wenn man nach zwan­zig Kilo­me­tern und drei­hun­dert Höhen­me­tern ins Ziel wankt, ver­klärt sich die Leis­tung ins Mythi­sche. Da sollte nur meine Frau lau­fen. Weil das Läu­fer­um­feld mei­ner Frau zu lang­sam war bei der Anmel­dung online. Zu lang­sam oder nicht punkt­ge­nau online. Die Anmel­dung war, erschwe­rend, irgend­wann im August um zehn Uhr vor­mit­tags. Die meis­ten Men­schen, auch Läu­fer, müs­sen um zehn Uhr vor­mit­tags arbei­ten. Auch im August. Ich hatte frei. Als Coach küm­mere ich mich nicht nur um Zau­ber­trank, Trost und Zuspruch, son­dern gele­gent­lich auch um die Anmel­dung. Punkt zehn Uhr war die Seite online. Klick. Name, Vor­name, Geburts­da­tum. Klick. Adresse. Klick. Ver­eins­zu­ge­hö­rig­keit. Klick. Adresse des Ver­eins. Klick. Kre­dit­karte. Klick. Bestä­ti­gungs-Code – veuil­lez pati­en­ter quel­ques instants – auf dem Handy. Kein Pro­blem, dar­auf war ich vor­be­rei­tet, ein guter Coach hat sein Handy immer gela­den und in Griff­weite. Sechs­stel­li­ger Code. Klick. Fünf Minu­ten zwei­und­drei­ßig Sekun­den chrono. Dann wollte ich noch Nadège anmel­den, eine Tri­ath­le­tin aus dem Läu­fer­um­feld, die im August auch arbei­ten mußte. Klick. Com­plet. Nous en som­mes déso­lés. Zu spät. Hatte den Vor­teil, daß die Pla­nung so um vie­les ein­fa­cher war. Kein Fran­zose dabei. Nur eine Fran­ko­phile, meine Frau. Die erwägt auch gerne meh­rere Optio­nen bis zuletzt. Ist aber nor­ma­ler­weise nur eine Option zur Zeit. Ein Fran­zose jon­gliert gerne mit drei oder vier Optio­nen, gerne auch dia­me­tral gegen­läu­fig. Bei zwei Fran­zo­sen ist man schnell bei sechs bis acht ange­dach­ten Optio­nen. Die mathe­ma­ti­sche For­mel ist ganz ein­fach. Zahl der betei­lig­ten Fran­zo­sen in unge­fähr drit­ter Potenz. Man kann diese For­mel noch unter Berück­sich­ti­gung ver­schie­de­ner äuße­rer Umstände – Wet­ter, Tages­zeit, Ort, rela­tio­nelle, kuli­na­ri­sche und finan­zi­elle Aspekte – ver­fei­nern, das Prin­zip bleibt: expo­nen­ti­elle Stei­ge­rung.

Der mythi­sche Lauf fiel schließ­lich auch für meine Frau aus. Wegen logis­ti­scher Beden­ken. 15.000 ange­mel­dete Läu­fer. Fünf­zehn­tau­send. Dazu Ange­hö­rige. Schau­lus­tige. Sicher­heits- und Hilfs­per­so­nal, Park­platz­an­wei­ser. Und das in einem Dorf wie Cas­sis, ein Fischer­städt­chen, klei­ner als Saint-Tro­pez, mit win­zi­gem Hafen. Sta­tis­tisch mehr als zwei Läu­fer pro Ein­woh­ner. Pro­gram­mier­tes Chaos. Ver­mut­lich war die Zufahrt zum Fischer­ha­fen ab der zuge­hö­ri­gen Auto­bahn­aus­fahrt 13 Kilo­me­ter wei­ter beschränkt. Außer­dem hätte man die Start­num­mer am Vor­abend in Mar­seille abho­len müs­sen. Sogar für einen mythi­schen Lauf zuviel Auf­wand.

Mor­gen Nizza-Can­nes. Meine Frau läuft mit der Start­num­mer 7461. Der Coach bei Kilo­me­ter 20,9 und 31. Kilo­me­ter 31 ist auf der Höhe von Juan-les-Pins. Kurz nach dem Cap d'Antibes mit der höchs­ten Erhe­bung der Stre­cke, 34 Meter. Das Ziel auf dem Bou­le­vard de la Croi­sette von Can­nes vor dem Carl­ton. Viel­leicht gehö­ren sol­che Ele­mente zum Mythos des Laufs: Julia Roberts, Jodie Fos­ter und George Cloo­ney waren auch gerade in Can­nes. Weni­ger zum Lau­fen ver­mut­lich. Haben viel­leicht eine Tasse Kaf­fee getrun­ken auf der Ter­rasse des Hotels.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Golfplatz

Zum Jah­res­ende wol­len sie unser Labor zuma­chen. Nein, sie wol­len nicht, sie wer­den. Sie, die Direk­tion. Dabei ist das Labor außer dem Kiosk in der Ein­gangs­halle mei­nes Wis­sens die ein­zige Abtei­lung, die Gewinn abwirft. Bis­her hat das Centre hos­pi­ta­lier für 2016 drei Mil­lio­nen Ver­lust ein­ge­fah­ren. Drei Mil­lio­nen Euro. Letz­tes und vor­letz­tes Jahr waren es ins­ge­samt jeweils fünf Mil­lio­nen, sagen sie. Sie, die Direk­tion. Des­we­gen haben wir seit­her eine gemein­same Direk­tion mit dem gro­ßen Kran­ken­haus quasi nebenan, in Tou­lon. Dort bringt das Labor im Gegen­satz zu vie­len ande­ren Abtei­lun­gen, unter ande­rem ver­mut­lich dem Kiosk in der Ein­gangs­halle, kei­nen Gewinn. Unser gemein­sa­mer Direk­tor ist vor allem der Direk­tor des gro­ßen Kran­ken­hau­ses quasi nebenan. Das große ist seins. Um unser Kran­ken­haus küm­mert er sich nur so neben­bei. Logisch, daß er vor allem an seins, das große, neue quasi nebenan denkt. Er hat die Zah­len sofort durch­schaut. Für das Ver­ständ­nis von Zah­len braucht es kei­nen medi­zi­ni­schen Sach­ver­stand. Der Direk­tor glaubt, daß er sein Labor sanie­ren kann, wenn er sich unse­res ein­ver­leibt. Ande­rer­seits möchte man den­ken, es bräuchte kei­nen aus­ge­präg­ten medi­zi­ni­schen Sach­ver­stand, um zu ver­ste­hen, daß ein Kran­ken­haus der Basis­ver­sor­gung mit Geburts­hilfe nicht mehr rich­tig funk­tio­nie­ren kann ohne eige­nes Labor im Kel­ler. Vor einem Jahr etwa hat­ten wir eine Réunion mit dem Direk­tor zu die­sem Thema. Wir wie­sen ihn dar­auf hin, daß ein Kran­ken­haus der Basis­ver­sor­gung und ins­be­son­dere des­sen Geburts­hilfe ohne ange­schlos­se­nes Labor nicht mehr rich­tig funk­tio­nie­ren kann. Der Direk­tor hielt dage­gen, daß er Spe­zia­lis­ten für sowas hätte und daß die Spe­zia­lis­ten einen Plan aus­ar­bei­ten wür­den, wie unser Kran­ken­haus auch ohne direkt ange­schlos­se­nes Labor im Kel­ler funk­tio­nie­ren würde. Das Labor des gro­ßen, neuen Kran­ken­hau­ses quasi nebenan hätte aus­rei­chend Kapa­zi­tä­ten, die Ver­sor­gung unse­res klei­nen Kran­ken­hau­ses samt sei­ner Geburts­hilfe kor­rekt zu bedie­nen. Beden­ken unse­rer­seits ange­sichts einer Ent­fer­nung von immer­hin knapp fünf­zehn Kilo­me­tern hohen Stau­po­ten­ti­als zwi­schen den bei­den Häu­sern ließ er nicht gel­ten. Der Direk­tor betonte, er hätte Spe­zia­lis­ten für sowas. Diese wären in der Lage, einen Plan aus­zu­ar­bei­ten, der allen Even­tua­li­tä­ten Rech­nung tra­gen würde. Wie kann man bloß so blau­äu­gig sein! Hat er die Staus zu jeder Tages­zeit noch nie aus eige­ner Anschau­ung erlebt? Wenn der Tun­nel Rich­tung Mar­seille gesperrt ist, geht im Umkreis von zehn Kilo­me­tern gar nichts mehr. Stau in den kleins­ten Neben­stre­cken. Nicht ein­mal durch unser Argu­ment der gefähr­de­ten Pati­en­ten­si­cher­heit ließ sich der Direk­tor aus der Ruhe brin­gen. Weil Kran­ken­haus­di­rek­to­ren meist nur über sehr wenig medi­zi­ni­schen Sach­ver­stand ver­fü­gen, zucken sie nor­ma­ler­weise ein biß­chen, wenn man die Pati­en­ten­si­cher­heit ins Spiel bringt. Davor haben sie Angst. Sie haben Angst vor dem Unfall am Pati­en­ten und vor allem vor der nach­weis­ba­ren Mit­schuld am Unfall. Der Direk­tor aus dem gro­ßen Kran­ken­haus quasi nebenan winkte rou­ti­niert ab. Schließ­lich hätte er Spe­zia­lis­ten für sowas.

Böse Zun­gen behaup­ten, im all­ge­mei­nen wäre die Schlie­ßung des Labors nur der erste Schritt zur Schlie­ßung eines Kran­ken­hau­ses im Gan­zen.

Letz­ten Sonn­tag hatte ich Dienst. Und mußte fest­stel­len, daß sie schon mal unsere Blut­bank als Teil des Labors zuge­macht hat­ten. Sie, die Direk­tion. Ver­mut­lich auf Emp­feh­lung der Spe­zia­lis­ten. Das Labor funk­tio­niert noch so wie sonst, nur eben ohne Blut­bank. Statt­des­sen haben wir jetzt einen Kühl­schrank mit Null-Nega­tiv-Kon­ser­ven, fünf Stück, für den vita­len Not­fall. Und ein paar Tüten Frisch­plasma. Keine Blut­bank. Keine Mög­lich­keit, Pati­en­ten inner­halb von drei­ßig Minu­ten ihrer Blut­grup­pen­kon­stel­la­tion ent­spre­chen­des Blut zu ver­ab­rei­chen. Außer eben was von den Null-Nega­tiv-Kon­ser­ven. Das geht immer. Lei­der hat­ten die Spe­zia­lis­ten ver­säumt, den Direk­tor dar­auf­hin­zu­wei­sen, daß das medi­zi­nisch rele­vante Per­so­nal von die­sem Umstand in Kennt­nis gesetzt wer­den sollte. Recht­zei­tig. Per Mail, Rund­brief, Bespre­chung zum Bei­spiel. Nie­mand hatte letz­ten Sonn­tag gewußt, daß es schon soweit sei. Daß das Labor ganz zuma­chen würde zum Jah­res­ende und man jetzt schon mal anfan­gen würde mit der Blut­bank. Oder die, die unter­rich­tet waren, haben denen, die damit arbei­ten müs­sen, nichts davon gesagt. Das ent­spricht medi­ter­ra­ner Kom­mu­ni­ka­ti­ons-Stra­te­gie. Es wird viel gere­det, aber kein rele­van­ter Inhalt kom­mu­ni­ziert. Immer­hin fan­den sich schließ­lich einige Exem­plare einer pro­cé­dure, einer Dienst­an­wei­sung. Lieb­los redi­giert, immer­hin mit ein paar Tele­fon- und Fax­num­mern im Labor des gro­ßen Kran­ken­hau­ses quasi nebenan. Am Tele­fon mit der Blut­bank des gro­ßen Kran­ken­hau­ses nebenan kris­tal­li­sier­ten sich inter­es­sante Details her­aus. Für den lebens­be­droh­li­chen Trans­fu­si­ons-Not­fall gibt es beim Kran­ken­haus ange­stellte Fah­rer im Bereit­schafts­dienst. Die war­ten bei sich zuhause auf den Ein­satz. Das Zuhause des Fah­rers darf drei­ßig Minu­ten vom gro­ßen Kran­ken­haus nebenan ent­fernt sein. Drei­ßig Minu­ten! Unser Not­fall­fah­rer am Sonn­tag hat sein Zuhause in Hyè­res. Sonn­tags kommt es höchs­tens wäh­rend der Schul­fe­rien mal zu Staus. Oder wenn mal wie­der eine acht­los weg­ge­wor­fene Kippe den Mit­tel­strei­fen in Brand gesetzt hat. Was aber sicher zu den Even­tua­li­tä­ten gehört, wel­chen die Weis­heit der Spe­zia­lis­ten Rech­nung trägt.

Außer dem Not­fall­fah­rer des Kran­ken­hau­ses gibt es einen pri­vat­wirt­schaft­li­chen Fahr­dienst, der alle medi­zi­ni­schen Struk­tu­ren ohne eige­nes Labor im Groß­raum ver­sorgt. Der fährt seine Runde vier oder fünf Mal pro Tag. Natür­lich nur zwi­schen 7 und 17 Uhr. Bestimmt äußerst lukra­tiv. Werk­tags. Wer arbei­tet schon frei­wil­lig nachts und am Wochen­ende. Außer­halb die­ser Zei­ten wird jeder Ein­satz zum Not­fall für den Kran­ken­haus­fah­rer.

Böse Zun­gen behaup­ten, der Chef des pri­vat­wirt­schaft­li­chen Fahr­diens­tes und der Direk­tor der Kran­ken­häu­ser wür­den regel­mä­ßig gemein­sam auf dem 18-Loch-Par­cours des Golf­plat­zes bei mir im Dorf ange­trof­fen wer­den.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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