Schweinehunde

Über den Win­ter hat sich ein gan­zes Rudel inne­rer Schwei­ne­hunde gegen mein Fahr­rad ange­sam­melt. Der Wind an sich, der Wind aus der fal­schen Rich­tung, die Kälte, die Nässe, die Wol­ken, die Regen­wahr­schein­lich­keit. Dazu die übli­chen Schwei­ne­hunde, die immer funk­tio­nie­ren. Der leere Kühl­schrank, zu wenig Kat­zen­fut­ter, der fast ver­stopfte Ablauf der Bade­wanne. Sowas. Wenn es ein Argu­ment gegen ein, zwei Stun­den Rad­fah­ren zu fin­den galt, fand sich auch eins.

Zur Not Stella.

2:16 Uhr das Tele­fon. Stella. Stella, la sage-femme, die Heb­amme. Braucht eine Péri­du­rale für eine Dritt­ge­bä­rende bei fünf Zen­ti­me­tern. Stella bezeich­net sich selbst als chat noir, als jeman­den, der Unglück irgend­wie anzu­zie­hen scheint. Wenn Stella im Kreiss­saal ist, geht immer, na ja, oft was schief. Okay, keine beun­ru­hi­gen­den Ein­zel­hei­ten an die­ser Stelle. Auch im Kreiss­saal kann eben immer wie­der mal was schief­ge­hen. Orga­ni­sa­to­risch, mensch­lich, medi­zi­nisch. Acht Minu­ten spä­ter schon, 2:24 Uhr, finde ich Stella in Saal 4. Der Mut­ter­mund mitt­ler­weile voll­stän­dig eröff­net. Typisch Stella. Eigent­lich zu spät für eine Péri­du­rale. Wie lange es wohl noch dau­ern würde, bis das Kind da sei? Na ja, eine halbe Stunde bestimmt viel­leicht schon noch. Bis die Péri­du­rale fer­tig ist und zu wir­ken beginnt, dau­ert es etwa zwan­zig Minu­ten.

Cap Garonne ist eine Wohn­lage wie Cap Fer­rat in Nizza, Pam­pe­lonne bei Saint-Tro­pez oder Cap Bénat bei Le Lavan­dou. Das Meer in Sicht­weite, Aus­sicht bis Kor­sika, woh­nen Leute – oder kom­men übers Wochen­ende – in Anwe­sen deut­lich jen­seits der Mil­lio­nen­grenze. Bei­la­gen von Hoch­glanz­ma­ga­zi­nen bie­ten sowas an. Drei Mil­lio­nen auf­wärts. Video­über­wa­chung, Pfört­ner, Zugangs­kon­trolle. Rie­sige Ter­ras­sen, Pools, deren blauer Hori­zont mit dem Him­mel ver­schmilzt. Im Fuhr­park eli­täre Roads­ter ohne Dach und rie­sige All­rad­schiffe, viel zu groß für die schma­len Stra­ßen. Am einem Don­ners­tag­mor­gen nach Stella mit­ten in der Nacht sind hier nur weiße Kas­ten­wa­gen unter­wegs, Klemp­ner, Gla­ser, Schlüs­sel­dienste. Auch in der Hoch­glan­z­im­mo­bi­lie geht mal eine Scheibe kaputt, ist mal ein Klo ver­stopft, hat der Nach­wuchs den Code der Alarm­an­lage ver­stellt. Sans faire exprès natür­lich. Warum sollte hier irgend­et­was anders sein als bei nor­ma­len Leu­ten?

Ob sie wirk­lich all die Risi­ken in Kauf neh­men möchte? Für zehn Minu­ten weni­ger Schmerz viel­leicht? – Wel­che Risi­ken? – Na ja, auch eine Péri­du­rale kann töd­li­che Kom­pli­ka­tio­nen mit sich brin­gen. Für Sie oder ihr Baby. So ist das eben in der Medi­zin. Oder Sie in den Roll­stuhl brin­gen. Das war ein biss­chen unfair, ich weiß. Das Glei­che sage ich den wer­den­den Müt­tern in der nor­ma­len Sprech­stunde zwar auch, gehört zur Risi­ko­auf­klä­rung, aber rela­ti­viere diese Risi­ken im glei­chen Atem­zug als heut­zu­tage eher theo­re­tisch.

Vor ein paar Jah­ren, ich kann mich noch prä­zise an den Abschnitt erin­nern, wurde ich von der fran­zö­si­schen Tri­ath­lon-Vize­meis­te­rin über­holt. In einer Stei­gung. Mor­gens um zehn nach acht. Sie hatte ihr Töch­ter­chen dabei, blond gelockt und in Rosa. Im Anhän­ger. Wahr­schein­lich auf dem Weg in die École mater­nelle. Beide lächel­ten und nick­ten mir auf­mun­ternd zu. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, auch nur dran zu blei­ben. Spä­ter fragte ich mich, ob das Fahr­rad der fran­zö­si­schen Tri­ath­lon-Vize­meis­te­rin nicht doch mit Bat­te­rie und Motor getunt war.

Die Dritt­ge­bä­rende will es nachts um halb drei unter der Vor­stel­lung nicht uner­heb­li­cher Risi­ken doch lie­ber mit ange­pass­ter Atem­tech­nik zu Ende brin­gen. Muss sich eben Stella mehr bemü­hen. Und kann nicht mehr als Schwei­ne­hund her­hal­ten.

Auf mei­ner Stre­cke über Cap Garonne, gemä­ßigt berg­auf und bergab, gesperrt außer für Anlie­ger und Rad­fah­rer, zwi­schen Pinien, Fel­sen, Man­del­bäu­men, Oli­ven und Fei­gen, gele­gent­lich eilige Kas­ten­wa­gen von vorne oder hin­ten, gibt es, abseits der abge­rie­gel­ten Wohn­be­zirke, zwi­schen ver­wil­der­ten Wein­stö­cken und ein­ge­fal­le­nen Gewächs­häu­sern, noch ursprüng­li­che Häus­chen in Bruch­stein. Man­che mit erheb­li­chem Reno­vie­rungs­be­darf. Aber mit vue mer. Spä­ter, wenn ich mal älter bin, wenn die Kin­der mal nicht mehr zuhause woh­nen und nur alle halbe Jahre für ein Wochen­ende zu Besuch kom­men, reicht mir auch sowas. Von mei­ner Ter­rasse aus kann man das Meer hören, sehen und rie­chen. Am Hori­zont die Fäh­ren nach Kor­sika, Sar­di­nien und Rom, manch­mal die Charles-de-Gaulle. Im Kühl­schrank immer ein Vor­rat von ein paar Fla­schen Rosé. Für die Enkel ein Matrat­zen­la­ger unter dem Dach, zur Abküh­lung reicht der Brun­nen im Gar­ten.

Für mich ein Fahr­rad mit Elek­tro­un­ter­stüt­zung.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Alles so wie immer

Ich hatte geahnt, das es soweit kom­men würde. Pro­kras­ti­na­tion bringt gar nichts. Pre­dige ich mei­nen Kin­dern regel­mä­ßig. Macht eure Haus­auf­ga­ben, lest eure Bücher recht­zei­tig, denkt an eure Sport­sa­chen. Ce qui est fait, n'est plus à faire. Getan ist getan. Ganz sel­ten hören sie auf mich.

Zum Wochen­ende Ende Novem­ber die Mail von der Redak­teu­rin. Hast du Stoff für uns? Mit dis­kre­ter Andeu­tung von Zeit­druck. Und lie­ben Grü­ßen aus dem Vor­weih­nachts­chaos. Kal­ter Schweiss. Nor­ma­ler­weise pas­siert mir das nicht. Nor­ma­ler­weise warte die Mail gar nicht erst ab oder habe schon was auf Lager. Meist irgend­was aus dem Blog, ein biss­chen über­ar­bei­tet, ein biss­chen gekürzt, nicht mehr als vier­tau­send Zei­chen. Ich hasse Zeit­druck. Macht eure Auf­ga­ben, wenn ihr Zeit habt. Ce qui est fait, n'est plus à faire höre ich mich noch selbst. Dazu nichts als faule Aus­re­den. Wie die Kin­der. Buch ver­ges­sen, Fül­ler gestoh­len, vom Schwim­men so müde. Auto in der Werk­statt, Spül­ma­schine kaputt, Ärger mit Kol­le­gen, sol­cher Unsinn. Als ob mir das Auto in der Werk­statt jedes denk­bare Zeit­fens­ter rau­ben könnte. Klas­si­sche Pro­kras­ti­na­tion. Abseh­bar somit und doch ganz plötz­lich die Mail von der Redak­teu­rin und nichts parat. Ich brau­che drin­gend einen Text für meine Kolumne wei­ter hin­ten in der Rivie­r­a­Zeit, zwei­spal­tig auf einer Art Nato­grün. Am bes­ten was pas­send zum Jah­res­ende. Was Net­tes zum Schmun­zeln, ein Text, der mit Bonne Année enden kann oder Meilleurs voeux. Was mit Bezug zur Côte d'Azur, zum Leben hier als deut­scher Aus­län­der. Zum Leben der Ziel­gruppe. Was mit Fami­lie viel­leicht. Fami­lie passt gut zum Jah­res­wech­sel. Fami­lie passt auch zur Ziel­gruppe. Die Ziel­gruppe muss oft Weih­nach­ten und Syl­ves­ter mit Kind und Kegel und Hund nach Karls­ruhe und Oer-Erken­schwick rei­sen, weil die Groß­el­tern lie­ber zuhause fei­ern. Wisst ihr, wir sind ja auch nicht mehr die Jüngs­ten. Oder Fami­lie aus Mün­chen und Pots­dam fällt im Süden ein. Kin­der, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr's hier habt.

Mein Schwie­ger­va­ter gehört zu letz­te­rer Kate­go­rie. Kin­der, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr's hier habt. Er wird Neu­jahr im Süden ver­brin­gen. Obwohl er ja auch nicht mehr der Jüngste ist. Mit easy­jet nach Nizza flie­gen. Dort einen Leih­wa­gen neh­men. Ein paar Tage blauer Him­mel und medi­ter­rane Kuli­na­rik. Und Fami­lie. Fast alle Enkel sind zuhause. Freut mich sehr, weil er schon län­ger nicht mehr zu Besuch gekom­men ist. Frü­her kam er gerne mit dem Auto. Gerne auch alleine. Mit dem Auto, weil da mehr rein­geht als in ein, zwei Kof­fer. Und weil man dann unab­hän­gi­ger ist, sagte er. Man kann fah­ren, wann man will. Wenn man mor­gens um halb vier auf­wacht und fah­ren will, fährt man eben um halb vier Uhr mor­gens. Nichts konnte ihn auf­hal­ten. Senio­ren nei­gen zu Impe­ra­ti­ven die­ser Art. Mit dem Flie­ger müsste man zudem noch einen Leih­wa­gen neh­men in Nizza oder Mar­seille und das wäre alles zu läs­tig. Oder, noch schlim­mer, man müsste sich abho­len las­sen. Senio­ren wol­len vor allem nie­man­dem zur Last fal­len. Wenn er dann schon mal mit dem Auto kam, immer­hin gut 1.600 Kilo­me­ter in vier­zehn Stun­den, blieb er gerne auch ein biss­chen län­ger. Zwei, drei Wochen. Ich kann mich dann ja auch um die Küche küm­mern, sagte er. Er küm­mert sich gerne um die Küche, ein­schließ­lich mar­ché, pois­son­ne­rie, from­age­rie. Haben wir alles im Dorf. Süd­frank­reich eben. Frü­her, wenn er sich nicht um die Küche küm­merte, arbei­tete er im Gar­ten. Mein Schwie­ger­va­ter ist Bild­hauer. Der bedeu­tendste lebende Bild­hauer Schles­wig-Hol­steins übri­gens. Fin­det er nett, wenn man das sagt. Er ist bedeu­tendste lebende Bild­hauer Schles­wig-Hol­steins. Bei uns im Gar­ten ent­stan­den unter Ket­ten­säge, Stech­ei­sen und Win­kel­schlei­fer zahl­rei­che Skulp­tu­ren in Zeder, Zypresse, Aka­zie und Pinie. Über Wochen pro­fi­tierte das ganze Vier­tel vom wür­zi­gen Aroma medi­ter­ra­ner Höl­zer. Um den Staub küm­merte sich die Putz­frau.

Manch­mal kam auch die Schwie­ger­mut­ter, vor allem als die Kin­der noch klei­ner waren. Gerne auch sie alleine und lie­ber im Som­mer. Was uns auch ent­ge­gen­kam, irgend­wie. Ersparte uns Aupair-Mäd­chen und andere abgrün­dige Betreu­ungs­maß­nah­men. Ich schi­cke euch dann mal Mut­ter, sagte der Schwie­ger­va­ter dazu. Drei, vier Wochen. Damit sich's auch lohnt. Sie kann euch ja dann auch in der Küche hel­fen. Die Schwie­ger­mut­ter nahm gerne den Flie­ger, wir hol­ten sie in Mar­seille oder Nizza ab. Klei­nes Gepäck. Wenn ich was ver­gesse, kann ich mir das ja bei Inter­mar­ché oder Car­re­four holen, sagte sie. Sie half auch gerne in der Küche. Nudeln mit Toma­ten­soße, Pfann­ku­chen mit Nutella, Fisch­stäb­chen mit Kar­tof­fel­pü­ree. Dazu Bespa­ßung. Mari­ne­land, Aqua­land, MacDonald's.

Der Schwie­ger­va­ter bringt ein Paar kunst­in­ter­es­sier­ter Freunde mit. Er wird ihnen die Sehens­wür­dig­kei­ten der Umge­bung zei­gen, wahr­schein­lich das eine oder andere Museum. Sie wer­den zwei­fels­ohne auf Hafen­pro­me­na­den zu Mit­tag essen und exzes­sive Ein­käufe täti­gen auf dem Markt, bei der Fisch­frau und dem Käse­spe­zia­lis­ten. Süd­frank­reich eben. Blauer Him­mel im tiefs­ten Win­ter. Das Regen­grau zuhause nur in der Wet­ter-App. Kin­der, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr's hier habt. Wenn ich von der Arbeit zurück­komme, wer­den sie sich um die abend­li­che Kuli­na­rik geküm­mert haben. Punkt­ge­nau um sie­ben à table. Keine medi­ter­ra­nen Anwand­lun­gen bitte, preus­si­sche Gene las­sen da kei­nen Ver­hand­lungs­spiel­raum zu. Impe­ra­tiv. Mei­nes Schwie­ger­va­ters Fisch­suppe mit hand­ver­le­se­nen Zuta­ten ist ganz exqui­sit. Zum Jah­res­wech­sel wird es Aus­tern geben und andere fruits de mer. Meine Toch­ter wird sich dies­be­züg­lich unzu­frie­den zei­gen. Zu ihrem Geburts­tag hätte sie sich Raclette gewünscht oder Käse­fon­due. Egal, die Toch­ter fin­det immer was zu kri­ti­sie­ren.

Vor dem Count­down auf 2017 zwei, drei Mal Din­ner for One auf ver­schie­de­nen Sen­dern. Ein Muss. Same pro­ce­dure as every year.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr