Yühtüb

Deutsch­land­reise. Nicht mehr lange bis zur Wahl. Pla­kate allent­hal­ben. Angela natür­lich und Mar­tin. Der sollte sich mal rasie­ren, sagen die Kin­der. Die loka­len Reprä­sen­tan­ten dazu. Man­che Por­träts auf den Pla­ka­ten in schwarz-weiß. Auch unra­siert. Dazu gelb auf rosa: FDP. Fin­den die Kin­der zum Brül­len komisch. Den soll man wäh­len? FDP? Papa ver­steht mal wie­der nichts. Erklärt, die FDP sei eben auch so eine Par­tei, die man in Deutsch­land wäh­len könnte. Wofür die Buch­sta­ben ste­hen, inters­siert die Kin­der schon gar nicht mehr. Ja, ja, schon gut, aber doch nicht FDP! Weißt du nicht, was das heißt? Papa weiß es nicht. Wahr­schein­lich eines die­ser Kür­zel, die die Kin­der so gerne ver­wen­den, lol und mdr kenne ich. FDP, klä­ren mich die Kin­der auf, steht für fils de pute. Stimmt, in Frank­reich ginge das gar nicht.

Rosa rosa rosam

Auf dem Weg zur Schule. Latein. Meine Toch­ter hat jetzt auch Latein. Ein Test. Sie übt noch mal schnell die A-Dekli­na­tion. Rosa rosa rosam. An diese Rei­hen­folge konnte ich mich beim ers­ten Sohn nur schwer gewöh­nen. Eigent­lich rosa rosae rosae. Fran­zo­sen machen gerne alles anders als alle ande­ren. Sogar Latein. Andere Rei­hen­folge der Fälle als die Deut­schen. Immer­hin bleibt der Nomi­na­tiv an ers­ter Stelle. Danach Kraut und Rüben. Als zwei­tes der Voka­tiv. Statt des Gene­tivs. Der Gene­tiv wird stief­kind­lich behan­delt, fin­det sich erst an vier­ter Stelle. Liegt viel­leicht daran, dass sie in ihrer Mut­ter­spra­che schon ohne Gene­tiv aus­kom­men müs­sen, statt von Papas Ham­mer von le mar­teau de papa, dem Ham­mer von Papa, reden müs­sen. Ist für mein Sprach­ge­fühl fast so ele­gant wie dem Papa sein Ham­mer. Ver­mut­lich eine Frage der Gewöh­nung. Andere roma­ni­sche Spra­chen müs­sen auch ohne Geni­tiv aus­kom­men.

Rosae rosae rosa

Meine Toch­ter mag Latein gar nicht, nimmt da kein Blatt vor den Mund. La pure merde sagt sie. Weil das nichts bringt. Was soll eine tote Spra­che schon brin­gen? Auch wenn die Brü­der schon Latein machen muss­ten. Der Eltern wegen. Weil das sehr wohl was bringt. Für das Sprach­ver­ständ­nis, den Sprach­er­werb, den Wort­schatz. Die All­ge­mein­bil­dung. Hat's uns etwa gescha­det? Sagen die Eltern.

Rosae rosae rosas rosarum rosis rosis

Die Brü­der konn­ten in der Tat auch wenig Begeis­te­rung auf­brin­gen für Latein. Hiel­ten sich aber zurück mit so kras­sem Kom­men­tar. Die Leh­rer geben sich ande­rer­seits große Mühe, ihrem unbe­lieb­ten Fach inter­es­sante Aspekte zu ver­lei­hen. Klas­sen­rei­sen zum Bei­spiel nach Rom, Nea­pel, Pom­peji. Auch die Reise des Sohns nach Grie­chen­land – Athen, Del­phi, Olym­pia – im nächs­ten Früh­jahr fin­det im Rah­men des Latein­un­ter­richts statt. Zehn Tage im Bus. Immer­hin. Ein Sohn durfte über Jahre Filme gucken, die im wei­tes­ten Sinne was mit der Spra­che zu tun hat­ten. Klas­si­ker wie Ben Hur. Wahr­schein­lich auch die Auf­nahme mit Jac­ques Brel. Der Voll­stän­dig­keit hal­ber. Aber das ist schon fast so schlimm wie Oper. Ich glaube nicht, dass er über rosa rosa rosam hin­aus­ge­hende Sprach­kennt­nisse erwer­ben konnte. Egal.

Hast du gehört, was der gesagt hat?

Er hat was gesagt, rich­tig. Ich habe nicht zuge­hört. Nein, was denn?

Der hat twenty one pilot gesagt.

Ja, und?

Mor­gens auf dem Weg zur Schule. Wir hören mis­tral fm, Lokal­sen­der von Tou­lon. Von sechs bis neun wird "La Mati­nale" mode­riert von zwei Spre­chern, weib­lich und männ­lich, ich nenne sie mal Manon und Livio. Wahr­schein­lich haben sie auch wirk­li­che Namen, wahr­schein­lich stel­len sie sich auch irgend­wann vor, um sechs Uhr mor­gens ver­mut­lich. Vor dem Kaf­fee kann ich aber noch kein Radio mit impe­ra­tiv guter Laune aus­hal­ten. Ich höre mis­tral fm ohne­hin nur mit den Kin­dern im Auto und nur, wenn sie dar­auf bestehen. Wenn ich mit den Kin­dern mor­gens mis­tral fm höre, ist Manon zustän­dig für den Ver­kehrs­über­blick – Stau über­all, inten­si­ver Pend­ler­ver­kehr in die Groß­stadt eben, immer das Glei­che – und das Horo­skop, auch immer das Glei­che irgend­wie. Livio erzählt Neues aus der Welt der Pie­pöhl – er meint people, also VIPs, Hol­ly­wood­grö­ßen und ein­hei­mi­sche Pro­mi­nenz – sowie lus­tige Anek­do­ten, die er ver­mut­lich bei yahoo oder face­book auf­ge­schnappt hat. Manon lacht dazu gerne ein rau­chi­ges Lachen, kom­men­tiert wahn­sin­nig amü­sant und unglaub­lich inspi­riert. Manon sollte ein­fach beim Lachen blei­ben. Noch bes­ser wäre, wenn Livio ein­fach die Klappe hal­ten könnte.

Der hat pilot [pi:lot] gesagt. Mit I!

Mein Sohn gibt sich empört, ich ver­stehe nicht, warum. Na, und?

Twenty One Pilots ist eine eng­li­sche Gruppe. Man sagt [ˈpaɪləts].

Nous som­mes en France, fis­ton. Fran­zo­sen dür­fen das doch.

Wie­der im Auto. Mit der Toch­ter. Auf der vier­spu­ri­gen Aus­fall­straße – Ave­nue de la Paix – west­wärts Rich­tung Car­re­four, Ikea und Déc­a­th­lon ist die Geschwin­dig­keit auf fünf­zig Stun­den­ki­lo­me­ter begrenzt. Solar­be­trie­bene Mess­ge­räte zei­gen die tat­säch­lich gefah­rene Geschwin­dig­keit an. Grü­nes Smi­ley und "Merci" oder rot und die Dro­hung mit Punkt­ver­lust. Wer ohne Punkt­ver­lust fah­ren will, nimmt jede Ampel mit. Sechs Mal rot auf einem knap­pen Kilo­me­ter. Das nervt. Nur Fahr­schu­len fah­ren hier fünf­zig. Manch­mal reicht's trotz­dem nicht. Der eilige Hand­wer­ker im wei­ßen Kas­ten­wa­gen muss bei Rot über die Ampel. Egal. Fällt aber auch mei­ner Toch­ter auf.

T'as vu ce thug?

Meine Toch­ter sagt "tög". Klingt wie "bög". Die Ein­hei­mi­schen ken­nen den "bög" seit dem Ende des letz­ten Jahr­tau­sends. Den mil­le­nium bug haben die Fran­zo­sen von den Amis über­nom­men. Nicht nur sprach­lich. Immer, wenn was nicht nicht funk­tio­niert, ist es ein bög. Geht auch als Verb. Ça a bugué (oder beu­gué), da ist was schief gegan­gen. Den thug kannte ich nicht.

Was ist ein tög?

Un voyou, ein Gau­ner. Meine Toch­ter ant­wor­tet prin­zi­pi­ell auf Fran­zö­sisch.

Und woher kennst du das?

De quelqu'un chez you­tube, von jeman­dem bei You­tube. Wahr­schein­lich von einem fran­zö­si­schen you­tuber mit Mil­lio­nen von Abon­nen­ten. Squee­zie, Nor­man oder Cyprien. Meine Toch­ter sagt Yühtüb. Geht natür­lich gar nicht. Nicht mal nach den gän­gi­gen fran­zö­si­schen Regel zur Aus­spra­che geht das, ou ist u.

You­tube ist eng­lisch, kläre ich die Toch­ter auf, man sagt [ˈjuːˌt­juːb].

Tu peux le dire comme tu veux. Moi, je suis française. Et en France on dit Yühtüb.

Voilà. Ende der Dis­kus­sion.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Alles so wie immer

Ich hatte geahnt, das es soweit kom­men würde. Pro­kras­ti­na­tion bringt gar nichts. Pre­dige ich mei­nen Kin­dern regel­mä­ßig. Macht eure Haus­auf­ga­ben, lest eure Bücher recht­zei­tig, denkt an eure Sport­sa­chen. Ce qui est fait, n'est plus à faire. Getan ist getan. Ganz sel­ten hören sie auf mich.

Zum Wochen­ende Ende Novem­ber die Mail von der Redak­teu­rin. Hast du Stoff für uns? Mit dis­kre­ter Andeu­tung von Zeit­druck. Und lie­ben Grü­ßen aus dem Vor­weih­nachts­chaos. Kal­ter Schweiss. Nor­ma­ler­weise pas­siert mir das nicht. Nor­ma­ler­weise warte die Mail gar nicht erst ab oder habe schon was auf Lager. Meist irgend­was aus dem Blog, ein biss­chen über­ar­bei­tet, ein biss­chen gekürzt, nicht mehr als vier­tau­send Zei­chen. Ich hasse Zeit­druck. Macht eure Auf­ga­ben, wenn ihr Zeit habt. Ce qui est fait, n'est plus à faire höre ich mich noch selbst. Dazu nichts als faule Aus­re­den. Wie die Kin­der. Buch ver­ges­sen, Fül­ler gestoh­len, vom Schwim­men so müde. Auto in der Werk­statt, Spül­ma­schine kaputt, Ärger mit Kol­le­gen, sol­cher Unsinn. Als ob mir das Auto in der Werk­statt jedes denk­bare Zeit­fens­ter rau­ben könnte. Klas­si­sche Pro­kras­ti­na­tion. Abseh­bar somit und doch ganz plötz­lich die Mail von der Redak­teu­rin und nichts parat. Ich brau­che drin­gend einen Text für meine Kolumne wei­ter hin­ten in der Rivie­r­a­Zeit, zwei­spal­tig auf einer Art Nato­grün. Am bes­ten was pas­send zum Jah­res­ende. Was Net­tes zum Schmun­zeln, ein Text, der mit Bonne Année enden kann oder Meilleurs voeux. Was mit Bezug zur Côte d'Azur, zum Leben hier als deut­scher Aus­län­der. Zum Leben der Ziel­gruppe. Was mit Fami­lie viel­leicht. Fami­lie passt gut zum Jah­res­wech­sel. Fami­lie passt auch zur Ziel­gruppe. Die Ziel­gruppe muss oft Weih­nach­ten und Syl­ves­ter mit Kind und Kegel und Hund nach Karls­ruhe und Oer-Erken­schwick rei­sen, weil die Groß­el­tern lie­ber zuhause fei­ern. Wisst ihr, wir sind ja auch nicht mehr die Jüngs­ten. Oder Fami­lie aus Mün­chen und Pots­dam fällt im Süden ein. Kin­der, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr's hier habt.

Mein Schwie­ger­va­ter gehört zu letz­te­rer Kate­go­rie. Kin­der, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr's hier habt. Er wird Neu­jahr im Süden ver­brin­gen. Obwohl er ja auch nicht mehr der Jüngste ist. Mit easy­jet nach Nizza flie­gen. Dort einen Leih­wa­gen neh­men. Ein paar Tage blauer Him­mel und medi­ter­rane Kuli­na­rik. Und Fami­lie. Fast alle Enkel sind zuhause. Freut mich sehr, weil er schon län­ger nicht mehr zu Besuch gekom­men ist. Frü­her kam er gerne mit dem Auto. Gerne auch alleine. Mit dem Auto, weil da mehr rein­geht als in ein, zwei Kof­fer. Und weil man dann unab­hän­gi­ger ist, sagte er. Man kann fah­ren, wann man will. Wenn man mor­gens um halb vier auf­wacht und fah­ren will, fährt man eben um halb vier Uhr mor­gens. Nichts konnte ihn auf­hal­ten. Senio­ren nei­gen zu Impe­ra­ti­ven die­ser Art. Mit dem Flie­ger müsste man zudem noch einen Leih­wa­gen neh­men in Nizza oder Mar­seille und das wäre alles zu läs­tig. Oder, noch schlim­mer, man müsste sich abho­len las­sen. Senio­ren wol­len vor allem nie­man­dem zur Last fal­len. Wenn er dann schon mal mit dem Auto kam, immer­hin gut 1.600 Kilo­me­ter in vier­zehn Stun­den, blieb er gerne auch ein biss­chen län­ger. Zwei, drei Wochen. Ich kann mich dann ja auch um die Küche küm­mern, sagte er. Er küm­mert sich gerne um die Küche, ein­schließ­lich mar­ché, pois­son­ne­rie, from­age­rie. Haben wir alles im Dorf. Süd­frank­reich eben. Frü­her, wenn er sich nicht um die Küche küm­merte, arbei­tete er im Gar­ten. Mein Schwie­ger­va­ter ist Bild­hauer. Der bedeu­tendste lebende Bild­hauer Schles­wig-Hol­steins übri­gens. Fin­det er nett, wenn man das sagt. Er ist bedeu­tendste lebende Bild­hauer Schles­wig-Hol­steins. Bei uns im Gar­ten ent­stan­den unter Ket­ten­säge, Stech­ei­sen und Win­kel­schlei­fer zahl­rei­che Skulp­tu­ren in Zeder, Zypresse, Aka­zie und Pinie. Über Wochen pro­fi­tierte das ganze Vier­tel vom wür­zi­gen Aroma medi­ter­ra­ner Höl­zer. Um den Staub küm­merte sich die Putz­frau.

Manch­mal kam auch die Schwie­ger­mut­ter, vor allem als die Kin­der noch klei­ner waren. Gerne auch sie alleine und lie­ber im Som­mer. Was uns auch ent­ge­gen­kam, irgend­wie. Ersparte uns Aupair-Mäd­chen und andere abgrün­dige Betreu­ungs­maß­nah­men. Ich schi­cke euch dann mal Mut­ter, sagte der Schwie­ger­va­ter dazu. Drei, vier Wochen. Damit sich's auch lohnt. Sie kann euch ja dann auch in der Küche hel­fen. Die Schwie­ger­mut­ter nahm gerne den Flie­ger, wir hol­ten sie in Mar­seille oder Nizza ab. Klei­nes Gepäck. Wenn ich was ver­gesse, kann ich mir das ja bei Inter­mar­ché oder Car­re­four holen, sagte sie. Sie half auch gerne in der Küche. Nudeln mit Toma­ten­soße, Pfann­ku­chen mit Nutella, Fisch­stäb­chen mit Kar­tof­fel­pü­ree. Dazu Bespa­ßung. Mari­ne­land, Aqua­land, MacDonald's.

Der Schwie­ger­va­ter bringt ein Paar kunst­in­ter­es­sier­ter Freunde mit. Er wird ihnen die Sehens­wür­dig­kei­ten der Umge­bung zei­gen, wahr­schein­lich das eine oder andere Museum. Sie wer­den zwei­fels­ohne auf Hafen­pro­me­na­den zu Mit­tag essen und exzes­sive Ein­käufe täti­gen auf dem Markt, bei der Fisch­frau und dem Käse­spe­zia­lis­ten. Süd­frank­reich eben. Blauer Him­mel im tiefs­ten Win­ter. Das Regen­grau zuhause nur in der Wet­ter-App. Kin­der, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr's hier habt. Wenn ich von der Arbeit zurück­komme, wer­den sie sich um die abend­li­che Kuli­na­rik geküm­mert haben. Punkt­ge­nau um sie­ben à table. Keine medi­ter­ra­nen Anwand­lun­gen bitte, preus­si­sche Gene las­sen da kei­nen Ver­hand­lungs­spiel­raum zu. Impe­ra­tiv. Mei­nes Schwie­ger­va­ters Fisch­suppe mit hand­ver­le­se­nen Zuta­ten ist ganz exqui­sit. Zum Jah­res­wech­sel wird es Aus­tern geben und andere fruits de mer. Meine Toch­ter wird sich dies­be­züg­lich unzu­frie­den zei­gen. Zu ihrem Geburts­tag hätte sie sich Raclette gewünscht oder Käse­fon­due. Egal, die Toch­ter fin­det immer was zu kri­ti­sie­ren.

Vor dem Count­down auf 2017 zwei, drei Mal Din­ner for One auf ver­schie­de­nen Sen­dern. Ein Muss. Same pro­ce­dure as every year.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Sixpack

Frü­her Frei­tag Abend. Vor der Tür drei Män­ner in Arbeits­klei­dung. In authen­ti­scher Aus­stat­tung leicht erkennt­lich als les ébou­eurs, die Müll­män­ner. Zum Jah­res­ende warnt die Gemeinde gele­gent­lich vor fal­schen Kalen­der­bo­ten. Diese sind mit Sicher­heit echt. Sie sind zu dritt. Betrü­ger kom­men angeb­lich meis­tens alleine. Und sind auch nicht so authen­tisch aus­ge­stat­tet mit Reflek­tor­strei­fen an Bei­nen und Armen. Die Her­ren erin­nern sich außer­dem an die aus­schwei­fen­den Som­mer­feste mei­nes Sohns bis in die frü­hen Mor­gen­stun­den. Einer trägt einen Packen Kalen­der unter dem Arm. Die Kalen­der, jetzt schon? Mitte Novem­ber? Trifft mich unvor­be­rei­tet. Nor­ma­ler­weise habe ich kleine Umschläge. Kärt­chen mit net­ten Wor­ten. Dank für die Mühen das ganze Jahr über, herz­li­che Wün­schen zu Jah­res­end­fei­er­lich­kei­ten und dem Neuen Jahr. Dazu Schecks. Ja, die­ses Jahr ein biss­chen frü­her, die Kol­le­gen von der Post hät­ten ja auch schon die Runde gemacht.

2003. Frü­her Nach­mittag im Spät­som­mer. Mis­tral. Das ist Wind aus dem Wes­ten. Rich­ti­ger Wind. Sieste auf dem Sofa im Salon. Stim­men auf der Ter­rasse wecken mich. Ich ver­stehe kein Wort. Die Ton­lage etwas auf­ge­regt. Der Sohn, damals sie­ben, und sein Kum­pel aus der Nach­bar­schaft. Sie tuscheln, wer­den lau­ter. Auf­ge­regt, einer fällt dem ande­ren ins Wort. Kommt vor. Jungs in die­sem Alter haben immer wie­der irgend­welche Dis­kus­sionen. Um Holz­schwerter, Bälle, Spiel­re­geln. Mur­meln gehen ver­lo­ren und der andere hat Schuld. Ver­mut­lich kein Hand­lungs­be­darf mei­ner­seits. Eltern sol­len sich nicht immer ein­mi­schen. Und außer­dem schlafe ich gerade. Wenn einer ver­letzt wäre, würde auch zumin­dest einer wei­nen. Wenn sie ein Pflas­ter bräuch­ten, stän­den sie schon längst vor mei­nem Sofa. Was soll schon pas­sieren? Wir woh­nen am Ende einer Sack­gasse. Von der Tür aus sehen sie, dass Papa schläft. Il dort. Das Tuscheln der Jungs ent­fernt sich wie­der. Dachte ich mir doch, kein Hand­lungs­be­darf. Das nächste Mal brin­gen sie ihre Dis­kus­sion bitte außer Hör­weite auf der Ter­rasse zu Ende.

Der Kalen­der der Müll­män­ner ist in aller Regel ein Modell äußerst öko­no­mi­scher Aus­stat­tung. Ein Kar­ton DIN A 4, Post­kar­ten­an­sicht vom Dorf, Meilleurs Vœux für 2018, ein Kalen­der auf­ge­tackert. Gefragt, wie­viel sie dafür haben wol­len, wür­den sie ant­wor­ten comme vous vou­lez, wie Sie wol­len. Das Ding ist eigent­lich nicht mehr als fünf­zig Cent wert. Ich frage nicht. In mei­nem Umschlag fin­den sie regel­mä­ßig einen Scheck über einen gut zwei­stel­li­gen Betrag. Dafür ent­sor­gen sie wider­spruchs­los jeg­li­chen Unrat. Sie wür­den ein ver­en­de­tes Pferd ebenso mit­neh­men wie schäd­lings­ver­seuchte Pal­men. Wäre sonst Son­der­müll. Die­ser Groß­mut ist Gold wert.

Papa!

Papa!

Was denn? Jetzt also doch. Mei­ner klei­ner Sohn und sein copain plötz­lich direkt an mei­nem Sofa. Obwohl ich doch schlafe. Ganz auf­ge­regt die bei­den. Der copain steht einen Schritt schräg hin­ter mei­nem Sohn. Sie haben was ange­stellt und wis­sen nicht, wie sie es erklä­ren kön­nen, ohne dass zuviel Schuld auf sie fällt. Mein Sohn fängt Sätze an und fin­det den Inhalt nicht. Sie haben was gefun­den. On l'a trouvé. Was auch immer. Wird sich bestimmt noch zei­gen. Am Stra­ßen­rand zur Wiese. Gegen­über unse­rer Ein­fahrt befin­det sich eine Art Fuß­ball­feld. Etwas halb­her­zig unter­hal­ten. Könnte öfter mal gemäht wer­den. Dient vor­wie­gend als Hun­de­wiese. Frei­wil­lig würde ich da nicht rein­lau­fen. Jugend­li­che kom­men im Som­mer gerne zum Vor­glü­hen am Sams­tag Abend hier­her. Kom­men auch gerne Sonn­tag früh mor­gens wie­der, sehr früh mor­gens, um den Abend aus­klin­gen zu las­sen. Gele­gent­lich bers­ten Bier­fla­schen auf der Straße. In den Hecken zu den Nach­bar­grund­stü­cken kann man gebrauchte Sprit­zen und Kanü­len fin­den. Die Jungs haben was gefun­den. Also der copain hat es gefun­den. Und dann ist es auf den Boden gefal­len. Mais on n'a pas fait exprès, aber das war keine Absicht. Und nur, weil da ein Loch in der Hosen­ta­sche war. Also in der Hosen­ta­sche des copain. Also eigent­lich ist der copain schuld. Ganz klar, das habe ich kapiert. Und sie haben es ja auch nur gefun­den. Und es war noch was drin. Mais on n'a pas su, aber das wuss­ten sie natür­lich nicht. Klingt nicht so, als wenn es sich um Jun­kie-Zube­hör han­deln würde. Was kann das schon sein? Und dann ging es ganz schnell, wirft der copain ein, und sucht gleich wie­der Schutz hin­ter mei­nem Sohn. Jetzt sei es schon bei der Pinie. Und sie haben es ver­sucht, aber es ist so heiß. On arrive pas à l'éteindre. Sie krie­gen es nicht gelöscht. Mais… -

Aus einer sei­ner Gepäck­ta­schen för­dert Éric einen Packen Kalen­der zur Aus­wahl. Alma­nach du fac­teur. Éric ist der neue Post­bote. Wir tref­fen uns ganz sel­ten und rein zufäl­lig am Brief­kas­ten. Wenn es was zu unter­schrei­ben gibt, tref­fen wir uns in aller Regel nicht. Kann dann am nächs­ten Tag, nicht jedoch vor 16 Uhr, im Post­amt abge­holt wer­den. Der Alma­nach ist mit klas­si­schen Moti­ven deko­riert. Blu­men, Land­schaf­ten, Kat­zen, Hunde, Eif­fel­turm, Son­nen­un­ter­gang. Innen Rezepte, eine Tabelle zu Son­nen- und Mond­auf- und -unter­gän­gen, wich­tige Tele­fon­num­mern, eine Karte des Dépar­te­ment und Plä­nen der wich­tigs­ten Städte von Fréjus bis Ban­dol. Meine Toch­ter würde Pferde wäh­len. Irgendwo in die­sem Packen muss auch der Alma­nach mit Pfer­den sein. Umschlag. Scheck nied­rig, immer­hin zwei­stel­lig. Solange ich meine Post am nächs­ten Tag, nicht jedoch vor 16 Uhr, irgendwo abho­len muss, gibt es für Éric kei­nen signi­fi­kan­ten Bonus.

Gelöscht? Das klingt nicht gut! Wahr­schein­lich fin­det meine Sieste hier­mit defi­ni­tiv ihr Ende.

Das war nur ganz klein!

Was war nur ganz klein?

On n'a pas fait exprès. Das war aus Ver­se­hen! Weil es run­ter­ge­fal­len ist.

Wo denn?

Da war ein Loch in der Hosen­ta­sche.

Schon klar. Und ihr habt es auch nur gefun­den. Und dass noch was drin war, konn­tet ihr auch nicht wis­sen.

Der Zei­tungs­bote tackert seine Neu­jahrs­wün­sche in selbst bedruck­tem Post­kar­ten­for­mat an das jour­nal. Und wünscht sich im glei­chen Atem­zug und in ver­we­ge­ner Ortho­gra­phie eine kleine Aner­ken­nung sei­ner uner­müd­li­chen Dienste. Zehn Tage spä­ter eine Mah­nung, wenn die Wün­sche nicht Gehör gefun­den haben soll­ten. Umschlag, Scheck. Bes­ser nicht zu knapp. Ich könnte mich zwar beschwe­ren, müsste das jour­nal aber sicher noch öfter auf­ge­weicht aus der Hecke fischen. Es ist eine Frage des län­ge­ren Hebels.

Die Wiese brennt. Viel­mehr das, was von einer Wiese nach einem tro­ckenen Som­mer übrig ist. Die Wiese hat das For­mat eines Fuß­ball­felds. Rechts eine Gara­gen­zeile, links Grenz­he­cken, Bam­bus, Busch­werk, kleine Bäume. Ein Glut- und Flam­men­mehr über die ganze Länge. Immer­hin kommt damit auch die Hun­de­scheiße weg. Büsche an den Rän­dern haben Feuer gefan­gen, die Hecke eines Nach­barn, eine Pinie ver­glüht gerade in einer Stich­flamme. Der Nach­bar steht in Bade­lat­schen mit einem gel­ben Gar­ten­schlauch an sei­ner Hecke. Das eher pro­sta­ti­sche Tröp­feln ist gegen Flam­men unter Mis­tral nicht ein­mal ein Trop­fen auf einen hei­ßen Stein. Das ist hoff­nungslos. Ohne Feu­er­wehr brennt gleich der Park­platz des Wohn­blocks gegen­über, denke ich mir, ach was, der Wohn­block selbst, der halbe Hügel, das halbe Dorf. Immer diese Aus­län­der, die nicht auf ihre Kin­der auf­pas­sen kön­nen, wird es hei­ßen. In der Ferne Mar­tins­hör­ner. Die sind hof­fent­lich auf dem Weg hier­her. Irgend­je­mand wird doch hof­fent­lich wohl die Feu­er­wehr alar­miert haben. Jemand aus dem Wohn­block hin­ter der Gara­gen­zeile viel­leicht. Oder der Nach­bar mit dem Gar­ten­schlauch. Wie war denn gleich noch die Num­mer? Natür­lich wie­der kein Handy dabei. Die Mar­tins­hör­ner mit einem Mal ganz nah. Keine Minute spä­ter sind sie da. Zwei Lösch­züge erst, dann eine Por­tion Police muni­ci­pale, dann noch mehr Feu­er­wehr. Am Ende wird die ganze Straße voll­ste­hen.

Mein Sohn und sein copain müs­sen mit­kom­men. Drin­gen­der Tat­ver­dacht.

Eine Woche spä­ter, zur Eröff­nung des Weih­nachts­markts, kom­men die Sapeurs pom­piers, die Feu­er­wehr. Kalen­der in Hoch­glanz­auf­ma­chung. Innen rich­tige Män­ner, gebräunt, mit Ober­kör­pern bis knapp an die Scham­grenze. Aus­ge­prägte Six­packs, mas­sive Ober­arme. Wenn sie in den War­te­zei­ten auf den nächs­ten Ein­satz nicht gerade ihre Gerät­schaf­ten polie­ren, arbei­ten sie an ihren Kör­pern. Vor der Kamera prä­sen­tie­ren sie Schläu­che beacht­li­chen Kali­bers vor Was­ser­spie­len. Vor Jah­ren gab es sie auch schon mal nackt, nur mit Hand­tü­chern beklei­det, unter damp­fen­der Dusche, vor dem Spind, im Halb­dun­kel. Vor unse­rer Tür, am Frei­tag Abend Ende Novem­ber, prä­sen­tie­ren sie sich ange­mes­sen beklei­det. Erin­nern sich an die Anek­dote mit mei­nem Sohn und daran, dass die Wiese die­ses Jahr schon wie­der gebrannt hat. Wie­der Anfang Sep­tem­ber, wie­der Mis­tral. Die Gemeinde könnte sich wirk­lich mal bes­ser um das Brach­land mit­ten im Ort küm­mern. Ein Glück, dass wir so gut orga­nis­ert sind. Fünf Lösch­züge inner­halb von weni­ger als zehn Minu­ten. Das Eigen­lob ist über­flüs­sig. Keine kom­mu­nale Stru­kur funk­tio­niert in Süd­frank­reich so zuver­läs­sig wie die Feu­er­wehr. Der Wert mei­nes Schecks über­steigt den ihres Kalen­ders ein­schließ­lich Hoch­glanz­auf­ma­chung deut­lich. Sie sol­len sich auch in ein paar Mona­ten noch an mich erin­nern.

Die Kol­le­gen von der Police muni­ci­pale, mäkeln die Her­ren von der Feu­er­wehr bei die­ser Gele­gen­heit, konn­ten ihre Arbeit zwar mas­siv behin­dern, dies­mal jedoch kei­nen Ver­ur­sa­cher ding­fest machen. Sämt­li­che Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen mei­ner­seits ver­fü­gen übri­gens über ast­reine Ali­bis.

Die Police muni­ci­pale ver­teilt keine Kalen­der.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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